Interview

Alexandra Geese
„Inhalte werden immer extremer – ein gefährlicher Kaninchenloch-Effekt“

Lesezeit 4 Minuten
EU-Politikerin Alexandra Geese (Grüne)

EU-Politikerin Alexandra Geese (Grüne)

Die grüne EU-Parlamentarierin Alexandra Geese setzt darauf, dass hohe Strafen Tiktok & Co davon abhalten, Hassbotschaften zu verbreiten.   

Frau Geese, Sie beschäftigen sich im EU-Parlament mit Digitalpolitik – ist es realistisch, dass die Verbreitung von Hass und Hetze von Brüssel wirksam eingedämmt werden kann?

Alexandra Geese: Ja, da bin ich sehr zuversichtlich. Mit dem Digitale-Dienste-Gesetz hat die EU jetzt ein Gesetz beschlossen, mit dem konkrete Maßnahmen gegen die Verbreitung von illegalen Inhalten, Hass und Hetze konsequent durchgesetzt werden können. Plattformen, die sich nicht daran halten, müssen mit sehr schmerzhaften Sanktionen rechnen – so können bis zu sechs Prozent des globalen Umsatzes als Strafzahlung verhängt werden.

Schreckt das wirklich ab?

Ja, die Anbieter haben ja auch Angst vor einem schweren Imageschaden. So hat Tiktok bereits auf ein EU-Verfahren reagiert – und ein Angebot vom Netz genommen, das den Konsum von Videos belohnte und als suchtgefährlich eingestuft wurde.


Alexandra Geese macht seit 2019 als Abgeordnete der Grünen im EU-Parlament Politik und ist für Digitalpolitik zuständig. Die Bonner Politikerin ist seit zwei Jahren stellvertretende Vorsitzende der Fraktion „Greens/EFA“.


Wie soll die Eindämmung von Hass und Hetze konkret funktionieren?

Die Plattformen müssen die Wirkung ihrer Algorithmen transparent machen und sie demokratisch gestalten. Die Algorithmen registrieren, welche Inhalte im Netz am meisten geteilt oder kommentiert werden, und spielen den Nutzern entsprechende Inhalte zu. Auf diese Weise soll ein Interesse geweckt werden, das die User so lange wie möglich auf der Plattform hält – denn das steigert die Werbeeinnahmen. Aber so werden Hass, Hetze und Desinformation an besonders viele Menschen ausgespielt, denn Inhalte, die Angst und Wut auslösen, werden häufiger geteilt und kommentiert als Fakten. Diese Algorithmen können die Plattformen ändern, indem sie zum Beispiel Menschen selber entscheiden lassen, welche Inhalte sie sehen wollen oder eine gute Mischung aus Nachrichten und Unterhaltung anbieten.

Wer einmal aus Neugier auf eine Anzeige der AfD klickt, kann davon ausgehen, von der Plattform immer mehr Inhalte mit AfD-Themen zugespielt zu bekommen. Auf diese Weise kann ein gefährlicher Kaninchenloch-Effekt entstehen.
Alexandra Geese, Abgeordnete der Grünen im EU-Parlament

Worin besteht die Gefahr der Algorithmen?

Wer schon mal Sportschuhe im Internet bestellt hat, kennt das Phänomen, dass danach wochenlang Werbung für Sportschuhe auf den Seiten auftaucht. So funktioniert das auch mit politischen Themen. Konkret heißt das: Wer einmal aus Neugier auf eine Anzeige der AfD klickt oder auf Tiktok ein Video zu Ende guckt, kann davon ausgehen, von der Plattform immer mehr Inhalte mit AfD-Themen zugespielt zu bekommen. Auf diese Weise kann ein gefährlicher Kaninchenloch-Effekt entstehen.

Was ist das denn?

Das soll heißen, dass die Inhalte immer extremer werden, je weiter man vordringt. Es gibt viele Beispiele dafür, wie das zu einer Selbstradikalisierung führen kann. So nutzen zum Beispiel Islamisten Plattformen, um Gefolgsleute für den Dschihad zu rekrutieren. Das grundsätzliche Problem der Algorithmen besteht darin, dass durch sie Hass und Hetze schneller verbreitet werden als die Fakten. Außerdem besteht so die Gefahr, dass Extremisten oder ausländische Regierungen durch gezielte Desinformation Wahlen beeinflussen.

Viele Einzeltäter haben sich im Internet radikalisiert
Alexandra Geese, MdEP

Sehen Sie einen direkten Zusammenhang zwischen den aktuellen Fällen von Gewalt gegen Politiker und der verbalen Gewalt auf Internet-Plattformen?

Wir beobachten einen starken Zusammenhang zwischen Hass und Desinformation gegen bestimmte Gruppen und einem Anstieg von physischen Übergriffen. Wer im Minutentakt Hass-Posts sieht, wird möglicherweise eine niedrigere Schwelle für Gewalt haben. Viele Einzeltäter der letzten Jahre haben sich auf Internet-Plattformen radikalisiert. Das ist bei Jugendlichen, die sich stärker auf Sozialen Medien informieren als ältere Menschen, besonders gefährlich. Dass Hasskriminalität, Volksverhetzung, die Bedrohung Andersdenkender, antisemitische und frauenfeindliche Hetze zugenommen haben, geht auch an vielen Jugendlichen nicht spurlos vorbei. Andererseits haben Jugendliche oft eine höhere Medienkompetenz als ältere Menschen.

Wann rechnen Sie damit, dass neue Regeln spürbar werden?

Wir erleben die Auswirkungen schon. Ohne das Gesetz hätte Tiktok sein besonders problematisches Angebot Tiktok Lite nicht vom Netz genommen. Wie es weiter geht, hängt vom politischen Willen der EU-Kommission und der Mitgliedsstaaten ab. Unter den demokratischen Parteien in der EU gibt es einen breiten Konsens darüber, dass diese strengeren Regeln, die echte Meinungsfreiheit ohne Angst vor Hass und Übergriffen ermöglichen, umgesetzt werden. Eine starke Durchsetzung wird in den kommenden Jahren entscheidend sein für den Erfolg des Gesetzes.

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