Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Exklusiv

Gastbeitrag Böttcher
Ehrenrettung des Manifests

Lesezeit 5 Minuten
Das Bild zeigt den Politikwissenschaftler Winfried Böttcher. Foto: Jürgen Lauer.

Der Politikwissenschaftler Winfried Böttcher veröffentlicht regelmäßig im Kölner Stadt-Anzeiger Gastbeiträge zur aktuellen politischen Entwicklung in der Welt.

Zur Ehrrettung: Der Politikwissenschaftler Winfried Böttcher plädiert in seiner neuen Kolumne für den Frieden.

Verfolgt man die öffentliche Diskussion über den Krieg in der Ukraine seit Februar 2022, hört und liest man zunehmend: Wir müssen wieder kriegstüchtig werden. Wir brauchen 60.000 Soldatinnen und Soldaten mehr. Wir sind bereit, fünf Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung auszugeben. Wir wollen die stärkste Armee Europas aufbauen und Führung übernehmen. Wir müssen Bunker restaurieren und neue bauen.

Der Krieg ist auf dem Vormarsch. Der Frieden hat nicht einmal im Denken eine Chance. In der fast hysterischen Aufrüstung mit Worten, die manchmal nach dem Herbeireden des „Ernstfalls“ klingen, haben einige Sozialdemokraten einen Denkansatz angeboten, der neben der – notwendigen –  Verteidigungsbereitschaft die genauso notwendige, ja sogar notwendigere Friedensbereitschaft in den Blick nimmt. Wenn der Wirklichkeitssinn Europas in der ernsthaften Bedrohung durch das imperialistische Putin-Russland liegt, dann muss es dennoch auch so etwas wie einen Möglichkeitssinn geben. Dieser kann nur darin liegen, dass wir dem Wirklichkeitssinn Kriegsbedrohung den Möglichkeitssinn Frieden entgegensetzen. Nach meiner Auffassung tut das „Manifest“ aus den Reihen der SPD nicht mehr und nicht weniger.

Kritiker des Dokuments sprechen von russischer Propaganda, Geschichtsklitterung, Realitäts- und Wohlstandsverweigerung, Rechthaberei und Empathielosigkeit gegenüber der Ukraine. Die Verfasser werden als Unterwerfungspazifisten, Russlandversteher oder Putinknechte herabgesetzt. Solche Angriffe und besonders der Vorwurf, die Unterzeichner spielten mit den Ängsten der Menschen, sind unsachlich, polemisch und diffamierend. Mit den Ängsten der Menschen spielen doch eher jene, die unserer Gesellschaft einreden, sie müsse wieder kriegstüchtig werden.

Die Auseinandersetzung bewegt sich zwischen zwei Positionen. Da ist der alte römische Grundsatz: Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Dieses Prinzip vertreten vor allem Politiker, auch manche Wissenschaftler, die auf Rüstung, Waffengewalt und Abschreckung setzen, obwohl der Glaube, die Abschreckung eines zum Krieg entschlossenen Gegners werde schon funktionieren, ein Irrglaube ist. Die andere Position lautet: Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor. So steht es in Den Haag am Internationalen Gerichtshof.

Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte, in einem Sowohl-als-Auch. Auf die Situation in Europa 2025 bezogen, müssen wir eine höchstmögliche Verteidigungsbereitschaft herstellen, gleichzeitig aber mit ebenso großer Anstrengung nach diplomatischen Lösungen für den Krieg streben. Das tut das „Manifest“, wenn auch nicht ausreichend konsequent. So formuliert es eher vage, dass man mit Wladimir Putin verhandeln müsse, was die Kritiker damit abtun, dass Putin gar keine Verhandlungen wolle. So steckt man in einer psycho-logischen Blockade.

Der Ausweg

Um diese in einer verfahrenen Situation aufzubrechen, bietet die politische Wissenschaft einen Ausweg an. Aus der Theorie der Internationalen Politik weiß man, dass Verhandlungen zwischen Konfliktparteien nur angestoßen werden können, wenn ohne Vorbedingungen Dialogbereitschaft signalisiert wird. Der hierfür entwickelte theoretische Ansatz des Gradualismus (in der Kubakrise 1963 hat sie als Konfliktlösungsstrategie praktisch funktioniert), geht einen Schritt weiter, indem sie fordert, zur Verhinderung eines Kriegs im Konfliktfall wie auch zur Beendigung eines Kriegs müsse eine Seite in Vorleistung gehen, um so wechselseitige Blockaden aufzubrechen.

