Interview mit Joachim Gauck„Ich habe starke Antigefühle gegenüber der AfD-Führung”

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„Bei Hassparolen ist Schluss mit Toleranz“ Alt-Bundespräsident Joachim Gauck über die Ängste vieler Deutscher und die Gründe für den Rechtspopulismus

„Bei Hassparolen ist Schluss mit Toleranz“ Alt-Bundespräsident Joachim Gauck über die Ängste vieler Deutscher und die Gründe für den Rechtspopulismus

  • Alt-Bundespräsident Joachim Gauck hat ein neues Buch mit dem Namen „Toleranz: einfach schwer” veröffentlicht.
  • Er sagt: „Die Furcht vor der offenen Gesellschaft führt dazu, Sicherheit an die erste Stelle zu setzen.”
  • Ein Gespräch über Fremdenhass im deutschen Osten, das Problem AfD, politische Verführer vom Schlage Donald Trump und über Köln als Vorbild für Toleranz.

Herr Bundespräsident, wir sitzen hier in Köln. Wie wirkt das rheinische Temperament auf einen norddeutschen Protestanten wie Sie?

Ich bin ein Mecklenburger, ein norddeutscher Protestant. Die Kölner sind mir vom Wesen her eigentlich fremd, so katholisch und lebensfroh – wie eine fremde Völkerschaft. Dann aber hat mich Köln fasziniert, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: weil diese unglaublich verschiedenen Völkerschaften, die hier leben, den kölschen Katholizismus überhaupt nicht ruiniert haben. Den gibt es nach wie vor. Den kölschen Karneval gibt es nach wie vor. Das kölsche Lebensgefühl gibt es nach wie vor. Und die ganzen verschiedenen Völkerschaften leben hier zusammen in einer Art und Weise, wo ich nur sagen kann: Hoppla, liebe Deutsche, das Zusammenleben der Verschiedenen ist ganz gut möglich!

Das ist die Kölner Toleranz.

Ein schönes Beispiel! Das ist ja das Schlimme bei uns in weiten Teilen von Ostdeutschland, je weniger Ausländer es gibt, desto größer ist die Angst davor.

Wie erklären Sie sich das?

Die Furcht vor dem Fremden ist uralt, sie ist eine anthropologische Konstante, gehört also zum Menschen dazu. Im Zuge der Zivilisation haben die Menschen dann gelernt, Fremden nicht gleich mit Aggression oder Mord und Totschlag zu begegnen – oder umgekehrt: nicht gleich vor ihnen zu fliehen, sondern sie erst mal anzuschauen und dies in Neugierde, Interesse und ab der Aufklärung in Achtung umzuwandeln: Die Fremden haben ein Menschenantlitz, deshalb müssen wir menschlich mit ihnen umgehen, das ist ein Aufklärungstopos. Die Menschen wurden menschlicher, als sie die Haltung der Toleranz erlernten. Nun haben wir in Europa eine Geschichte der Gewöhnung an die Andersartigkeit.

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Im westlichen Nachkriegs-Europa hat sich gezeigt: Man kann Vielfalt ohne Aggressivität leben.

Nach dem Flüchtlingszustrom 2015 ist uns Vielfalt allerdings neu begegnet. Wissenschaftler haben festgestellt, dass Diversität zum Problem wird, etwa wenn in bestimmte Wohngebiete zu viele Migranten mit stark abweichender Kultur zu schnell hinzukommen. Zum Glück haben wir in den letzten Jahrzehnten im Rhein/Main Gebiet, im Großraum Stuttgart, in München oder eben im Raum Köln erlebt, dass das Zusammenleben der Verschiedenen auch gelingen kann.

Und die Ostdeutschen?

Die kannten die Ausländer nur von Ferne. Die Vietnamesen oder Mosambikaner, die bei uns gearbeitet haben, waren sehr abgeschottet. Die Menschen in der DDR lebten weitgehend in einer ethnischen und kulturellen Homogenität. Viele von ihnen haben daher Schwierigkeiten, sich auf die neue Vielfalt und Offenheit einzustellen, und so kann man des Öfteren hören: Oh Gott, die Fremden nehmen uns unsere Lebensart.

Wird die öffentliche Meinung in Bezug auf die Flüchtlinge seit 2015 nicht dominiert durch die Vorstellung, dass das Land sich überfordert fühlen müsse? Obwohl es vielleicht nicht so ist.

