Interview zum Lehrkräftemangel„Ich würde niemals davon abraten, diesen Beruf zu ergreifen“

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Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands

Heinz-Peter Meidinger, bis Juni 2023 Präsident des Deutschen Lehrerverbands

Heinz-Peter Meidinger war bis Juni Präsident des Deutschen Lehrerverbands und spricht über die Rolle des Quereinstiegs für den Lehrkräftemangel.

Herr Meidinger, Untersuchungen auch Ihres Deutschen Lehrerverbands zeigen, dass die Ursachen für den Lehrkräftemangel komplex sind. Welche sind die wichtigsten?

Vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachkräftemangels zählt der Beruf der Lehrkraft zu den Verliererberufen – nur noch sieben Prozent aller Studienanfänger streben ein Lehramt an, das ist ein historischer Tiefststand. Die Vorstellungen von dem, was man später einmal machen möchte, haben sich im Vergleich zu früheren Generationen geändert: Einen Beruf zu ergreifen, der im Idealfall sogar einer Berufung entspricht, der man sein Leben lang folgt – das passt nicht mehr zur Erwartungshaltung vieler junger Menschen heute. Die wollen Flexibilität, Durchlässigkeit zu anderen Berufsfeldern, umfangreiche Weiterqualifikationsmöglichkeiten. Hinzu kommt, dass vieles, was einst mit dem Lehrerberuf verbunden wurde, wie etwa die Sicherheit des Arbeitsplatzes seine Exklusivität verloren hat. Auch in der Wirtschaft kommt heute man jungen Arbeitnehmern erheblich mehr entgegen, etwa bei der Teilzeit und Karriereplanung.

Spielen auch Erfahrungen aus der Pandemie eine Rolle?

Homeoffice kann der Lehrerberuf nicht bieten – die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, ist nach Auskunft der Arbeitsagenturen aber heutzutage ein wichtiges Kriterium bei der Berufswahl. Auch gibt es an Schulen keine Betriebskitas, und zunehmend wird der Beruf der Lehrkraft als Einbahnstraße gesehen. Es wird unterstellt, dass man am letzten Berufstag dieselbe Tätigkeit ausübt wie am ersten, was ich zwar bestreiten würde. Aber vielen fehlt die Karriereperspektive – selbst die Übernahme einer Schulleitung wirkt nicht attraktiv angesichts des relativ geringen Mehrverdienstes.

Was muss geschehen?

Wir müssen dringend eine grundsätzliche Diskussion über die Modernisierung des Berufsbildes führen. Das ist eine Gratwanderung: Wir vom Lehrerverband wollen auf keinen Fall, dass es zu einer Entprofessionalisierung kommt. Gerade beim Quereinstieg droht eventuell ein Szenario wie in den Vereinigten Staaten, dass man den Lehrkraftberuf einige Jahre ausübt, bis man etwas Besseres gefunden hat. Dennoch: Der Beruf muss der Zeit angepasst werden, wir brauchen mehr Durchlässigkeit, eine breitere Palette von Qualifikationsmöglichkeiten, auch die Chance, für ein oder mehrere Jahre an die Uni oder in die Wirtschaft zu wechseln.

Um dann wieder zurückzukehren?

Als Schulleiter in Bayern habe ich die Erfahrung gemacht, dass Lehrkräfte, die im Rahmen eines Modellprogramms diese Chance ergriffen haben, einerseits nach ihrer Rückkehr viele innovative Anregungen in den Schulalltag einbrachten, aber andererseits auch wieder wussten, was das Schöne am Lehrerberuf ist: die wunderbare Möglichkeit, mit jungen Leuten zu arbeiten. Und genau das gehört eben auch zur Diskussion über die aktuelle Lage – dass es einer der schönsten Berufe überhaupt sein kann, als Lehrerin oder Lehrer zu arbeiten, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Natürlich gibt es aktuell eine Mangelsituation, in der auch von den Lehrkräften mehr abverlangt wird – im Gegenzug muss aber die Politik bereit sein, Maßnahmen zu ergreifen, die den Beruf wieder attraktiver machen, etwa durch Entlastung bei Verwaltungsaufgaben und multiprofessionelle Teams. Wir brauchen letztendlich wieder mehr Zeit für unsere Schüler.

Noch einmal zurück zum Quereinstieg. Darauf setzt die Politik nun große Hoffnungen. Wie stehen Sie dazu?

