Antisemitische Schrift im SchulranzenHistoriker über Flugblatt: Die Aiwanger-Brüder wussten, was sie taten

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Ein Wahlplakat mit Hubert Aiwanger von den Freien Wählern in München.

Ein Wahlplakat mit Hubert Aiwanger von den Freien Wählern in München. Medienberichten zufolge steht Aiwanger im Verdacht, in seiner Schulzeit ein antisemitisches Flugblatt verteilt zu haben.

Im Ranzen von Aiwanger wurden zu Schulzeiten antisemitische Flugblätter gefunden. Seine Erklärungs­versuche halten nicht, meinen Historiker.

Ein antisemitisches Pamphlet aus Schulzeiten bringt den stellvertretenden bayerischen Minister­präsidenten Hubert Aiwanger (Freie Wähler) in Erklärungsnot. Als 17-Jähriger soll der heute 52-Jährige ein Flugblatt verfasst und an seiner Schule ausgelegt haben – das berichteten Augenzeugen der „Süddeutschen Zeitung“.

Diese Darstellung hat Aiwanger selbst inzwischen dementiert: Sein Bruder Helmut habe das Schriftstück verfasst. In seiner eigenen Schultasche seien nur „ein oder wenige Exemplare“ gefunden worden.

Zentralrat der Juden akzeptiert Erklärungsversuch nicht

Debattiert wird nun darüber, ob das Vergehen der Aiwanger-Brüder noch als eine Art Jugendsünde gewertet werden kann. Helmut Aiwanger selbst erklärte, er sei damals „total wütend“ gewesen, weil er in der Schule durchgefallen war. „Ich war damals noch minderjährig.“

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, hält das für keine gute Entschuldigung: „Das Flugblatt darf (...) nicht einfach als Jugendsünde abgetan werden, da es die für unser Land so wichtige Auseinander­setzung mit dem National­sozialismus regelrecht mit Füßen tritt“, schrieb er in einer Mitteilung am Wochenende.

Auch die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: „Selbst wenn Aiwanger das Flugblatt nicht selbst verfasst, aber mit sich getragen und verteilt haben sollte, lassen die widerlichen und menschen­verachtenden Formulierungen Rückschlüsse auf die Gesinnung zu, die dem zugrunde lag.“ Wer solche Gedanken denke, aufschreibe und verbreite, „darf keine politische Verantwortung in Deutschland tragen“, so Esken.

Historiker: Die Jugend der Achtziger war gut aufgeklärt

Tatsächlich spricht auch historisch gesehen wenig dafür, dass es sich bei den Aiwanger-Flugblättern um eine jugendliche Dummheit gehandelt hat. Der Historiker Rainer Hering von der Universität Hamburg sagt dem Redaktions­Netzwerk Deutschland: „Inhaltlich, glaube ich, wussten die, was sie taten.“ Das Dritte Reich habe Mitte der Achtzigerjahre in allen Schulen auf den Lehrplänen gestanden.

Zudem habe es eine Reihe an Bildungs­möglichkeiten und Informations­angeboten gegeben, darunter zahlreiche Bücher. Und nicht zuletzt zeige ja auch der Inhalt des Pamphlets eine „gewisse Kenntnis“ und eine inhaltliche Beschäftigung mit dem Thema.

Das Ereignis fällt laut Rainer Hering mitten in die Zeit einer breiten Debatte um die Aufarbeitung des National­sozialismus. Verfasst haben soll Aiwanger das Flugblatt 1986. Ein Jahr zuvor hatte Bundes­präsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ genannt, was als Meilenstein in der öffentlichen Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland gilt. Ein Jahr später begann der sogenannte „Historikerstreit“ – ein Schlagabtausch in großen Zeitungen des Landes über die Einzigartigkeit der national­sozialistischen Juden­vernichtung.

Konflikte in Schulen gab es durchaus

Und wer das alles nicht mitbekommen haben sollte, der war schon Jahre zuvor durch das Fernsehen aufgeklärt worden. Die Serie „Holocaust“, die im Jahre 1978 erschienen war, hatte laut Hering eine Strahlkraft über mehrere Jahre. Nun zu argumentieren, man habe es nicht besser gewusst und die Flugblätter seien zufällig in der Schultasche gelandet, bezeichnet der Historiker als „schwierig“.

