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Historiker Heinrich August Winkler„Viele haben Hitler wie Gott verehrt“

Lesezeit 8 Minuten

Historiker Heinrich August Winkler

KölnHerr Winkler, war der 8. Mai 1945 für die Deutschen eher ein Tag der Niederlage oder ein Tag der Befreiung?

Für einen Teil der Deutschen war der 8. Mai 1945 keine Befreiung, schon deswegen nicht, weil nicht wenige bis zuletzt an Hitler geglaubt hatten. Wer dem Regime reserviert bis ablehnend gegenüberstand, musste diesen 8. Mai als Tag der Befreiung erleben, und das haben viele Deutsche getan, manche freilich erst mit erheblicher Verspätung.

Viele haben sich verwundert gezeigt, dass die Deutschen so stark bis zum Ende für Hitler gekämpft haben, obwohl der Krieg längst verloren war.

Viele Deutsche haben Hitler wie einen Gott verehrt. Das hat vor allem der britische Historiker Ian Kershaw herausgearbeitet. Diese mythische Identifizierung mit Hitler war eine pathologische Verirrung in einem Land, das sich durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg zutiefst gedemütigt fühlte. Und wer so dachte, konnte die vermeintliche Befreiung von der Schmach der Niederlage von 1918 und von Versailles durch Hitler gutheißen und ihm seine Unterstützung schenken. Und das ist im erschreckenden Ausmaß bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein geschehen.

Vom D-Day im Juni 1944 bis zur bedingungslosen Kapitulation vergingen elf Monate. Warum dauerte es so lang, bis man die Deutschen in die Knie gezwungen hat?

Das zeigt, wie stark die Loyalität der Wehrmacht gegenüber Hitler, ihrem Oberbefehlshaber, immer noch war und dass es auch nach Stalingrad eine Massenunterstützung für Hitler gab, der immer populärer war als seine Partei.

Es folgte eine bedingungslose Kapitulation. Das war eine Art Vorbedingung, dass die Deutschen den Weg nach Westen verspätet antreten konnten. Wäre es schwieriger geworden, wenn Stauffenberg Erfolg mit seinem Attentat auf Hitler gehabt hätte?

Die schreckliche Wahrheit ist wohl die, dass ein erfolgreicher 20. Juli 1944 einer Dolchstoßlegende den Boden bereitet hätte, die bis zu einem Bürgerkrieg zwischen Gegnern und Befürwortern des Attentats auf der Wolfsschanze hätte führen können. Die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg war eine völlig andere als nach dem Ersten Weltkrieg. Das Land wurde anders als nach 1918 von den Alliierten besetzt, es gab zeitweise keine deutsche Regierung und keine deutsche Staatlichkeit mehr. Die Tatsache, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatte, ließ sich nur schwer bestreiten, und nur kleine Minderheiten konnten nach 1945 eine Kriegsschuldlegende verbreiten, wie sie nach 1918 die Weimarer Republik belastet hat. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg anders.

Inwiefern?

Im Oktober 1945 hat der Vorläufige Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland das Stuttgarter Schuldgeständnis veröffentlicht. Es enthält eine Selbstanklage, die manche in ihrer Radikalität verstört und auch viel Widerspruch ausgelöst hat. Diese selbstkritische Sicht der deutschen Geschichte bis 1945 hat sich auf lange Sicht nach 1945 durchgesetzt. Es bedurfte vieler Debatten nicht nur unter Historikern, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit, um ein selbstkritisches Verständnis der deutschen Geschichte zu entwickeln und die Tatsache anzuerkennen, dass Hitler nun einmal kein Betriebsunfall war, sondern an fatale Traditionen anknüpfen konnte, die weit in die deutsche Geschichte zurückreichen.

Die Deutschen hatten schwere Schuld auf sich geladen. Zugleich gab es auch die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, die von zeitgenössischen Beobachtern als schlimme Menschenrechtsverletzungen gebrandmarkt wurden. Das hätte die Deutschen auch davon abhalten können, den Blick nach Westen zu richten.

