Recht auf WohnenUnantastbare Würde? Für knapp 50.000 Menschen in NRW Fehlanzeige

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Obdachloser schläft im Vorraum nachts in einer Filiale der deutschen Bank

Für einige Obdachlose in Köln ist der Vorraum einer Bank das einzige Dach über dem Kopf, das sie kennen.

Die schwarz-grüne Landesregierung plant das Recht auf Wohnen in der NRW-Verfassung zu verankern. Ein überfälliger Schritt oder teure Sozialromantik mit schwer abschätzbaren Folgen? Zwei Meinungen.

Artikel 1, Absatz 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und diese zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt; so steht es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

Ela Kaplan

Ela Kaplan

Praktikantin im Ressort Story/NRW. Im April 2023 beginnt sie ihr Jura-Studium.

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Soweit, so klar. Die Frage inwiefern dieser Pflicht im alltäglichen Leben auch nachgekommen wird, stellt sich schnell, wenn wir uns beispielsweise die Wohnsituation in Deutschland genauer ansehen: Laut Bundesregierung leben derzeit rund 263.000 tausend Menschen ohne festen Wohnsitz in Deutschland, etwa jeder Fünfte davon in NRW. Tendenz steigend. Und das, obwohl Deutschland eines der reichsten Länder der Welt ist. Für über eine Viertelmillion Menschen bedeutet die Wohnungslosigkeit eine riesige soziale Notlage, die ein ganzes Bündel an Menschenrechten, wie etwa das der Privatsphäre und des Schutzes der Familie, beeinträchtigt. Unantastbare Würde? Für knapp 50.000 Menschen in NRW Fehlanzeige.

Wohnen ist in NRW für eine wachsende Zahl an Menschen kaum bezahlbar

Dazu kommt: Wohnen in NRW ist für eine wachsende Zahl an Menschen kaum mehr bezahlbar, ohne dass andere Grundbedürfnisse wie Ernährung und Gesundheit darunter leiden. Die europäische Obdachlosenorganisation Feantsa sagt dazu, dass in Deutschland rund die Hälfte der als arm eingestuften Haushalte mehr als 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für das Wohnen aufwendet. Im europaweiten Vergleich belegt Deutschland damit bei der Belastung mit Wohnkosten einen Spitzenplatz.

Der rasante Mietpreisanstieg wird meistens dem Bevölkerungswachstum in den Städten und dem fehlenden Neubau zugeschrieben; das ist zwar grundsätzlich nicht falsch, erfasst aber leider nicht die Tiefe der eigentlichen Gründe.

Mieter wurden verstärkt dem freien Markt und dessen Profitinteressen ausgesetzt

Seit den 1980er Jahren wurde der soziale Wohnungsbau schrittweise abgebaut, der Immobilienmarkt privatisiert, Mieter verstärkt dem freien Markt und dessen Profitinteressen ausgesetzt. Und die Folgen sind fatal. Wer wissen will, wie es besser gehen kann, der wirft beispielsweise einen Blick nach Finnland: Dort ist es jüngst gelungen, die Obdachlosigkeit weitgehend zu beenden. Gab es dort in den 1980er Jahren noch rund 20.000 obdachlose Menschen, so ist ihre Zahl gegenwärtig auf weniger als 4000 zurückgegangen. Bis 2027 soll dort niemand mehr ohne eine Wohnung sein.

Als obdachlos gelten dabei in den finnischen Statistiken auch diejenigen, die bei Verwandten oder Bekannten unterkommen, aber keine eigene registrierte Adresse haben. Diese Gruppe macht rund 70 Prozent aus.

Finnland hat es vorgemacht mit dem Grundrecht Wohnen

Die Bemühungen im Kampf gegen die Obdachlosigkeit machen in Finnland an Parteigrenzen nicht Halt. Als während eines kalten finnischen Winters viele auf der Straße lebenden Menschen erfroren, löste das eine gesellschaftliche Debatte im ganzen Land aus. Das Ergebnis war der parteiübergreifende Entschluss, dass Wohnen ein Grundrecht sein soll.

Die Bemühungen der verschiedenen Regierungen und Koalitionen über die Jahre hinweg, jeder Person in Finnland eine Wohnung zuzusichern, führten schlussendlich zu der seit 2008 angewandten Housing-First-Strategie. Der Gedanke dahinter: Nur wer eine geschützte Wohnung hat, kann Kraft sammeln und Probleme lösen. Anders als bei der traditionellen Obdachlosenhilfe, bei der sich Obdachlose erst für eine Wohnung ,,qualifizieren" müssen, indem sie vorher Probleme beheben, die zur Wohnungslosigkeit geführt haben.