Wir benötigen dringend Quereinsteigende – die Frage ist allerdings, wie anspruchsvoll und professionell diese nachqualifiziert werden. Lobenswert ist aus meiner Sicht das Modell in Sachsen, das auf eine Kombination aus komprimiertem Referendariat und berufsbegleitender Weiterqualifizierung setzt. Ein ein- oder zweiwöchiger Crashkurs bringt dagegen nichts – zumal die anschließende berufsbegleitende Weiterbildung häufig nicht stattfindet, weil die Lehrerausbilder fehlen. Dann muss man sich nicht wundern, wenn ein beträchtlicher Teil dieser Quereinsteiger nach kurzer Zeit auch wieder aussteigt.

Wer wählt den Quereinstieg in den Lehrberuf?

Zum einen sind es tatsächlich Personen, die ursprünglich Lehrerin oder Lehrer werden wollten, aber diesen Wunsch nicht verwirklichen konnten. Für sie eröffnet sich nun eine zweite Chance. Und es sind natürlich auch viele dabei, die in ihrem bisherigen Beruf nicht besonders glücklich waren, egal welche Gründe dafür ursächlich sind. Und es gibt diejenigen, die das relativ gute Anfangsgehalt lockt.

Nun haben Sie eben beschrieben, dass es oft an Rahmenbedingungen fehlt, die den Beruf attraktiver machen könnten. Wieso sollten sich aber ausgerechnet Quereinsteigende zu einem solchen Berufsfeld hingezogen fühlen?

Natürlich müssen wir als Lehrerverband Missstände anprangern: dass die Digitalisierung sozusagen nebenbei laufen soll, dass es an Unterstützungspersonal wie Sozialarbeitern und Schulpsychologen fehlt, dass die Unterrichtsbelastung im internationalen Vergleich zu hoch ist. Auf der anderen Seite handelt es sich um einen Beruf, der außerordentlich befriedigend sein kann. Wenn Sie unter Lehrkräften fragen, ob sie ihn wieder ergreifen würden, dann ist der Prozentsatz immer noch überdurchschnittlich hoch, die das bejahen. Insofern würde ich niemals davon abraten, diesen Beruf zu ergreifen. Allerdings ist es höchste Zeit, dass die Politik die Rahmenbedingungen verbessert, damit wieder mehr junge Menschen diesen an sich schönen Beruf ergreifen, einen Beruf, der nicht in Routine erstarrt, der äußerst kommunikativ ist und sehr nah dran ist an gesellschaftlichen Entwicklungen.

Die Alternativmöglichkeiten sind reichhaltiger geworden

Müsste sich auch an der Lehrkräfteausbildung etwas verändern?

Die Abbrecherquoten nehmen zu, was unter anderem damit zusammenhängt, dass die Alternativen verlockender geworden sind. Man hat also noch während des Studiums – gerade beim Bachelor-Master-System – Umstiegsmöglichkeiten in andere Studiengänge und Berufe, die attraktiv sind. Dennoch waren in der Vergangenheit beim Lehramt die Abbruchzahlen eher unterdurchschnittlich. Auch die Quoten derer, die bei den Prüfungen durchfallen, sind gering. Unser Eindruck ist aber, dass es die Bindung an den Berufswunsch mindert, wenn das Studium nicht mehr eindeutig an Abschlüsse für eine Grundschul-, Berufsschul- oder Gymnasiallaufbahn gebunden ist und in manchen Ländern völlig unklar ist, an welcher Schulart man nach dem Studium landet.

Es gibt nun auch die Möglichkeit des dualen Studiums, in dessen Rahmen nicht nur Praktika absolviert, sondern vom ersten Semester an Tage an der Schule verbracht werden.

Damit verbindet die Politik die Hoffnung, dass man diese Studierenden sofort im Unterricht einsetzen kann – doch man muss meines Erachtens erst gründlich darüber nachdenken, wie die geeignete Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis aussehen könnte. Duales Studium ist wohl auch nicht für jedes Lehramt geeignet, meiner Ansicht nach eher bei Grundschule oder Berufsschule und weniger beim Gymnasium. Man sollte auch nicht jeden Erstsemester direkt in den Unterricht werfen und auf die Schülerinnen und Schüler loslassen, selbst dann nicht, wenn großer Lehrkraftmangel besteht. Das bereitet mir Bauchschmerzen. Man schickt ja auch nicht ein Medizin-Erstsemester direkt in den OP zum Operieren.

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