Generalanwältin am EuGHJuliane Kokott über EU, Brexit, Kopftücher und Frauen

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Juliane Kokott, Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH)

Luxemburg/Köln – An diesem Nachmittag hat sich Juliane Kokott mal wieder – wie sie gern sagt – „hinter ihren Akten verkrochen“. Die Zeit aufholen, erklärt die deutsche Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH). Am Morgen nämlich hatte sie die Akten nämlich Akten sein lassen, um an der Echternacher Springprozession teilzunehmen. Zwölf Bischöfe waren da, eine ganze Reihe von Luxemburger Spitzenpolitikern. Und Juliane Kokott. Aber nicht offiziell, in ihrer Funktion, sondern rein privat.

Sie sei in der Gruppe eines Luxemburger Kollegen gesprungen und, begleitet von einer Musikgruppe, auch den typischen Tanzschritt vollführt, der dem regionalen Brauchtum aus dem Mittelalter seinen Namen gegeben hat. Kein Problem, sagt die zierliche, mädchenhaft wirkende Frau, der man ihre fast 60 Jahre nicht ansieht. „Ich hab mir das Springen von den Profis abgeguckt, und dann ging’s. Außerdem half es gegen die Kälte.“

Heilungswunder und ähnliche übersinnliche Phänomene hat Kokott nach eigenem Bekunden nicht erwartet. Dabei ist ihr positiv ausgefallen, dass wirklich jeder als Pilger willkommen ist und mitmachen darf. Klar, dass dieser besondere Termin im Kalender der Generalanwältin Anlass für eine erste Frage gibt.

Frau Kokott, ist die Echternachter Springprozession auch ein Symbol für Europa 2017: „zwei Schritt vor, einer zurück“ – oder gar „ein Schritt vor, zwei zurück“?

Von der Integrationswirkung könnte Europa sich jedenfalls eine Scheibe abschneiden. Im Moment ist es schwierig mit Europa. Darum muss der Europäische Gerichtshof vorsichtig sein und mit sensiblen Urteilen sein Bestes geben.

Was meinen Sie mit „sensiblen Urteilen“?

Weil die Urteile des EuGH sich unmittelbar in sämtlichen Mitgliedsstaaten mit all ihren Besonderheiten auswirken, muss das Gericht die Folgen seiner Rechtsprechung immer besonders sorgfältig bedenken. Deshalb ist es auch gut, dass alle Richter in gewisser Weise mit allen Verfahren befasst sind. Auf den ersten Blick könnte man vielleicht sagen: Komplett ineffizient! Warum nicht alles durch Kammern mit je drei Richtern ohne jedwede Beteiligung der Kollegen entscheiden, die ein Vielfaches an Verfahren erledigen könnten? Eben genau deshalb: Die Beteiligung der Generalversammlung aller Mitglieder des Gerichtshofs in einem frühen Verfahrensstadium erlaubt es, nationale Besonderheiten und Empfindlichkeiten im Verfahren kennenzulernen, zu verstehen und mit zu bedenken.

Und worin sehen Sie die Gefahr „unsensibler“ Urteile?

Ich erinnere an das Urteil im „Fall Mangold“, in dem der EuGH 2005 die Befristung von Arbeitsverträgen für ältere Arbeitnehmer als Altersdiskriminierung bewertet und daher als europarechtswidrig beurteilt hatte. Das löste in Deutschland hitzige Debatten über die Kompetenzen des EuGH aus, weil die Begründung für viele unerwartet kam. Ich glaube, das Gericht hat damals richtig entschieden, hätte sein Urteil aber besser erklären sollen. Dann hätte Roman Herzog 2008 vielleicht nicht in deutschen Zeitungen „Stoppt den EuGH!“ gerufen. Ich will nicht missverstanden werden: Mein Plädoyer für Sensibilität in der Rechtsprechung ist kein Ruf nach Gefälligkeitsurteilen. So etwas sollte der EuGH nie machen. Es muss einem Gericht aber immer um die Akzeptanz seiner Urteile gehen. Schließlich hat jeder Bürger sich danach zu richten. Eine Rechtsprechung, die nicht – bei gutem Willen – für jedermann einsichtig, klar und akzeptabel ist, läuft ins Leere.

