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Interview

Ex-Botschafter Stein
„Es passiert eine Katastrophe in Gaza, die Israel hätte vermeiden können“

4 min
Bilder des Tages Shimon Stein bei Anne Will 2018-04-20, Berlin, Deutschland - Shimon Stein, ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland, zu Gast bei Anne Will

Der ehemalige israelische Botschafter Israels in Deutschland Shimon Stein

Mit dieser Härte des Gazakrieges habe er nicht gerechnet, sagt Israels Ex-Botschafter Shimon Stein. Das müsse enden.

Shimon Stein war von 2001 bis 2007 Botschafter Israels in Deutschland. Er lebt weiter in Berlin. Eigentlich sei er ein Nachrichten-Junkie, sagt er im Gespräch mit dem RND. Aber inzwischen schaltet er manchmal den Fernseher aus - wenn er die Berichterstattung über den Gazakrieg nicht ertragen kann.

Herr Botschafter, wie geht es Ihnen nach fast zwei Jahren Krieg in Gaza?

Die Medien in Deutschland berichten, so mein Eindruck, zu wenig über die Taten und die Ziele der Hamas. Oft wird weggelassen, was der Auslöser war: der brutale Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. In vielen deutschen Berichten wird auch zu wenig thematisiert, dass die Hamas Hilfsgüter abzweigt, ihre Warenlager damit füllt und damit weiter Macht über ihre Bevölkerung ausübt.

Sie hatten direkt nach der brutalen Ermordung von 1200 Israelis durch die Terrororganisation und die Verschleppung vieler Geiseln gesagt, die Reaktion der israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu werde hart werden. Hatten Sie damit gerechnet, dass sie so hart ausfallen und so lange andauern wird?

Nein, damit habe ich nicht gerechnet. Das ist der bisher längste Krieg Israels und bedauerlicherweise ist das Ende noch nicht abzusehen. Die Zerschlagung der Hamas und die Freilassung der Geiseln sollten die beiden Ziele sein. Wir haben die militärische Struktur der Hamas weitgehend zerstört. Es sind noch 49 Geiseln in Gefangenschaft und von ihnen vermutlich nur noch 20 am Leben. Sie zu retten, hat für mich die höchste Priorität - wohlwissend, dass wir einen Preis bezahlen werden, nämlich den Krieg zu beenden und uns aus Gaza zurückzuziehen. Netanjahus unrealistisches Ziel des vollständigen Sieges werden wir nicht erreichen. Je schneller er sich davon verabschiedet, desto besser wird es für uns.

Wie stellt er sich die Zukunft Israels vor?

Das ist eine gute Frage. Klar ist, dass er keine Zwei-Staaten-Lösung anstrebt. Sonst hätte er früher nicht die Hamas in Gaza unterstützt, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen. Auch das hat indirekt zum 7. Oktober geführt. Und deshalb weigert er sich, über den „Tag danach“ in Gaza zu sprechen - über die Palästinensische Autonomiebehörde als Alternative. Deshalb unternimmt er auch nichts gegen Minister im Kabinett, die keinen Hehl aus ihrem Ziel machen, palästinensische Gebiete zu annektieren. Was aber tun wir am „Tag danach“? Wo ist die Alternative zur Hamas? Wir als Besatzungsmacht? Das wäre für uns fatal. Zurück zu Ihrer Frage: Er will an der Macht bleiben. Dafür sind ihm alle Mittel Recht.

Müsste Deutschland wie etwa die Niederlande Einreiseverbote gegen Smotrich und seinen ebenso ultrarechten Kabinettskollegen Itamar Ben-Gvir verhängen?

Natürlich. Deutschland sollte sich nicht aus falsch verstandener Freundschaft zurückhalten.

„Die Strukturen der Hamas sind jetzt zerstört“

Kann der Krieg enden, bevor die Hamas vollständig zerstört ist?

