„Ich bin ein Berliner“John F. Kennedys Zitat vor 60 Jahren war eigentlich ein Plagiat

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US-Präsident John F. Kennedy (M.) reicht dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt (rechts neben ihm), vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin am 26. Juni 1963 die Hand. Mit dem legendären deutsch gesprochenen Satz "Ich bin ein Berliner" drückte Kennedy in seiner Rede seine Verbundenheit mit den Menschen in der geteilten Stadt aus.

US-Präsident John F. Kennedy (M) und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt (rechts neben ihm), vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin am 26. Juni 1963

Der Präsident des Verbands der Redenschreiber, Peter Sprong, erklärt, wie US-Präsident John F. Kennedy in Berlin mit dem Plagiat eines Plagiats Rhetorik-Geschichte schrieb.

Wie entstehen Sätze für die rhetorische Ewigkeit? Sätze, die das Zeug haben, im kollektiven Gedächtnis vieler Millionen Menschen für Generationen zu überdauern; Sätze, die zu Ikonen ihrer Zeit und zum geflügelten Wort selbst für Nachgeborene werden? „Ich kam, sah und siegte“. „I have a dream“. „Yes, we can“ und: „Ich bin ein Berliner.“

Der Satz, den John F. Kennedy heute vor genau 60 Jahren vor dem Schöneberger Rathaus den wahrscheinlich mehreren hunderttausend jubelnden Menschen entgegenrief, war weder ein Geniestreich noch das Produkt eines Kampagnenbüros. Er war schlicht und einfach ein Plagiat. Genau genommen sogar ein doppeltes Plagiat.

John F. Kennedys Redenschreiber bedienten sich in der Antike

Schon ein knappes Jahr vor dem Berlin-Besuch des US-Präsidenten hatten sich dessen Redenschreiber für einen anderen Auftritt ihres Chefs in der Antike bedient. Und einen Satz aufgeschrieben, der dann später in Berlin erneut zum Einsatz kam: „Civis romanus sum“, „Ich bin ein römischer Bürger.“ Vor 2000 Jahren, hieß es in Kennedys Manuskript, sei dies der stolzeste Ausspruch eines Menschen gewesen. In der Gegenwart laute der stolzeste Ausspruch: „I am a US-Citizen.“ „Ich bin Amerikaner“.

So steht es in der programmatischen Rede, die Kennedy am 4. Mai 1962 – kurz vor der Verkündung seines Mondlandungsprogramms – in New Orleans hält. Und schon dort ist die Anleihe bei den Römern als Spitze der westlichen Zivilisation gegen die kommunistische Bedrohung aus dem Osten zu verstehen. Wenige Monate später schreiben Kennedys Berater dann bei sich selbst ab. Es entsteht das Plagiat eines Plagiats: Aus „Ich bin Amerikaner“ wird „Ich bin ein Berliner“. Auch das lateinische Ursprungszitat schafft es in den Berlin-Text, und man fragt sich: Wie gut war das Latein des Amerikaners eigentlich damals akustisch zu entziffern? Wo doch wahrscheinlich schon die englische Sprache den meisten Mühe machte?

In der Rhetorik gewinnt, wer seine Botschaft klar und einfach formuliert

Einen Teil der Antwort erhält man, wenn man aus den nur 700 Worten der neunminütigen Rede per Software eine Wortwolke erstellen lässt: Besonders häufig genannte Begriffe sind darin großgeschrieben. Selten verwendete Ausdrücke hingegen sind kleiner abgebildet. Das größte Wort von allen lautet: „Berlin“. Das zweitgrößte: „Freedom“. In diesem simplen Befund steckt eine wichtige Erkenntnis für Rednerinnen und Redner, die mit ihren Worten wirken wollen. Und sie lautet: In der Rhetorik gewinnt, wer seine Botschaft klar und einfach formuliert. Und: Wer das Publikum zum Helden der eigenen Geschichte macht - selbst wenn die Wirklichkeit viel komplexer und komplizierter ist (und das ist sie eigentlich immer).

Alles, was John F. Kennedy vor 60 Jahren sagte, lief deshalb am Ende auf die eine zentrale Botschaft hinaus: „Ihr seid großartig. Berlin, nicht etwa Washington, ist die Welthauptstadt der Freiheit.“ Die eigene Welt, vor allem die eigene Person des Redners, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Dafür betreibt der US-Präsident das, was Schauspieler ein Status-Spiel nennen: Der König wird umso größer, je kleiner er sich und die seinen macht. Und je größer die anderen werden. Eben weil er der König ist, kann er sich das leisten.

