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Trotz MordverdachtsMaddie-Hauptverdächtiger Christian B. kommt frei – wie kann das sein?

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JVA Sehnde am Montag, den 15. September: Die Entlassung von Christan B. zieht internationale Medien an. Die britische Journalistin Segel Karia recherchiert seit dem Verschwinden des Mädchens im Fall Maddie McCann. (Archivbild)

JVA Sehnde am Montag: Die Entlassung von Christan B. zieht internationale Medien an. Die britische Journalistin Segel Karia recherchiert seit dem Verschwinden des Mädchens im Fall Maddie McCann. (Archivbild)

Für Christian B. endet die Zeit in der JVA Sehnde. Vor dem Tor werden Dutzende Journalisten auf den Hauptverdächtigen im Vermisstenfall Maddie warten.

Es ist viel passiert seit dem Abend des 3. Mai 2007. Damals verschwand die noch dreijährige Madeleine „Maddie“ McCann aus ihrem Zimmer der Ferienanlage Ocean Club im portugiesischen Praia da Luz. Mehrere Männer gerieten seitdem ins Visier der Ermittler, überall auf dem Kontinent wurde nach Hinweisen gesucht, Papst Benedikt XVI. segnete bei einem Besuch der Eltern Kate und Gerry McCann das Bild des Kindes – doch ein Wunder konnte auch das nicht bewirken.

Einer beispiellosen Medienkampagne der Eltern ist es zu verdanken, dass das Foto von dem kleinen Mädchen mit den großen Augen wohl zum bekanntesten Vermisstenfoto der Geschichte geworden ist. Kate und Gerry tourten mit ihrer Geschichte durch Europa und die Welt, veröffentlichten ein Buch und gerieten zeitweise selbst in Verdacht. Und bei all den Ungewissheiten konnten sie sich auf eines immer verlassen: Das Interesse der internationalen Medien und insbesondere des britischen Boulevards an ihnen und dem Schicksal ihrer Tochter ließ nie nach.

Fall Maddie McCann: Tatverdächtiger Christian B. wird aus der Haft entlassen

In diesen Tagen gilt das öffentliche Interesse insbesondere Christian B. (49). Der Mann, der immer noch der Hauptverdächtige im Fall Maddie ist, sitzt in der JVA Sehnde (Region Hannover) noch die letzten Stunden und Minuten seiner Haftstrafe für die Vergewaltigung einer 72-jährigen US-Amerikanerin in Portugal ab. Er wird im Laufe des Mittwochs, 17. September, die ersten Schritte in die Freiheit machen. Doch schon zwei Tage zuvor wurde die Haftanstalt von gut einem Dutzend Reportern belagert.

Seit 2020 ermittelt die Staatsanwaltschaft in Braunschweig, wo Christian B. seinen letzten Wohnsitz in Deutschland hatte, gegen ihn – wegen Mordverdachts im Fall Maddie. „Das ist ein weiterer Meilenstein“, sagt die britische Reporterin Segel Karia (53), die seit dem Verschwinden des Mädchens in dem Fall recherchiert, über die nahende Entlassung. Die britische Klatschpresse hat nicht den Ruf zimperlich zu sein, sobald es um das beste Bild geht. Auch deswegen wird am Mittwoch die Polizei vor der JVA auffahren, damit der Knastbetrieb ungestört weiterlaufen kann.

Friedrich Fülscher ist der Anwalt von Christian B., er sorgt sich vor allem darum, dass die Persönlichkeitsrechte seines Mandanten verletzt werden könnten. „Insbesondere von der britischen Presse“, so der Jurist. Das habe Christian B. schon die Haft erschwert. Wenn jemand im Verdacht stehe, Kindern etwas angetan zu haben, werde er in der Knasthierarchie nach unten durchgereicht, Beschimpfungen und Bedrohungen seien dann an der Tagesordnung. So sei es auch für seinen Mandanten gewesen, der viel zu lange in Einzelhaft gewesen sei.

Dabei sei aus seiner Sicht gar nicht nachvollziehbar, dass Christian B. immer noch im Fokus der Ermittlungsbehörden ist, sagt Fülscher. Für ihn ist klar: „Die Staatsanwaltschaft hat sich verrannt.“

Christian B.: Tatverdächtiger im Vermisstenfall Maddie McCann weiter im Visier der Ermittler

Erst vor wenigen Wochen durchkämmte die portugiesische Polizei mit Unterstützung aus Deutschland erneut die Umgebung von Praia da Luz. „Auch diese Durchsuchungen werden ergebnislos geblieben sein“, prophezeite Fülscher danach. Es war nicht die erste Aktion in der Umgebung des Ferienortes. 2020 wurde zudem eine Kleingartenparzelle in Seelze-Letter (Region Hannover) umgekrempelt – hier soll sich Christian B. ab 2007 regelmäßig aufgehalten haben.