Stärkt der EuGH den Zusammenhalt der Europäer, oder ist er selbst Teil der Vertrauenskrise?

Ich denke, der EuGH steht ganz gut da. So massiven Angriffen wie in der Vergangenheit ist er nicht mehr ausgesetzt.

Wie wird sich der Rückzug Großbritanniens im Zuge des Brexit auf den Gerichtshof auswirken?

Die Stimme Großbritanniens wird in den EuGH-Verfahren fehlen. Die Mitgliedstaaten können ja in allen Vorabentcheidungsverfahren ihre Sichtweise einbringen, auch in solchen aus anderen Mitgliedstaaten. Hier droht ein Verlust an Expertise. Die britischen Juristen, die ich auf europäischer Ebene kennengelernt habe, sind hervorragend ausgebildet und exzellente Kenner des Europarechts. Für den Gerichtshof selbst erwarte ich keine allzu großen Veränderungen, weil die nach Luxemburg entsandten Juristen ja nicht Vertreter nationaler Interessen oder Rechtssysteme sind.

Aber bringt nicht gerade ein Land wie Großbritannien mit seiner Jahrhunderte alten Rechtstradition auch einen eigenen „Spirit“ in den EuGH ein?

Doch, das stimmt schon. Von den britischen Richtern hieß es etwa, sie hätten das Bild des Richterkollegiums als „Wooden Faces“ – als Runde völlig unbewegt da sitzender Herrschaften – verändert, indem sie in den Verhandlungen sehr viele Fragen stellten. Aber das tun inzwischen alle Richter. Und die große Spezialität des englischen Rechtssystems, das „Common Law“ (Fallrecht), spielt im Europarecht ohnehin eine durchaus gewichtige Rolle.]

Als es vor dem EuGH um die Frage ging, ob ein Unternehmen seinen weiblichen muslimischen Angestellten das Tragen des Kopftuchs untersagen kann, gab es gegensätzliche Voten von zwei Generalanwältinnen. Der Gerichtshof ist Ihnen gefolgt und hat den Unternehmen die Möglichkeit gegeben, ein für alle Mitarbeiter geltendes Neutralitätskonzept zu erstellen. Ist es am EuGH üblich, in so brisanten Fragen unterschiedliche Gutachten erstellen zu lassen?

Es ist jedenfalls gerade in heiklen Fällen gut, zwei verschiedene Perspektiven und damit ein möglichst breites Spektrum vorgelegt zu bekommen. In eher simplen Angelegenheiten kann man sich einen solchen Aufwand sparen.

Waren Sie stolz,dass der EuGH in der Kopftuchfrage Ihren Lösungsvorschlag aufgegriffen hat?

Ich war recht froh. Das muss ich wirklich sagen. Das Urteil war nämlich eine Wegscheide, weil es zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung entschieden hat. Ich bin der Auffassung: Ob und wie jemand seine Religion in der Öffentlichkeit auslebt, ist anders zu beurteilen als Geschlecht oder Hautfarbe. Dass sich diese Sicht durchgesetzt hat, ist dann weniger eine Frage von Stolz, sondern bestärkt mich in meiner Überzeugung, dass sie richtig und gut ist – gut für die Gesellschaft, für die Frieden stiftende Funktion des Rechts, für die Kohäsion, den Zusammenhalt, von dem wir eingangs gesprochen haben. Darüber mache ich mir heutzutage die meisten Sorgen.

Frieden stiftend? Na ja. Der EuGH wurde ja auch scharf kritisiert, dass er den Schutz des Grundrechts auf Religionsfreiheit ins Leere laufen lasse.