In den 50er Jahren fühlten sich die meisten Deutschen eher als Opfer denn als Täter. Das gilt nicht nur für die Heimatvertriebenen oder die Opfer von Vergewaltigungen durch alliierte, vor allem sowjetische Soldaten. Es war in den 50er Jahren eine weit verbreitete Mentalität, sich zwar von Hitler und seinen Spießgesellen zu distanzieren, persönliche Schuld aber in Abrede zu stellen. Die Einsicht, dass die Vertreibung eine Vorgeschichte hatte, hat sich erst allmählich durchgesetzt. Im Grunde ist erst in den 60er Jahren die selbstkritische Betrachtung der deutschen Geschichte durchgedrungen.

Sie stammen aus Königsberg. Ist Ihre Familie auch Opfer der Vertreibungen geworden?

Meine Mutter, die das Kriegsende klar vor Augen sah, hatte sich frühzeitig darum bemüht, eine Beschäftigung in Südwestdeutschland zu finden, und hat es schon als eine Befreiung erlebt, als im August 1944 die Nachricht eintraf, dass sie eine erkrankte Lehrerin an der Urspringschule in der Nähe von Ulm vertreten sollte. Auf diese Weise konnten wir Ostpreußen bereits im August 1944 verlassen. Wir haben das Kriegsende dann in Württemberg erlebt. Unsere Befreier waren die Amerikaner und nicht die Rote Armee.

Wie stark hat der Zweite Weltkrieg die Welt verändert?

Zunächst einmal steht der 8. Mai 1945 nicht nur für den Untergang des „Dritten Reiches“, sondern er markiert auch das Ende des von Bismarck gegründeten Deutschen Reichs. Europa ist durch den Zweiten Weltkrieg insgesamt nachhaltig geschwächt worden, das gilt auch für die europäischen Kolonialmächte. Zu den Folgen gehört das Erstarken antikolonialer Befreiungsbewegungen, die schließlich so stark wurden, dass sich die europäischen Kolonialmächte nicht mehr in ihren überseeischen Gebieten behaupten konnten.

Die Zweiteilung Europas war ebenfalls eine Folge des Zweiten Weltkriegs in ein von den Vereinigten Staaten geführtes westliches Lager und ein von der Sowjetunion geführtes östliches Lager. Die Zweckallianz zwischen ideologisch so unterschiedlichen Systemen wie den westlichen Demokratien auf der einen und der Sowjetunion unter Stalin auf der anderen Seite konnte schwerlich von Dauer sein. Ohne die USA hätte der westliche Teil Europas seine Freiheit nicht behaupten können.

Zwei Weltkriege lagen hinter der Menschheit, doch das Zeitalter der Extreme, wie Eric Hobsbawm es nannte, war nicht vorbei?

Das Jahr 1945 steht für das Ende einer Form totalitärer Herrschaft, der faschistischen beziehungsweise nationalsozialistischen. Die andere Erscheinungsform totalitärer Herrschaft, die kommunistische, bestand nicht nur fort, vielmehr kontrollierte die Sowjetunion entsprechend den Beschlüssen von Jalta einen großen Teil Europas, darunter auch Länder wie Polen, die damalige Tschechoslowakei und die baltischen Staaten. Sie gehören ebenfalls zum alten Okzident, zum sogenannten lateinischen Europa. Diese Spaltung Europas ist 1989 erst im Gefolge der friedlichen Revolutionen überwunden worden.

Lesen Sie weiter, welche Wirkung die Erklärung der Menschenrechte von der UN-Vollversammlung 1948 hatte und welche Verantwortung Deutschland vor dem Hintergrund des Holocausts bei militärische Interventionen hat.

Verstärkt sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee eines normativen Projekts des Westens?

Man kann sich sogar fragen, ob die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der UN-Vollversammlung 1948 verabschiedet worden wäre, wenn die Welt nicht die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten, obenan die Ermordung der europäischen Juden, erlebt hätte. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat das normative Projekt des Westens globalisiert im Sinne eines weltumspannenden Anspruchs. Aber die Wirklichkeit hat sich danach leider nicht gerichtet. Noch heute gelten die Menschenrechte nicht weltweit, und immer wieder hört man die formal korrekte Behauptung, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sei kein geltendes Völkerrecht.