Bis heute ist nicht ganz klar, was bei diesen Einsätzen gefunden wurde. Anwalt Fülscher deutet das Schweigen als leises Eingeständnis des Scheiterns der Ermittler. Nach wie vor habe die Staatsanwaltschaft Braunschweig offenbar nicht genug gegen seinen Mandanten in der Hand, so Fülscher zufrieden.

Weder eine Anklage noch ein Haftbefehl ist in der Welt. Und das nach all den Jahren intensiver Ermittlungen.
Friedrich Fülscher, Anwalt von Christian B.

„Weder eine Anklage noch ein Haftbefehl ist in der Welt. Und das nach all den Jahren intensiver Ermittlungen.“ Kurz vor der Entlassung seines Mandanten wurde bekannt, dass Scotland Yard es auch noch einmal versuchen wollte. Eine Befragung durch die Ermittler habe Christian B. aber abgelehnt und damit von seinem „verfassungsmäßig verbürgten Recht Gebrauch gemacht, keine Angabe zur Sache zu machen“, so Fülscher in einer Mitteilung. Als Begründung für die Ablehnung führte er an, dass ihm im Vorfeld keine Akteneinsicht gewährt und Christian B. nicht mitgeteilt wurde, auf welchen konkreten Tatsachen der Tatvorwurf beruhen soll.

Christian Wolters von der Staatsanwaltschaft Braunschweig interpretiert die bisherigen Ermittlungen dagegen ganz anders als der Verteidiger. Trotz der jahrelangen Ermittlungen habe man nichts gefunden, was Christian B. entlastet. Auch wenn der letzte Beweis fehle, deuteten für ihn doch eine ganze Reihe von Indizien auf die Täterschaft des Mannes hin. Er sei weiter davon überzeugt, dass Christian B. das Mädchen entführt und getötet hat. „Und zwar er allein.“

15.09.2025, Niedersachsen, Sehnde: Ein Schild „JVA Betreten verboten“ hängt an der Justizvollzugsanstalt (JVA) Sehnde in der Region Hannover. Christian B., der im Fall der seit 2007 verschwundenen Maddie unter Mordverdacht steht, sitzt in Sehnde eine Haftstrafe wegen einer Vergewaltigung in Portugal ab und soll im September freikommen. Foto: Julian Stratenschulte/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Ein Schild „JVA Betreten verboten“ hängt an der Justizvollzugsanstalt (JVA) Sehnde in der Region Hannover. Christian B., der im Fall der seit 2007 verschwundenen Maddie unter Mordverdacht steht, sitzt in Sehnde eine Haftstrafe wegen einer Vergewaltigung in Portugal ab und soll im September freikommen.

Doch wo versteckt sich zwischen diesen beiden Positionen die Wahrheit? Aus Sicht der Ermittler deutet wohl zu viel auf Christian B. hin, um noch guten Gewissens von bedeutungslosen Zufällen zu sprechen. So soll er laut BKA zwischen 1995 und 2007, also dem Jahr des Verschwindens von Maddie, in der Nähe von Praia da Luz gelebt haben.

Christian B. sei in dieser Zeit immer wieder in Hotels und Ferienwohnungen eingebrochen und sei mehrfach wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu Freiheitsstrafen verurteilt worden. Dazu kommt, dass er laut BKA am Tattag zwischen 21.10 Uhr und 22 Uhr mit seinem Handy im Bereich von Praia da Luz telefoniert habe. Und es gebe Hinweise darauf, dass er für die Begehung der Tat eines seiner beiden Fahrzeuge (einen Jaguar XJR 6 oder einen VW T3 Westfalia) genutzt haben könnte.

Das letzte, wirklich entscheidende Puzzlestück scheint aber zu fehlen. Weil am Anfang Fehler gemacht wurden? Als die Eltern am Tag des Verschwindens von Maddie vom Abendessen zurück in ihr Apartment kamen, stellten sie fest, dass ihre Tochter nicht in ihrem Bett lag. Sofort beginnt die Suche, alle gehen erst einmal von einem reinen Vermisstenfall aus. Aus der Sicht eines Experten könnte das schon das entscheidende Problem sein.

Karsten Bettels hatte als Leiter einer Sonderkommission aufsehenerregende Fälle von Kindesentführungen gelöst. Im Mai 2004 war die damals achtjährige Levke im Raum Cuxhaven verschwunden, wenig später auch der achtjährige Felix im Landkreis Rotenburg. Bettels konnte schließlich Marc H. (52) als Täter überführen. Er hatte die Kinder entführt, missbraucht und getötet, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Seitdem fragt sich Bettels aber, ob die Polizei im Fall von verschwundenen Kindern nicht so einiges besser machen könnte als bisher.