John F. Kennedy in Berlin: Eine Geste demonstrativer Verletzlichkeit

Auch Kennedy demonstriert Souveränität dadurch, dass er sich und seine Landsleute als staunende Zaungäste auftreten lässt, die voller Bewunderung nach Berlin schauen; dass er seinen Platz auf der Rednertribüne zwischenzeitlich General Clay überlässt, dem Organisator der Luftbrücke, der vom Publikum frenetisch beklatscht wird; dass er die Rede mit einer einminütigen Pause beginnt, die zeigen soll, wie sehr ihn die Szenerie beeindruckt und dass der eigentliche Star dieses Moments die Berlinerinnen und Berliner sind; dass er mit einem gewinnenden Lächeln dem Dolmetscher dankt, der sein vermeintlich verunglücktes Deutsch ins Deutsche übersetzt.

Und dass er überhaupt mehrere Sätze (nicht nur den einen) der Rede auf Deutsch spricht, in einer Sprache, die er nicht beherrscht – eine Geste, die weit mehr ist als eine Höflichkeit. Sie signalisiert: Ich riskiere öffentlich einen Fehler. Es ist eine Geste demonstrativer Verletzlichkeit, ein Moment, in dem die Augenhöhe zwischen Redner und Publikum zugunsten des Publikums verschoben wird.

Zu Kennedys Erfolgskonzept des „rhetorischen Respekts“ gehört Mut

Kurzum: Was den Erfolg der Kennedy-Rede vor 60 Jahren ausmachte, könnte man das Konzept des „rhetorischen Respekts“ nennen. Ein Konzept, zu dem Mut gehört und das vielleicht auch deshalb 60 Jahre später weitgehend in Vergessenheit geraten ist - oder nur noch als schlecht umgesetzte Schrumpfform existent. In Weihnachts- und Neujahrsansprachen des politischen Führungspersonals etwa. Sie richten sich an die „lieben Landsleute“, die dann gerne im elterlichen Tonfall gelobt werden: für Ehrenamt, für Fleiß und Einsatz, obwohl man wissen könnte: Auch Lob kann das Gegenteil von Respekt bezeugen - wenn es „von oben herab“ vorgetragen wird und wenn es klein statt groß macht.

Oder wenn der Kanzler an den „Respekt“ zwar gerne und ausdrücklich appelliert, uns bei nächster Gelegenheit aber ebenso gerne wissen lässt, dass er zu den sehr wenigen Menschen zähle, die sowohl Altes als auch Neues Testament komplett gelesen haben. Das ist das glatte Gegenteil von Augenhöhe. Schon gar nicht macht man so das Publikum zum Helden der eigenen Geschichte.

Auch „Make America great again“ ist ein Satz für die Geschichtsbücher

Diese Sehnsucht erfüllen dann andere. Schließlich ist auch „Make America great again“ ein Satz für die Geschichtsbücher. Denn das ist das Schicksal des rhetorischen Werkzeugkastens: Die darin enthaltenen Instrumente sind frei zugänglich. Auch Populisten und Extremisten von rechts und links machen regen Gebrauch davon. Und sind damit erfolgreich: Farmer, Trucker und sogenannte „einfache“ Arbeiter fühlen sich in ihrer Lebensrealität von Donald Trump gesehen und respektiert. So wie sich derzeit ein rundes Fünftel der deutschen Wahlbevölkerung mit dem eigenen Selbstwertgefühl offenbar bei der AfD am ehesten aufgehoben fühlt.

Das spricht aber nicht gegen die rhetorischen Instrumente, die Trump und Co. verwenden – sowenig wie Messermorde gegen den Gebrauch von Messern in der Küche sprechen. Auch in der Rhetorik, so schrieb schon Aristoteles vor fast 2400 Jahren, kommt es stattdessen vor allem auf den „Charakter“ des Redners an, auf dessen „Ethos“. Und ein anderer Klassiker der Rhetorik, Cato der Ältere, ergänzte: „Ein Redner ist ein guter Mann, geschult in der Kunst es Sprechens.“ Gemeint war damit ein im moralischen Sinne „guter“ Mensch, der sein rhetorisches Talent im wohlverstandenen Sinne des Gemeinwesens einsetzt. Ob das eher auf Kennedy oder auf Donald Trump zutrifft – das zu entscheiden liegt nach wie vor in der Verantwortung des Publikums selbst. Selbst darin also bleibt es der wichtigste Akteur im öffentlichen Dialog.

Peter Sprong

Der Autor

Peter Sprong, geboren 1966 ist Präsident des Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) und seit fast 30 Jahren selbst als Redenschreiber und Ghostwriter tätig. Er lebt und arbeitet in Köln sowie auf der niederländischen Watteninsel Texel.

Ein ganzes Buch über den Berlinbesuch Kennedys hat der Kölner Historiker Andreas W. Daum geschrieben: „Kennedy in Berlin“, Schöningh-Verlag, 2003.

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