Das tut das Urteil aber nicht. Es sagt nur, dass der einzelne Gläubige seine religiöse Praxis nicht ohne Weiteres unter Berufung auf europäisches Recht gegen seinen Arbeitgeber durchsetzen kann. Die Nationalstaaten haben dann ja immer noch Spielraum, nationale Grundrechte zu berücksichtigen.

Persönliche Ziele, Rolle der Frau und EU-Fragen – Teil 2 des Interviews

Haben Sie eigentlich eine frauenpolitische Agenda?

Als Mitglied eines Gerichts hat man keine „Agenda“. Aber ich bin eine Frau. Und natürlich sind Frauen im Gericht auch dazu da, die Perspektive von Frauen einzubringen. Als Frau habe ich beispielsweise eine bestimmte Haltung zum „Talaq“, der nach islamischem Recht möglichen einseitigen Verstoßung der Ehefrau durch ihren Mann. Ich halte das für unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz des europäischen Rechts. Sie können sagen, das sei feministisch. Meinetwegen. Als ich freilich las, auf dem Evangelischen Kirchentag in Berlin sei das Kirchenlied „Lobet den Herren“ gendergerecht zu „Lobet die Ew’ge“ umgetextet worden, da habe ich gedacht: Nein, so feministisch bist du nun auch wieder nicht.

Wenn wir Sie als die mächtigste deutsche Juristin bezeichneten, würden Sie widersprechen?

Ich würde das so nicht sagen. Ich habe hier eine tolle, eine wunderbare Stelle. Der EuGH hat viel Einfluss. Was man sich ausdenkt, wirkt sich aus. Und ich kann ständig im Austausch mit Richtern sein, die auf höchster Ebene nationales Recht sprechen. Früher habe ich die Urteile von Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht gelesen. Heute rede ich direkt mit den jeweiligen Richtern darüber. Ich habe sogar eine eigene Runde ins Leben gerufen, das „Luxemburger Expertenforum“, wo Richter aus Luxemburg und Karlsruhe, Professoren, an Rechtsfragen interessierte Politiker in kleiner Runde miteinander diskutieren.

Was wird da so besprochen?

Keine anhängigen Fälle. Das ist tabu. Wohl aber brisante Entwicklungen und Probleme, die wir auf uns zukommen sehen. Auch das trägt übrigens zur Befriedung bei, weil die Vertreter gegensätzlicher Positionen aufeinander hören und einander besser verstehen lernen.

Worin sehen Sie die größte Gefahr für das europäische Projekt?

Die Dankbarkeit ist verloren gegangen. Die Vorzüge Europas werden als selbstverständlich hingenommen: Frieden, Freiheit, Freizügigkeit, Wohlstand. Zugleich ist Europa an allem schuld, was nicht läuft. Leider eignet sich das europäische System dafür auch gut: Bekommt eine Regierung ein Projekt auf nationaler Ebene nicht durch, spielt sie es halt über Europa ein und behauptet dann, sie exerziere doch „nur“ einen Beschluss „der 28“. Ich halte das zwar für verantwortungslos. Aber es kommt vor, und es funktioniert.

Sie sind unterdessen die am längsten amtierende Generalanwältin. Keine Angst vor Routine?

Der Reichtum an Erfahrung in höchst unterschiedlichen Rechtsgebieten lässt sich gar nicht hoch genug schätzen. Auch insofern bin ich dankbar, dass ich jetzt schon so lange hier bin. Und je länger jemand in so einem Amt ist, desto größer wird sein Gewicht. So sollte es jedenfalls sein. Ansonsten stimmt irgendwas nicht.

Vor Beginn Ihrer ersten sechs Jahre hatten Sie einen heute bekannten CDU-Politiker als Konkurrenten…

… Peter Altmaier, ja. Ich wusste das. Ich glaube, er ist auch nicht unglücklich darüber, wie seine Karrierebahn verlaufen ist und dass sie ihn ins Bundeskanzleramt geführt hat. Wir kennen einander und verstehen uns gut. Wir hätten übrigens in Kürze zusammen auf einem Podium sitzen sollen. Aber ich musste absagen, was mir sehr leid getan hat. Indes: Es war zugunsten der Abifeier meiner Tochter.