Blumen stehen vor einem Bild, das die verschwundene Madeleine McCann (Maddie) auf einem Foto zeigt, das ihre Eltern im Zusammenhang mit dem Verschwinden des Kindes veröffentlicht haben. (Archivbild)

Blumen stehen vor einem Bild, das die verschwundene Madeleine McCann (Maddie) auf einem Foto zeigt, das ihre Eltern im Zusammenhang mit dem Verschwinden des Kindes veröffentlicht haben. (Archivbild)

Als Dozent an der Polizeiakademie in Nienburg impft er diese Zweifel auch seinen Studierenden ein – und hofft, sie damit immun zu machen gegen eine zu laxe Grundhaltung bei verschwundenen Kindern. In den allermeisten dieser Fälle konzentriere sich die Polizei auf Suchmaßnahmen, zu selten werde aber mitgedacht, dass es sich auch um ein Verbrechen handeln könnte. Doch wenn in dieser ersten Phase Spuren nicht gesichert und Zeugen nicht befragt würden, sei das häufig kaum noch wieder aufzuholen.

Verglichen mit offensichtlichen Gewaltverbrechen sei dies ein enormer Nachteil, so Bettels. Hier würde der Tatort sofort abgesperrt, ausgeleuchtet und nach dem kleinsten Hinweis gesucht. Bei verschwundenen Kindern dagegen würden durch hektische Suchmaßnahmen Spuren nicht gesichert oder verwischt und wichtige Fragen nicht gestellt. Aber „der Rechtsstaat darf die Opfer nicht vergessen“, sagt Bettels.

Im letzten Verfahren gegen Christian B. vor dem Landgericht Braunschweig wurden ihm erneut mehrere Sexualdelikte vorgeworfen, die er in Portugal begangen haben soll. Irgendwann ging es dabei auch um USB-Sticks und Kinderkleidung, die auf einer Industriebrache im niedersächsischen Neuwegersleben verbuddelt waren.

Das Gelände gehörte Christian B., der Ort ist nur 90 Kilometer vom Wilhelmshof entfernt. Hier verschwand 2015 die damals fünf Jahre alte Inga Gehricke spurlos. Auch dieses Kind tauchte nie wieder auf. Hat der Hauptverdächtige im Fall Maddie etwa auch damit etwas zu tun? Es gab offenbar Angehörige der Polizei, die das glauben wollten – und auf eigene Initiative und ohne Durchsuchungsbeschluss auf dem Areal zu suchen begannen.

Mich bringt zwar so leicht nichts mehr aus der Fassung. Aber hier musste auch ich etwas schlucken, als ich das gelesen habe.
Friedrich Fülscher über die Gewaltfantasien von Christian B.

Die Chat-Protokolle, Gewaltfantasien und kinderpornografischen Dateien, die auf den Datenträgern gefunden wurden, spielten aber keine Rolle in dem Prozess. Sie wurden als Beweismittel nicht zugelassen – darauf legt der Anwalt von Christian B. wert. Doch auch Fülscher muss zu den Gewaltfantasien seines Mandanten einräumen: „Mich bringt zwar so leicht nichts mehr aus der Fassung. Aber hier musste auch ich etwas schlucken, als ich das gelesen habe.“

Am Ende zähle aber, dass das Verfahren im vergangenen Jahr mit einem Freispruch endete – die Belastungszeugen hatten sich zum Teil selbst widersprochen. „Das muss der Rechtsstaat aushalten“, sagte die Vorsitzende Richterin in dem Prozess, in dem viele die letzte Möglichkeit gesehen hatten, damit Christian B. noch möglichst in Haft bleibt. Der böse Verdacht reichte nicht, weil es erneut am entscheidenden Beweis mangelte.

Christian B. kommt aus der Haft frei: Ein Neustart unter großem Medienrummel

Wie geht es weiter für Christian B.? Das ist derzeit unklar. Fakt ist nur, dass er laut seines Anwaltes relativ unvorbereitet den Weg in die Freiheit antritt. Demnach habe es in der JVA Sehnde keinerlei Vorbereitung auf eine Haftentlassung gegeben, was das niedersächsische Justizministerium nicht bestätigt oder dementiert.

Staatsanwalt Wolters beklagt auf der anderen Seite, dass Christian B. in Haft keine Therapieangebote wahrgenommen hatte. Die Zukunft nicht vorbereitet, die Vergangenheit nicht aufgearbeitet, dazu noch das Urteil eines psychiatrischen Gutachters, der Christian B. in die „absolute Topliga der Gefährlichkeit“ einordnete – die Staatsanwaltschaft reagierte auf diesen Dreiklang mit der Beantragung einer strengen Führungsaufsicht. Fußfessel inklusive. Der Neustart wird schwierig für Christian B. – und er wird wohl nicht im Verborgenen stattfinden können.