Junge Menschen, Senioren, Familien, Flüchtlinge - alle müssen ein Recht auf bezahlbares Wohnen bekommen

NRW kann und muss von Finnland lernen. Die geplante Verankerung des Rechts auf Wohnen in der NRW-Verfassung ist deshalb ein richtiger Schritt. Jeder Mensch muss ein einklagbares Recht auf ein Zuhause haben. Und zwar auf eines, das bezahlbar ist. Junge Menschen in der Ausbildung ebenso wie Menschen mit niedrigerem Einkommen, große Familien oder Senioren, die fürchten müssen am Ende ihres Erwerbslebens ihre Heimat verlassen zu müssen, weil die Miete mit einer normalen Rente unbezahlbar zu sein scheint, diskriminierte Menschen mit ausländisch klingenden Namen genauso wie Flüchtlinge. Damit jeder in NRW ein angemessenes Zuhause hat. Und damit ein Leben in Würde. Erst dann gilt für alle: Die Würde des Menschen ist unantastbar (Artikel 1, Absatz 1).

Ela Kaplan, 18, ist Praktikantin im Ressort Story/NRW. Im April beginnt sie ihr Jura-Studium.


Die Idee vom „Recht auf Wohnen“ klingt verlockend, sind doch die Wohnkosten vielleicht der größte wirtschaftliche Hemmschuh der privaten Haushalte geworden. Doch der Ruf nach einem „Recht auf Wohnen“ hat viel mit einem Lied der Toten Hosen zu tun. Es trägt den Titel: „Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft“.

Thorsten Breitkopf

Thorsten Breitkopf

Chef der Wirtschaftsredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Der Rheinländer hat die Position 2019 übernommen. Breitkopf kommt von der „Rheinischen Post“ in Düsseldorf, wo er als Wirtschaftsredakteur ar...

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Um eine Enttäuschung vorweg auszusprechen: Das Lied ist ironisch gemeint. Wie erfolgreich staatliche Pauschal-Rechte in der Realität sind, zeigt ein aktuelles Beispiel aus NRW. Gemessen am Bedarf fehlen laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung in NRW 102.000 Kita-Plätze. Hunderte Eltern demonstrierten in dieser Woche in Münster gegen diesen Missstand. Denn ihre Kinder haben keinen Kita-Platz. Seltsam, denn seit 2013 haben Kinder in NRW das Recht auf einen solchen. Nur hilft das Recht nicht, wenn 25 000 Erzieherinnen fehlen und es angesichts der mickrigen Löhne auch kaum Anreize gibt, diesen Job zu ergreifen.

Ideologiegetriebene Ideen funktionieren nicht, das zeigt auch ein Blick in die ehemalige DDR

Das Recht auf Wohnen ist Sozialromantik. Dass solche ideologiegetriebenen Ideen nicht funktionieren, zeigt der Blick in die eigene Geschichte. Wohnungsbau war in der DDR Teil der staatlichen Planwirtschaft. Die Mieten wurden auf dem Stand von 1936 eingefroren, sie betrugen durchschnittlich drei Prozent des Haushaltseinkommens. Die Zuweisung einer Wohnung erfolgte durch eine staatliche Kommission. Die Plattenbauweise entwickelte sich zum vorherrschenden Neubautyp.

Für die Stadtentwicklung hatte die Konzentration auf den Neubau am Stadtrand gravierende Folgen: Die Innenstädte verfielen, die Wohnbevölkerung konzentrierte sich in den Neubaugebieten, Folgeprobleme durch fehlende Infrastruktur und hohe Aufwendungen für Verkehr entstanden.

Der Staat ist kein guter Wohnungsvermieter: Zur Wiedervereinigung war etwa jede vierte Wohnung dringend renovierungsbedürftig, zirka eine Million Wohnungen galten als nicht mehr sanierungsfähig. Auch im „freien“ Westen lief es nicht rund. Die „Neue Heimat“ war die Idee, dass die mächtigen Gewerkschaften einfach selbst bezahlbaren Wohnraum schaffen. Das ging gewaltig schief. Das Gewerkschaftsmanagement bereicherte sich, die Wohnungen verwahrlosten, ein Verkauf scheiterte und am Ende forderten die Gläubiger der Pleite-Heimat vom DGB gigantische drei Milliarden D-Mark für den riesigen Schuldenberg. Wohlgemerkt, da waren die Häuser schon weg.

Der Weg, die Wohnmisere zu beheben: Mehr Wohnungen bauen, damit das Angebot zur Nachfrage passt und die Mieten sinken. Das kann am besten ein privater Vermieter. Er hat ein Interesse an zufriedenen Mietern, sonst hat er keine Einnahmen. Deshalb hält er die Häuser in Schuss.

Recht auf Wohnen kommt einer Enteignung gleich

Ein Recht auf Wohnen – auf Kosten privater Vermieter – kommt einer Enteignung gleich. Es wäre auch gar nicht zielführend. Wenn das Recht auf Wohnen mit einem Einkommensverzicht der Vermieter einherginge, dann würden nicht mehr Wohnungen entstehen, sondern eben weniger. Denn zum Bau oder zur Instandsetzung von Wohnraum bestünde kein Anreiz. Damit Vermieter bauen, braucht es keine ideologischen Träumereien, sondern einen Bürokratieabbau, schnellere Baugenehmigungen und nicht immer neue Auflagen bei Neubau und Renovierung. Nur so können möglichst viele in NRW bezahlbar wohnen.

Thorsten Breitkopf (45) ist Diplom-Kaufmann und Wirtschaftsressortchef. Er sagt: „Besser Bürokratie ab- als Ideologie aufbauen“.

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