Nach ihrem Amtsantritt in Luxemburg 2003 gab es viele Artikel über die Karrierefrau mit Familie und ihre fast schon einschüchternd-beängstigende Power. Heute, kurz vor Ihrem 60. Geburtstag, ist es ruhiger um Sie worden.

Ja, für die Journalisten hat es sich offenbar „ausgepowert“. Ich habe aber auch zunehmend Anfragen abgelehnt, weil ich das Gefühl hatte, es ist alles gesagt. Zumindest von mir. Ehrlich gesagt, finde ich Homestorys von mir eher blöd. Ich möchte meine persönlichen Angelegenheiten eigentlich nicht in der Presse ausgebreitet sehen. Zwei Gründe haben mich damals bewogen, dennoch recht großzügig zu sein. Erstens wollte ich andere Frauen dazu ermuntern oder zumindest dazu ermutigen, Kinder zu bekommen. Beruf und Familie lassen sich vereinen, und wer das Gegenteil behauptet, der hat – wie Sie vorhin meinten – eine „Agenda“, nämlich die Hierarchien und das Gefälle im Geschlechterverhältnis zu zementieren. Zweitens wollte ich dem Bild des EuGH als einer grauen Bürokratie entgegenwirken, ihm ein Gesicht geben, mein Gesicht. Aber irgendwann reicht es dann auch. Obwohl...

Obwohl was?

Vorige Woche war ich schon wieder auf einem „Frauentermin“ – allerdings zusammen mit einer ganz besonders mutigen und beeindruckenden Frau, der jemenitischen Filmemacherin Khadija Al Salami. Sie musste Widerstände einer ganz anderen Dimension überwinden. Ich habe zum Thema „der Rechtsstaat, die Frau und der Europäische Gerichtshof“ gesprochen.

Schöner Dreischritt.

Ja, es ging um den Gleichheitsgrundsatz, den das Gericht entwickelt und wie er den Frauen geholfen hat.

Wie haben Sie den Frauen geholfen?

Ich weiß gar nicht, ob ich ihnen geholfen habe. Aber ich bin in meinem Berufsleben immer wieder damit konfrontiert worden, was „als Frau gar nicht geht“. In meinem Staatsrechtslehrer-Milieu zum Beispiel waren die Ansichten damals sehr klar: eine Frau habilitieren? Höchst bedenklich. Generell war Kinder kriegen und voll arbeiten damals höchst bedenklich. Womöglich habe ich ein bisschen zur Einsicht beigetragen: Geht doch! Und vielleicht war auch das eine oder andere EuGH-Urteil hilfreich.

Zur Person

Juliane Kokott, geboren am 18. Juni 1967 in Frankfurt am Main, ist seit 2003 deutsche Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof (EuGH). Ihre dritte Amtszeit läuft bis 2021. Vor ihrer Entsendung nach Luxemburg hatte Kokott Lehrstühle für Völkerrecht und Öffentliches Recht an den Universitäten Sankt Gallen und Düsseldorf inne. Kokott ist verheiratet und hat sechs Kinder im Alter zwischen 12 und 29 Jahren. Ihre älteste Tochter studiert Jura. 

Generalanwälte am EuGH sind nicht mit deutschen Staatsanwälten vergleichbar. Vielmehr bereiten Sie die zur Entscheidung vorgelegten Fälle für die Richter auf und geben eine Urteilsempfehlung, den so genannten Schlussantrag. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle folgt der Gerichtshof dem Votum der Generalanwälte. Im Zuge der EU-Erweiterung wurde die Zahl der Generalanwälte mehrfach erhöht. Sie liegt heute bei elf. Deutschland und fünf andere Mitgliedsstaaten entsenden immer einen Generalanwalt. Fünf Posten werden rotierend vergeben. (jf)

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