KolumneDer deutsche Umgang mit der Pandemie ist psychologisch eine Fehlleistung

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Lockdown Schild

Sofort aus dem Lockdown oder Lockdown noch verschärfen? Die Positionen spalten die Deutschen in Lager.

  • Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts. Der Psychologe ist auch Mitglied im Corona-Expertenrat der Landesregierung von NRW.
  • In seinem Beitrag erklärt er, warum Deutschland seine Vorreiterrolle in der Pandemie verspielt hat – und welcher Weg jetzt helfen kann.

Psychologisch betrachtet, ist der deutsche Umgang mit der Pandemie in seiner zaudernden Unentschiedenheit eine Fehlleistung. Bei der Analyse der vielen Hundert Tiefeninterviews zum Thema Corona begegne ich zunehmend unbewussten Widerständen, Denkfallen und Erlösungshoffnungen. Diese seelischen Faktoren sind mit verantwortlich dafür, dass Deutschland seine Vorreiter-Rolle in der Pandemie-Bekämpfung verspielt hat. So besteht ein zentrales seelisches Dilemma in zwei divergenten Haltungen, mit denen man dem Virus begegnen kann. Passiv in Form eines Lockdowns. Aktiv in Form effizienter Prophylaxe – von Schnelltests bis zu Tracking-Systemen. Beide Haltungen greifen im Idealfall ineinander und verstärken sich. In Deutschland aber behindern und entkräften sie sich zunehmend. Die passive Haltung wird durch einen Aktivitäts-Anspruch unterhöhlt, die aktive Haltung durch einen Passivitäts-Habitus gebremst. Der Status quo ist so geprägt von einer löchrigen Passivität und einer zielgehemmten Aktivität.

Im Herbst erfolgte der zweite Lockdown zu spät und zu milde. Die Bürger hatten somit kein rasches Erfolgserlebnis. Die notwendigen Verlängerungen haben eine Corona-Korrosion erzeugt: Vordergründig halten sich die Menschen zwar an die Regeln, hintergründig entsteht jedoch ein Schatten-Alltag, in der jeder seine Grauzonen etabliert und seine Schlupflöcher nutzt. Die Zielhemmung der Aktivität wird gerade jetzt spürbar, da die Sehnsucht nach einem gestaltenden Übergang in ein kontrolliertes Leben mit dem Virus wächst. Die Analyse unserer Tiefeninterviews ergibt fünf Gründe für diese zielgehemmte Aktivität:

1. Die Glorifizierung des Aussitzens, Abwartens und Nichtstuns

Viele Bürger haben das Gefühl, dass man sich angesichts einer unsichtbaren Bedrohung durch das Virus nur wegducken kann. Idealerweise würde man sich und das ganze Land in einen kollektiven Winterschlaf versetzen, der erst beendet wird, wenn das Virus durch externe rettende Mächte aus der Welt geschafft ist. TV-Spots der Bundesregierung haben mit ihrem Lob der Faulheit die untätig-abwartende Duldungsstarre geadelt.

2. Innovationsgeist und Erfindungsreichtum als Sündenfall und Schuld an zweiter Welle

Der erste Lockdown war erfolgreicher, weil die Menschen stärker ihre Kontakte reduziert haben. Die Passivität war damals weniger löchrig, die Aktivität noch nicht so zielgehemmt, da die Öffnung durch viele kluge Maßnahmen und die Entwicklung wirksamer Hygiene-Konzepte kreativ vorangetrieben wurde. Mit dem Ansteigen der Zahlen im Herbst wurde aber dieser deutsche Erfindungsreichtum pauschal diskreditiert und für die höheren Werte verantwortlich gemacht. Wenn jedoch kluge Maßnahmen als Sündenfall erscheinen, verliert Deutschland seine elanvolle Schöpferkraft und seinen Nimbus. Aus dem Land der Dichter und Denker droht das Land der Dichtmacher und Querdenker zu werden.

3. Vollkasko-Mentalität verspricht Unangreifbarkeit

Wer etwas probiert, macht sich angreifbar. Umgekehrt bietet der pauschale Lockdown eine Art Versicherungsschutz. Diese Haltung kann es Politikern im Superwahljahr schwer machen, differenzierte und zielgenauer Maßnahmen zu wagen. Auch bei vielen Bürgern toppt derzeit der Vollkasko-Wunsch das Prinzip Eigenverantwortung. So beschreiben viele ihre Scheu, selber Schnelltests anzuwenden, als würden sie damit eigenmächtig in einen staatlichen Hoheitsbereich eingreifen.

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4. Arrangement mit der Lebensform „Lockdown“

Im zweiten Lockdown hat sich die Spaltung zwischen den Menschen vertieft, die den Lockdown als existenzielle Bedrohung oder Einschränkung sehen und denjenigen, die die Stilllegung als eine entschleunigte Zeit erleben und sich in einem kleinen Corona-Biedermeier-Lebenskreis komfortabel eingerichtet haben. Letztere haben mitunter gar kein Interesse an einer aktiven Öffnung, denn der Lockdown entbindet sie von vielen Zumutungen des modernen Lebens. Weniger Kontakte, weniger Verpflichtungen, weniger Reisen bedeuten für sie auch weniger Befremden, weniger Entwicklungsnotwendigkeit und mehr legitimierte Selbstbezüglichkeit.

5. Fundamentalistische Erlösungs-Ansprüche à la „Zero Covid“

„Ich starte das Leben erst wieder, wenn das Virus eliminiert ist!“, verkündet ein Proband im Tiefeninterview. Als Psychologe finde ich es beunruhigend, wenn in der Krise wieder Erlösungsnarrative aufkommen. Ihr verführerischer Absolutheitsanspruch kann eine abwartend-fatalistische Haltung zementieren, die eine aktive und kontrollierte Öffnung an eine kaum einlösbare Bedingung knüpft.

Der Ausweg

Als Ausweg aus dem Schunkeln zwischen löchriger Passivität und zielgehemmter Aktivität plädiere ich für eine entschieden aktive Haltung. Für entschiedene Passivität mit hartem Lockdown ist es zu spät. Jedoch setzen effiziente und zielgenaue Maßnahmen sowie der Einsatz bisher kaum genutzter technologischer Tools vier Aspekte voraus:

1. Die Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger auch durch Politiker mit einem Appell an die schöpferischen Kräfte Deutschlands.

2. Eine für die Menschen greifbare Zielperspektive mit nachvollziehbaren Stufenplänen.

3. Das konsequente Monitoring aller Maßnahmen.

4. Und wenn es Rückschläge geben sollte, sind Aufklärung, Fehlertoleranz und Mutmachen hilfreicher als Moralisieren und Schwarzmalen.

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