Gleichgültig, wer der Verursacher einer bestehenden Sprachlosigkeit ist, beharren die einander misstrauisch belauernden Gegner darauf, dass die jeweils die andere Seite den ersten Schritt tun müsse. Das verhindert jede Bewegung und verfestigt die Blockade.

Die gradualistische Theorie geht davon aus, dass eine Seite die Initiative zur Umkehr ergreift. ZU den Haupthindernissen für eine Umkehr und damit für die Chance eines neuen Denkansatzes zur Konfliktlösung gehören Selbstgerechtigkeit, Kritikunfähigkeit gegenüber dem eigenen Verhalten, Verteufelung des Gegners, die „Polarität der Werte“ zwischen „uns“, den Guten und Fairen, und „denen“, den Bösen und Unfairen, tief sitzendes Freund-Feind-Denken. Wir messen unsere Handlungen und diejenigen des Gegners mit zweierlei Maß. Trotz des tief sitzenden Freund-Feind-Denkens, das ein Höchstmaß an gegenseitigem Misstrauen hervorruft; trotz Verletzung des Völkerrechts durch den Angreifer müssen wir den Versuch unternehmen, Vertrauen zwecks Deeskalation aufzubauen. Ohne gegenseitige Vertrauensbasis, beginnend auf minimalem Niveau, gibt es keine Lösung.

Nicht mit der Androhung und Durchsetzung verschärfter Sanktionen, nein, vielmehr durch die Aufhebung der einen oder anderen Sanktion, die besonders die russische Bevölkerung trifft, könnte ein Vertrauensvorschuss aufgebaut werden, verbunden mit einem Signal für Gesprächsbereitschaft.

Dann wäre abzuwarten, ob und wie Moskau darauf reagiert. Damit ließe sich ein handfester Beleg erbringen, ob Putin wirklich keine Verhandlungen will.

Russlands Bereitschaft testen

Auch mit einem Verzicht auf das Ziel Nato-Mitgliedschaft könnte die Ukraine Russlands Bereitschaft für Friedensverhandlungen testen. Aus meiner Sicht wird Russland die Zugehörigkeit der Ukraine zur Nato niemals akzeptieren. Für das Bündnis wäre eine Mitgliedschaft der Ukraine kein Zugewinn an Sicherheit. Deshalb könnte die Ukraine die Tür für Verhandlungen aufstoßen, indem sie zu ihrer alten Verfassung zurückkehrte, die bis 2010 galt. Darin hatte die immerwährende Neutralität der Ukraine Verfassungsrang hatte.

Ohne Neutralität hat die Ukraine keine Zukunft. Eine neutrale Ukraine dagegen könnte mittelfristig der EU beitreten – womöglich sogar sofort. Schon 2004 hatte der russische Präsident geäußert, ein EU-Beitritt der Ukraine wäre für Russland kein Problem.

Russland, die USA und die EU würden dann unter der Schirmherrschaft der UN die Neutralität und territoriale Integrität der Ukraine garantieren. Das wäre der Lackmustest dafür, ob das künftige Verhältnis des Westens zu Russland auf eine partnerschaftliche Grundlage gestellt werden könnte, geprägt von Respekt und Augenhöhe. Russland bleibt unser Nachbar, ob wir es wollen oder nicht.


Vor mehr als 70 Jahre leitete Albert Einstein (1879 bis 1955) aus der damaligen weltpolitischen Lage einen eindringlichen Appell ab: „Solange aber die Nationen nicht dazu entschlossen sind, durch gemeinsame Aktionen den Krieg abzuschaffen und durch friedliche Entscheidungen auf gesetzlicher Basis ihre Konflikte lösen und ihre Interessen zu schützen, sehen sie sich genötigt, sich auf den Krieg vorzubereiten. Sie sehen sich genötigt, alle, auch die verabscheuungswürdigen Mittel vorzubereiten, um im allgemeinen Wettrüsten nicht überflügelt zu werden. Dieser Weg führt mit Notwendigkeit zum Krieg, der unter den heutigen Verhältnissen allgemeine Vernichtung bedeutet.“ Für Einstein ist Töten im Krieg um nichts besser als gewöhnlicher Mord.