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Bummel-Justiz
Drogendealer aus Leverkusen freigelassen, weil Gericht das Urteil nicht geschrieben hat

Lesezeit 4 Minuten
Der Aktenberg wächst an: Die Gerichte in NRW sind überlastet.

Die Gerichte in NRW sind überlastet.

Der Mann wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Weil das Gericht aber neun Monate keine schriftliche Urteilsbegründung schickte, kam er auf freien Fuß.

Mehmet B. (Name geändert) kann sich glücklich schätzen. Der Deutsch-Türke, im vergangenen Jahr wegen Kokainhandels zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, ist am 5. Juni freigekommen. Das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf hat nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ den Haftbefehl gegen den Endvierziger aus Leverkusen wegen überlanger Verfahrensdauer aufgehoben. Der Grund klingt absurd: Selbst neun Monate nach der Verurteilung war dem mutmaßlichen Großdealer die Entscheidung vom Gericht entgegen den Vorschriften nicht schriftlich zugeschickt worden. So habe „das Verfahren eine längere Verzögerung erfahren, für die eine sachliche Rechtfertigung nicht erkennbar ist“, heißt es in dem OLG-Beschluss zur Freilassung.

Der Fall dokumentiert einen Justizskandal, der vom 20. August 2024 an seinen Lauf nimmt. An jenem Tag verurteilt eine Große Strafkammer des Landgerichts Wuppertal Mehmet B. und fünf Komplizen zu hohen Haftstrafen wegen bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln. Der Deutsch-Türke soll in zwei Fällen mit insgesamt 40 Kilogramm Koks gedealt haben. 

Urteil muss schriftlich zugestellt werden

Zum Zeitpunkt des Schuldspruchs saß Mehmet B. bereits seit 20 Monaten in Untersuchungshaft. Bei U-Haft aber gilt das sogenannte Beschleunigungsgebot. Dies verlangt von den an der Strafverfolgung beteiligten Behörden, die Verfahren mit „größtmöglicher Beschleunigung“ durchzuführen. Denn das „Übel“ der Freiheitsberaubung darf der Rechtsstaat aufgrund des Grundgesetzes nur Personen zumuten, die wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt worden sind. Wird jemand wie bei der Untersuchungshaft aber nur verdächtigt, ist eine Inhaftierung nur gerechtfertigt, wenn die Staatsorgane das Strafverfahren mit „größtmöglicher“ Beschleunigung durchführen. Sie müssen „alles in ihrer Macht Stehende“ tun, um „so schnell wie möglich“ die Ermittlungen abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen

Im Fall von Mehmet B. jedoch wurde das Urteil bisher noch nicht rechtskräftig, weil das Gericht dafür zwingend vorgeschrieben Formalien nicht eingehalten hat: Das Urteil und das Protokoll der Gerichtsverhandlung müssen den Betroffenen schriftlich zugestellt werden. Weil dies aber bis heute nicht geschehen ist, legte Peter Krieger, der Anwalt des Drogendealers, im Februar dieses Jahres Haftbeschwerde beim OLG ein.

Im Juni die sofortige Freilassung verfügt

Obwohl der Vorsitzende der Wuppertaler Strafkammer tags darauf eine zügige Übermittlung des Urteils nebst Hauptverhandlungsprotokoll zusicherte, kamen die Unterlagen nicht. Nachdem sie die Übermittlung der Papiere erneut erfolglos anmahnten, platze den OLG-Richtern schließlich der Kragen. Im Juni dieses Jahres verfügten sie die sofortige Freilassung von Mehmet B.. „Der Zeitraum zwischen Absetzung des schriftlichen Urteils und der Protokollfertigstellung beträgt inzwischen länger als sechs Monate“, heißt es in dem Beschluss. Die Verzögerung, für die es keinen vernünftigen Grund gebe, sei umso bedenklicher, da Peter Krieger, der Anwalt des Beschuldigten, längst schon Revision gegen die zehnjährige Haftstrafe einlegen wollte.

Da half es auch nicht, dass das Wuppertaler Bummel-Gericht eine hohe Arbeitsbelastung durch ein anderes Großverfahren anführte. Die Überlastung eines Gerichts sei kein Grund für eine weiterlaufende Untersuchungshaft, so das OLG. Dem Angeklagten könne nicht zugemutet werden, „eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsmäßigen Ausstattung der Gerichte zu genügen“.

Staatsanwaltschaften und Gerichte sind überlastet

Dieser Satz spart nicht mit Kritik am NRW-Justizsystem. Nicht nur, dass hunderte Stellen bei der Staatsanwaltschaft fehlen. Durch zahlreiche erweiterte Aufgaben stöhnen die Strafgerichte über zunehmende Arbeitsbelastung. Allein durch die Masse an zusätzlichen Drogenverfahren nach der Entschlüsselung der Krypto-Software Encrochat und Sky ECC türmen sich die Aktenberge bei der Justiz.

Bereits 2023 meldeten die NRW-Gerichte in 105 Fällen eine Überlastungsanzeige. Laut einer Antwort der Landesregierung auf eine FDP-Anfrage blieben mehr als 88 Stellen bei den Gerichten offen. Zudem fehle jede Menge Personal „im Bereich der Unterstützungskräfte“, kritisiert Gerd Hamme, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes in NRW.

Elf Tatverdächtige mussten in NRW seit 2022 wegen zu langer Verfahren freigelassen werden

„Die Personallücken bei Rechtspflegerinnen, Rechtspflegern und Servicekräften führen insgesamt auch zu einer zu langsamen Arbeitsweise der Justiz in NRW.“ Das Land werde „die nötigen personellen Aufstockungen aus eigenen Mitteln voraussichtlich nicht allein stemmen können“. Deshalb sei es wichtig, dass die Bundesregierung den zugesagten „Pakt für den Rechtsstaat“ wiederbelebe „und die Justiz in den Bundesländern spürbar unterstützt“, so Hamme.

So könnten seiner Einschätzung nach nicht nur die Personalprobleme gelöst, sondern auch dringend notwendige Investitionen in die Digitalisierung ermöglicht werden. Die Entwicklung von elektronischen Gerichtsakten und elektronischem Rechtsverkehr sei in Nordrhein-Westfalen zwar weit vorangeschritten. „Tatsächlich sind hier jedoch noch erhebliche Investitionen erforderlich, um ein beschleunigtes, zeitgemäßes digitales Gerichtsverfahren für die Bürgerinnen und Bürger anzubieten“, so der Richterbund-Vorsitzende.

Dass diese Investitionen derzeit nur ein Wunschtraum sind, hat verheerende Folgen. Auf Anfrage räumte das NRW-Justizministerium ein, dass zwischen 2022 und 2024 elf Tatverdächtige wegen überlanger Verfahrensdauer aus der Untersuchungshaft entlassen werden mussten. Der Fall des mutmaßlichen Großdealers Mehmet B. wurde in der ministerialen Auflistung noch nicht erwähnt.