Die Strukturen der Hamas sind jetzt zerstört, militärisch wie zivil. Sie hat vielleicht noch die Bedeutung einer Guerilla-Gruppe, aber ihre militärische Stärke ist Vergangenheit. Das bedeutet: Die Hamas ist keine existenzielle Bedrohung mehr für Israel. Was Netanjahu jetzt macht, ist zwecklos und sinnlos. Die Fortsetzung des Krieges dient nur seinem politischen Überleben.

Kann die Hamas nicht aus kleinsten Stücken wieder groß werden?

Israel ist im übertragenen Sinne mit dem 7. Oktober einmal verbrannt worden. Das passiert kein zweites Mal. Beim kleinsten Hinweis würde Israel einen Wiederaufbau der Hamas verhindern.

Die USA haben nach dem islamistischen Terrorangriff am 11. September 2001 Afghanistan bombardiert, auch Deutschland solidarisierte sich mit Washington, die Taliban wurden vertrieben, aber nach 20 Jahren verließ der Westen das Land wieder, die Taliban kamen zurück an die Macht. Kann das eine Mahnung für Netanjahu sein?

Wer lernt schon aus der Vergangenheit? Nun ist das Beispiel nicht ganz auf unsere Lage übertragbar. Wie auch immer, uns fehlt momentan eine Gesamtstrategie. Erstens muss Netanjahu einsehen, dass er seinen totalen Sieg nicht erreichen kann. Und er muss einsehen, dass seine Prämisse für die Befreiung der Geiseln - größtmöglichen Druck auf die Hamas zu machen - fehlgeschlagen ist.

Ist es ein Genozid, der in Gaza stattfindet?

Ich halte mich in dieser Diskussion zurück. Die Zeit dafür wird noch kommen. Es ist eine Katastrophe, was dort passiert, die Israel hätte vermeiden können, wenn es im Rahmen einer Strategie weiter humanitäre Hilfslieferungen zugelassen hätte.

„Deutschland soll tun, was deutschen Interessen dient“

Wie sollen Israelis und Palästinenser den Hass überwinden, der durch die Grausamkeiten seit dem 7. Oktober zusätzlich geschürt wurde?

Da sollten wir uns ein Beispiel nehmen an dem Versöhnungsprozess von Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist ein langer Prozess. Zunächst muss es zu einer politischen Lösung kommen. Wir Israelis müssen verstehen, dass wir nur in einem jüdischen und demokratischen Staat in Sicherheit leben können, wenn wir keinen endlosen Konflikt mit den Palästinensern führen. Es muss irgendwann zwei Staaten geben. Das ist eine existenzielle Notwendigkeit.

Wer oder was hat den größten Einfluss auf Netanjahu?

US-Präsident Donald Trump. Es hängt von ihm ab, ob Netanjahu zu verstehen geben möchte, dass dieser Krieg beendet werden muss.

Sollte Deutschland Israel weiter Waffen liefern?

Deutschland soll tun, was deutschen Interessen dient. Bei der Entscheidung, was aus deutscher Sicht auf das israelische Vorgehen in Gaza folgen soll, sollte man den Unterschied zwischen der israelischen Regierung und der israelischen Zivilgesellschaft machen, die zu großen Teilen gegen die Politik der Netanjahu-Regierung ist. Sie zu bestrafen, wäre ein Fehler.

In Deutschland gibt es eine wachsende palästinensische Gruppe, Juden erwägen aus Sorge um ihre Sicherheit, das Land zu verlassen. Wie sollte Deutschland gegensteuern?

Friedrich Merz hat lange bevor er Bundeskanzler wurde, einen interessanten Begriff geprägt: Deutsche Leitkultur. Menschen, die zu euch kommen, bringen einen Koffer mit. Darin steckt viel ihrer eigenen Kultur, ihrer Religion, Geschichte, Gesellschaft. Leute, die auch aus dem Nahen Osten zu euch kommen und Teil dieses Landes werden wollen, sollten sich an eine deutsche Leitkultur halten. Und der Staat sollte darauf achten, dass sie die deutsche Identität akzeptieren, zu der die deutsche Verantwortung für die Shoa gehört.