So ist es gerade vor allem im Osten. Aber dort kamen auch sehr problematische Umstände zusammen: Nach der Wiedervereinigung brach ein sehr großer Teil der ostdeutschen Wirtschaft zusammen, sehr viele Menschen wurden arbeitslos und nicht überall konnte ein guter Neustart positive Lebensgefühle erzeugen. So gibt es im Osten einen etwas größeren Bevölkerungsanteil, der auf die Verliererseite geraten ist. Es gibt zudem bestimmte Regionen, in denen die Beweglichen, die Jüngeren, die Dynamischen, die Leute, die den Wandel gut finden, fortgezogen sind, fast zwei Millionen Ostdeutsche sind noch nach der Wiedervereinigung in den Westen gegangen. Zurück blieb überproportional eine Bevölkerungsgruppe, die älter, eher konservativ, nicht so beweglich, nicht so offen ist.

Die frühere DDR-Leichtathletin und heutige Literatur-Professorin Ines Geipel findet, dass der Westen viel zu nachsichtig ist. 2,5 Billionen Euro habe man rübergeschoben, herausgekommen sind 30 Prozent AfD.

Ich kann Ines Geipel gut verstehen, sie ist eine sehr tapfere Frau, musste viel erleiden. Und sie kann diesen gewissen milden Blick auf die Diktatur nicht ertragen, komme er jetzt aus dem Osten oder aus dem Westen. Zumal gegenwärtig im Osten etliche gegenaufklärerische Texte von ehemaligen Akteuren bis hin zu Egon Krenz erschienen sind, die uns erklären wollen, wie wir die Zeit der Diktatur zu verstehen haben. Und da ist Ines Geipel eine, die sich zu Recht darüber erregt. Aber wir sollten nicht vergessen: Viele Menschen aus dem Osten haben eine geradezu gigantische Anpassungsleistung erbracht, um im vereinigten Deutschland ihren Platz zu finden. Erst wenn der Westen dies hinreichend gewürdigt hat, kann man auch die Frage stellen, wo wir heute im Osten stünden, hätte es die Wiedervereinigung und die riesige Unterstützung des Westens nicht gegeben. Im Übrigen dürfen Sie davon ausgehen, dass es genügend Ossis gibt, die andere Ossis immer wieder an diese Tatsache erinnern.

Zur Person

Joachim Gauck wurde am 24. Januar 1940 in Rostock geboren. Nach dem Abitur studierte er Theologie. Im März 1990 zog er als Abgeordneter von Bündnis 90 in die zum ersten Mal frei gewählte Volkskammer ein. Seit dem 3. Oktober 1990 war er Sonder- beziehungsweise Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Am 18. März 2012 wählte die Bundesversammlung Joachim Gauck zum elften Bundespräsidenten. Seit 2017 ist er Ehrenvorsitzender der Vereinigung „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“

Sein Buch „Toleranz: einfach schwer“ ist im Herder-Verlag erschienen (224 S., 22 Euro).

Die Soziologin Karen Stenner hat gezeigt, dass autoritäre Haltungen langlebiger sind, als viele meinen. Es gibt in Europa eine Bewegung zum Autoritären. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie ihren Ansatz korrigiert haben. Welche Folgen hat das für die Parteien, müssten die mehr die rechten Seiten mit einbeziehen?

Es gibt ja einen Grund, warum ich das Buch über Toleranz geschrieben habe. Ich merkte, immer mehr Menschen reagieren immer aggressiver aufeinander, wenn sie unterschiedlicher Meinung sind. Zudem hat mich die Trump-Wahl stark beunruhigt, weil sie mir zeigte, wie stark sich die Milieus in ihrer vermeintlichen Glaubenssicherheit einigeln und die anderen nur noch als Feinde sehen. Und in Deutschland sehe ich die Gefahr, dass wir in linksliberalen und anderen progressiven Milieus alles, was rechts von der Mitte ist, schon als nahezu faschistisch und somit als nicht tolerabel betrachten. Ich halte es aber in der Sache für falsch und politisch wenig hilfreich, wenn wir nicht mehr unterscheiden zwischen rechts als konservativ und rechts als extremistisch oder fundamentalistisch.

Das gilt nicht allein für Ostdeutschland.

Die Neigung, alles beim Alten zu lassen, homogene Nationalität möglichst zu erhalten, Europa und die Globalisierung skeptisch zu sehen, lässt sich tatsächlich nicht nur in Ostdeutschland ausmachen. Auch in anderen Teilen Europas zeigen Bürger ihr Unbehagen an der politischen Moderne, an Entgrenzung und an der technologischen Revolution, die zum Beispiel beim Thema künstliche Intelligenz bei vielen Leuten massive Ängste auslöst. Und in Zeiten der Verunsicherung suchen sie verstärkt nach Sicherheit.