Aber könnte es sein, dass das Pamphlet der Aiwanger-Brüder einfach nur als Provokation diente? Die aktuellsten Erklärungs­versuche zumindest gehen in diese Richtung: Auf dem Gymnasium der beiden Schüler sei es zwischen dem Lehrer­kollegium und der Schul­leitung immer wieder zu Auseinander­setzungen wegen eines unterschiedlichen Weltbildes gekommen, schrieb die „Passauer Neuen Presse“ am Wochenende.

Die meisten Lehrer seien „extrem links“ gewesen, bis hin zu Aussagen, es brauche keine Wieder­vereinigung und die Bauernbuben vom Land hätten auf dem Gymnasium eh nichts verloren. Das Flugblatt habe Helmut Aiwanger dann aus Wut über die Schulleitung verfasst.

Polarisierende Auseinander­setzung über den Umgang mit NS-Vergangenheit

Der Historiker Frank Bösch erklärt dem RND, dass derartige Konflikte in den Achtziger­jahren an Schulen durchaus vorkamen. „Viele Lehrer­kollegien waren im generationellen Wechsel sicherlich gespalten“, sagt er. „Die älteren Kollegen an den Schulen waren damals ja in den 1920/30er-Jahren geboren und damit noch im NS sozialisiert. Mit der Expansion des Bildungs­wesens kamen in den 1980er-Jahren viele Lehrer an die Schulen aus der Nachkriegs­generation, die sich deutlich kritischer zum NS positionierten.“

„Man muss sich ja nicht, wenn einem etwas nicht passt, gleich rechtsextremistisch oder antisemitisch äußern.“
Rainer Hering, Historiker

Die Achtzigerjahre seien generell eine Zeit der „polarisierenden Auseinander­setzung über den Umgang mit der Vergangenheit“ gewesen, und an den Rändern habe sie durchaus auch radikale Auswüchse gehabt. Auch Flugblätter wie die von Aiwanger seien zu der Zeit nicht ganz ungewöhnlich gewesen. Zu seiner eigenen Schulzeit, sagt Bösch, habe ein Mitschüler etwa die Broschüre „Die Ausschwitzlüge“ mitgebracht.

Keine Entschuldigung für rechtsextreme Schriften

Das allerdings macht den Aiwanger-Fall keineswegs harmloser. Im Kontext wirke die Geschichte nun laut Bösch wie eine „pubertäre Schüler­provokation gegen linke Lehrer“. Tatsächlich aber habe es in den Achtzigerjahren bereits zahlreiche Morde und Anschläge von meist jungen Rechtsextremen gegeben, die derartige Gedanken ebenso spöttisch-humorvoll vertreten hätten.

Hinter solchen Flugblatt­aktionen stecke also mehr als nur nur ein Protest gegen links, nämlich „durchaus nationalistische, antisemitische und rassistische Überzeugungen“.

Auch Böschs Kollege Rainer Hering hält das Protest­argument für wenig überzeugend. Wer unzufrieden mit seiner Situation war, der habe in den Achtziger­jahren eine Menge Möglichkeiten gehabt, sich auszudrücken und abzugrenzen. „Man muss sich ja nicht, wenn einem etwas nicht passt, gleich rechts­extremistisch oder antisemitisch äußern.“ Auch hier gelte: Die Brüder hätten vermutlich gut gewusst, was sie taten.

Ein neuer Erklärungsversuch

Hubert und Helmut Aiwanger jedenfalls versuchen sich nun an Schadens­begrenzung. Der Mediengruppe Bayern sagte der Bruder des Politikers am Montag, möglicherweise habe Hubert Aiwanger die antisemitischen Flugblätter seinerzeit einfach wieder einsammeln wollen, daher seien sie in seiner Schultasche gelandet. „Ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Aber ich glaube, dass Hubert sie wieder eingesammelt hat, um zu deeskalieren.“

Erneut bekräftigte er zudem, er habe mit den Blättern nur provozieren wollen: „Ich habe das Schriftstück nicht erstellt, um Nazis zu verherrlichen, den Holocaust zu leugnen oder Hass und Gewalt zu schüren.“ Er sprach stattdessen von einer „stark überspitzten Form der Satire“ und einer „Jugendsünde“. „Ich schäme mich für diese Tat und bitte vor allem meinen Bruder um Verzeihung für die damals verursachten Schwierigkeiten, die auch noch nach 35 Jahren nachwirken.“

Minister­präsident Markus Söder (CSU) hat wegen der Vorwürfe eine Sondersitzung des Koalitions­ausschusses am Dienstag einberufen, in der sich Hubert Aiwanger erklären soll. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dringt auf eine Aufklärung.

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