Wo liegt dann ihre Wirksamkeit?

Sie ist ein normativer Maßstab, an dem sich Mitglieder der Vereinten Nationen messen lassen müssen. Die Menschenrechte stehen auch nicht nur auf dem Papier. Sie haben nach 1945 praktische Wirkungen gezeigt. Die westlichen Demokratien konnten im Namen der Menschenrechte die Unterdrückung im Ostblock anprangern. Der Ostblock hatte seinerseits die Möglichkeit, dem Westen Verstöße gegen die Menschenrechte vorzuhalten. Auf die Menschenrechte konnten sich die antikolonialen Befreiungsbewegungen ebenso berufen wie die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Das hat dazu geführt, dass die Ideen der beiden atlantischen Revolutionen im 18. Jahrhundert, der amerikanischen von 1776 und französischen von 1789, eine enorme Wirkung entfalten konnten – aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg und wohl erst durch ihn ermöglicht.

Der 8. Mai spielt eine Rolle in Bezug auf mögliche humanitäre Interventionen. Die Deutschen hingegen haben sich mit diesem Datum auferlegt, militärische Interventionen zu unterlassen. Sind sie wegen ihres historischen Erbes zu zurückhaltend?

Es gibt nach wie vor in Deutschland das Argument, gerade aufgrund der NS-Verbrechen dürften die Deutschen bei Menschenrechtsverletzungen in anderen Teilen der Welt unter keinen Umständen zu militärischen Mitteln greifen. Aber wenn die westlichen Demokratien zu dem Ergebnis kommen, dass in extremen Fällen militärische Mittel angewandt werden müssen, etwa um einen Völkermord zu verhindern, dann müssen sich die Deutschen fragen, wie sie eine abweichende Position begründen wollen. Es wäre doch geradezu pathologisch, aus Auschwitz zu folgern, dass die Deutschen ein Recht auf Wegsehen hätten bei brutalen Verstößen gegen die Menschenrechte. Sollen wir, wenn in Europa oder in anderen Teilen der Welt Völkermorde stattfinden, weniger sensibel sein als unsere westlichen Verbündeten? Wenn wir so argumentieren, schlagen wir einen neuen deutschen Sonderweg ein und proklamieren eine neue deutsche Sondermoral, die in sich zutiefst unglaubwürdig ist.

Helmut Schmidt hat gesagt, die Menschenrechte seien bloß ein kulturelles Produkt des Westens.

Diese These kann ich nicht akzeptieren. Ich habe deshalb Helmut Schmidt widersprochen, der ja seit geraumer Zeit behauptet, konfuzianisch geprägte Kulturen wie China könnten sich mit der Idee der Menschenrechte nicht anfreunden. Wie könnten wir dann erklären, dass im Jahr 2008 über 5000 chinesische Intellektuelle und Künstler die Charta 08 unterschrieben haben, ein beeindruckendes Manifest der Menschenrechte von gleichem Rang wie die Virginia Declaration of Rights vom Juni 1776, die erste westliche Menschenrechtserklärung überhaupt, oder die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung vom August 1789?

5000 Chinesen sind nicht viel bei einem Volk von mehr als einer Milliarde Menschen.

Auch dieses Argument überzeugt mich nicht. Alle großen Bewegungen waren zunächst Minderheitsbewegungen. Wir haben im letzten Jahr die Freiheitsbewegung in Hongkong erlebt. Das konfuzianisch geprägte Taiwan hat sich in den letzten Jahren zu einer funktionstüchtigen Demokratie entwickelt. Nein, ich halte das Argument, die Menschenrechte seien ein Produkt des Westens und müssten deswegen nur in westlichen Ländern respektiert werden, für geradezu anmaßend gegenüber nichtwestlichen Kulturen. Dieser Welt- und Geschichtsdeutung müssen alle widersprechen, die sich der Idee der unveräußerlichen Menschenrechte und der allgemeinen Geltung der Menschenrechte verbunden fühlen.