„Haus des Schreckens“Sexuelle Gewalt in evangelischem Internat wurde über Jahrzehnte verschwiegen

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Gebäude Innen und Aussen (Postkartenmotiv) Martinstift, Moers.

Historische Ansichtskarte des Martinstifts in Moers aus dem Bildarchiv des Diakonischen Werks

Kirchliche Institutionen haben schweren sexuellen Missbrauch am Martinstift in Moers über Jahrzehnte verschwiegen und verdrängt.

Eine Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) legt eine Kontinuität von sexualisierter Gewalt und deren Vertuschung im Raum der Kirche von den 1950er Jahren bis in die jüngere Vergangenheit sowie ein massives Institutionen-Versagen offen. Wissenschaftler der Bergischen Universität Wuppertal und der Fachhochschule Potsdam untersuchten Vorgänge aus den 1950er Jahren am Martinstift in Moers, einem 1969 geschlossenen Jungeninternat für rund 70 Schüler des dortigen Gymnasiums Adolfinum.

Früherer Heimleiter: 1956 wegen „Unzucht“ zu acht Jahren Haft verurteilt

Unter dem 1956 wegen „Unzucht“ zu acht Jahren Gefängnis verurteilten Heimleiter Johannes Keubler war es in der von der „Inneren Mission“, der Vorgänger-Organisation der Diakonie, getragenen Einrichtung zu Gewaltexzessen jeglicher Art gekommen. Als erste regionale Untersuchung ist die Studie eine Pionierarbeit im Bereich der EKiR. Sie arbeitet heraus, dass die Opfer im Alter zwischen zehn und 20 Jahren keinerlei Unterstützung vonseiten des Trägers, der Kirchenleitung oder auch der Gemeinde vor Ort erfuhren. Vielmehr sei das einzige Interesse der Verantwortlichen darauf gerichtet gewesen, öffentliches Aufsehen zu vermeiden und Keublers Gewaltregime schnellstmöglich vergessen zu machen.

Dies gelang so vollständig, dass die Geschehnisse von damals den heute Verantwortlichen in Kirche und Diakonie erst durch eine Meldung Betroffener im Jahr 2019 bekannt wurden. Es habe vollständig an einem „institutionellem Gedächtnis“ gefehlt, sodass die Aufarbeitung der Taten und die Zuwendung zu den Opfern von einst über 60 Jahre ausblieben, erläuterten die Macher der Studie.

Die Opfer wurden ein Leben lang allein gelassen

Schon Konzeption und Betrieb des Martinstifts mit fachlich unzureichend oder gar nicht ausgebildetem Personal seien in keiner Weise tragfähig gewesen, monierte der Betroffenenvertreter Gerhard Stärk. Die Verhältnisse hätten sich nach Keublers Entlassung und Verurteilung keineswegs geändert. Das Versprechen einer Ausbildung und Erziehung junger Menschen im christlichen Geist sei an keiner Stelle erfüllt worden. Weder von staatlicher noch von kirchlicher Seite habe sich irgendjemand je dafür interessiert, wie die Insassen des Martinstifts behandelt wurden. Die Opfer seien „ein Leben lang allein gelassen worden“.

Der Vize-Präses der EKiR, Christoph Pistorius, bekannte sich im Namen aller beteiligten Institutionen zu deren Schuld und bat die Betroffenen um Verzeihung. „Dass auch nach dem Gerichtsprozess die Kinder und ihre Familien alleine gelassen wurden, ist durch nichts zu rechtfertigen und unverzeihlich.“ Die Opfer hätten „ein Recht auf Aufarbeitung“, betonte Pistorius. Die Kirchenleitung wolle nun Anfang Mai über Konsequenzen aus der Studie beraten.

Forscher sieht bis heute „verblüffende Ähnlichkeiten“ in Gewaltkonstellationen

Der Pädagogik-Professor Fabian Kessl sagte bei der Vorstellung der Studie in Moers, die Ereignisse von damals dürften nicht einfach als „historische Spezifik abgelegt“ werden. Vielmehr gebe es „verblüffende Ähnlichkeiten“ in den Gewaltkonstellationen, die auf Logiken und Bedingungen hinwiesen, wie sie bis heute zu finden seien. Dazu zählten die Ausnutzung des Vertrauens von Kindern und Jugendlichen und ihrer asymmetrischen Beziehung zu für sie verantwortlichen Erwachsenen oder auch der Ausfall von Aufsicht und Kontrolle.

Der offenkundige Schock in der Ortsgemeinde über die Verbrechen am Martinsstift zeige, dass viele Menschen immer noch nicht mit der Möglichkeit sexualisierter Gewalt im eigenen Lebensbereich rechneten, betonten die Wissenschaftler.

Schweigen über „Haus des Schreckens“ nach Jahrzehnten beendet

Die Betroffenenvertreter Stärk und Michael Nollau zeigten sich dankbar und erfreut, dass auf ihre Initiative hin ein Jahrzehnte währendes Schweigen über das Martinstift als „Haus des Schreckens“ beendet worden sei. Eigene Nachforschungen seien von der Kirche vorbehaltlos unterstützt worden, einschließlich des ungehinderten Zugangs zu vorhandenem Archivmaterial.

Andererseits zeige die Entschädigungspraxis der evangelischen Kirche, dass man „seit 70 Jahren nichts gelernt“ habe. Sogenannte Wiedergutmachungen erfolgten „anonym“, das heißt ohne persönliche Ansprache mit der „wortlosen Überweisung“ eines Geldbetrags auf ein Bankkonto.

Dazu erklärte Pistorius, er wolle diese Kritik an die zuständige Kommission für die Gewährung von Anerkennungsleistungen herantragen.  In die Arbeit wolle sich die Kirchenleitung zwar nicht einmischen. Wenn es aber Anfragen an den Umgang mit den Betroffenen und die Kommunikation gebe, sehe er Gesprächsbedarf. „Der Ball liegt bei uns.“*

Weiter forderte Stärk, die Kirche solle einen Lehrstuhl für Missbrauchsstudien an einer sozialpädagogisch orientierten FH und eine Schiedsstelle für Betroffene einrichten sowie eine Berufshaftpflicht für kirchliche Träger zur Finanzierung etwaiger Entschädigungen festlegen.

* Die aktualisierte Version des Beitrags nimmt eine ergänzende Stellungnahme von Vizepräses Christoph Pistorius auf, die deutlich macht, dass das Verfahren für die Entschädigung auf der Ebene der Landeskirche angesiedelt ist, nicht bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

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