Gilt das wirklich für alle Teile der Bevölkerung?

Nein, ein Teil der Bevölkerung freut sich: Wow! Neue Entwicklung! Was für ein Fortschritt! Dennoch sind bei technologischen Sprüngen schon immer Angstwellen durch die Bevölkerung gegangen. Nur erinnert sich niemand mehr daran, dass vor 150 Jahren das Maschinenzeitalter die Leute existenziell verunsichert hat. Die Weber beispielsweise fingen an, die Maschinen zu zerstören, um die Mechanisierung der Produktion aufzuhalten. Die technische Moderne war für sie kein Fortschritt, sondern der Beginn von Existenznot. Und vergleichbare Ängste sehen wir nun auch in unserer Zeit.

Es ist die Zeit der Verführer.

Sie sagen, wir verlieren unsere Nationalkultur, unsere Autonomie geht verloren, sie sagen: »Take back control« oder »America first«. Im Grunde werden Retro-Modelle als Trost für ängstliche Bevölkerungsteile angeboten. Und viele gehen da mit. Früher dachte ich: Du musst nur die richtigen Argumente mit der richtigen Sprache vortragen, dann überzeugst du diese Menschen schon. Nach meinen Studien zum Buch über Toleranz musste ich mich korrigieren.

Was besagen Ihre Studien?

In 28 Ländern in Europa besitzen 33 Prozent der Bevölkerung eine sogenannte autoritäre Disposition, in den USA sind es 44 Prozent. Die von Ihnen bereits erwähnte Forscherin sieht darin aber kein gleichbleibendes, gefährliches Übel, sondern ein politisch-psychologisches Profil, das unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann. An sich stellt diese Disposition noch keine Gefahr dar, sie ist auch nicht in Stein gemeißelt. Aber sie kann gefährlich werden, etwa wenn Menschen aus Angst vor inneren oder äußeren Bedrohungen sich auf das Eigene zurückziehen und dem Anderen begegnen.

Was ist die Folge davon?

Die Furcht vor der offenen Gesellschaft führt dazu, Sicherheit an die erste Stelle zu setzen. Und in dieser Phase sind wir. Deshalb ist das AfD-Wählen nicht allein ein Ossi-Problem. Selbst in den Musterdemokratien in Skandinavien oder der Schweiz oder in Teilen Baden-Württembergs wählen gut situierte Bürger in einer nennenswerten Zahl AfD. Alle eint sie eine Skepsis gegenüber einem forcierten Wandel. Es sind die, die letztlich Furcht vor der Freiheit empfinden, vor der verwirrenden Vielfalt der offenen Gesellschaft. Die Veränderung überfordert viele.

Und das sehen Sie also nicht als große Gefahr an?

Ich betrachte die Anhänger dieser nationalpopulistischen Bewegungen noch nicht als Feinde, sondern – solange sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen – als politische Gegner. Ich teile ihre Auffassungen nicht, streite also mit ihnen und nenne dies kämpferische Toleranz. Das Problem der AfD aber ist, dass sie so viel völkisches Gedankengut, also wirklich toxische Ideen, Gedanken und Wörter mitschleppt. Deshalb habe ich starke Antigefühle gegenüber der Führung dieser Partei. Und ich werde bewusst intolerant gegenüber jenen, die Hassparolen verbreiten, die andere Menschen diskriminieren oder rassistisch beleidigen. Dann ist Schluss mit kämpferischer Toleranz. Dann ist Intoleranz angesagt.

Haben Sie keine Angst, dass die Rechtspopulisten in Deutschland mit Ihren Parolen sogar die Oberhand gewinnen können?

Ich sehe zwar mit Besorgnis und Zorn auf verbrecherische Aktivitäten von Rechtsextremen, die sogar vor Mord nicht zurückschrecken. Ich teile zudem die Auffassung, dass unsere Sicherheitsbehörden stärker als bisher diese menschenfeindlichen Aktivitäten bekämpfen müssen. Aber die Befürchtung, dass Rechtspopulisten bei uns die Oberhand gewinnen könnten, teile ich nicht. Ich denke, dass bei uns die meisten Menschen aus der Vergangenheit gelernt haben. Anders als in der Weimarer Republik hat das heutige Deutschland eine Mehrheit verlässlicher Demokraten. Wenn wir allerdings in den Modus der Angst verfallen, haben wir keinen Blick für unsere Möglichkeiten und unsere Stärken. Auf keinen Fall dürfen wir den Feinden der Demokratie unsere Angst schenken.

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