Streiks in NRWApotheker und Ärzte wollen protestieren, „bis ein Umdenken in der Politik eintritt“

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Plakate und Transparente sind bei der zentralen Kundgebung für den Apotheken-Protest zu sehen.

Apotheker-, Hausarzt-, und Zahnarztverbände haben zum gemeinsamen Protesttag aufgerufen. Zusammen wollen sie auf Missstände in der ambulanten Gesundheitsversorgung aufmerksam machen.

Im Protest gegen die Gesundheitspolitik der Bundesregierung üben Apotheken und Hausärzte den Schulterschluss.

Wenn Thomas Preis das Bild der seiner Meinung nach schwierigen Zukunft ausmalen will, dann erklärt er die Situation der im Jahrgang 1964 Geborenen. „Die Menschen dieses geburtenstärksten Jahrgangs werden im kommenden Jahr 60 Jahre alt. Und dann beginnen viele chronische Erkrankungen mit häufigeren Apotheken- und Arztbesuche“, sagt Preis.

Zahl der Apotheken ist rückläufig

Der demografische Wandel droht in den nächsten Jahren zu einer immer stärkeren Belastung für das ambulante Gesundheitssystem zu werden. Auf der einen Seite ist da der fehlende Nachwuchs. Für das Apothekenwesen bedeutet das schon heute, dass die Zahl der Apotheken laut Apothekerkammer Nordrhein um sechs Prozent im Vergleich zu 2017 zurückgegangen ist. Auch in NRW schmelze der Bestand. „Wir müssen davon ausgehen, dass wir Ende des Jahres weniger als 3700 Apotheken haben werden.“ Vor zehn Jahren seien es noch 15 Prozent mehr gewesen.

Auf der anderen Seite steht die wachsende Zahl der Alten, die medizinischer Versorgung bedürfen. Nach Berechnungen des Apothekerverbandes führe dies in den kommenden zwei Jahrzehnten zu einem Anstieg bei den Arzneimittelabgaben von mehr als 30 Prozent. „Die verbleibenden Kolleginnen und Kollegen müssen also in Zukunft erheblich mehr Bürgerinnen und Bürger mit Medikamenten versorgen – und dies unter den widrigen Vorzeichen massiver Lieferengpässe bei Arzneimitteln und einem eklatanten Fachkräftemangel“, so Preis.

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Hinnehmen wollen die Apotheker diese Entwicklung nicht und haben sich am Mittwoch deshalb gemeinsam mit dem Hausarzt- und Zahnarztverband zu einem Protesttag in Dortmund getroffen. Preis‘ Worte künden von einem langen Atem: „Wir werden so lange demonstrieren, bis ein Umdenken in der Politik eintritt.“

Wer hat gestreikt?

Knapp 5000 Apotheker, Hausärzte, Zahnärzte und Medizinische Fachangestellte (MFA) kamen nach Polizeiangaben am Mittwochmittag nach Dortmund, um auf schlechte Arbeitsbedingungen, Unterfinanzierung, Personalmangel und Lieferengpässe aufmerksam zu machen.

Die entsprechenden Verbände aus NRW, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Hessen hatten zu einem Protest aufgerufen. Monika Baaken, Sprecherin des Hausärzteverbands Nordrhein, sagte: „Der Streik richtet sich an die Bundesregierung. Bisher hat sich in Berlin nichts bewegt.“ 

Wie waren Patienten betroffen?

Laut Preis blieben 3500 Apotheken in NRW geschlossen. „Wir wollen unseren Protest nicht Streik nennen“, sagt Hausärztin Elke Cremer aus Troisdorf. „Wir nennen es eine Fortbildung“. Währenddessen blieben die Türen von Apotheken und Praxen zu. Auch ans Telefon gehe dann niemand. Viele Beteiligte hätten sich laut Baaken zunächst aus Gründen der Patientenverantwortung gegen den Streik gesträubt.

Deswegen habe man sich darauf geeinigt, an einem Mittwoch von zehn bis mittags zu schließen und vorher in den Praxen eine Akutsprechstunde anzubieten. Ab 13 Uhr war der Bereitschaftsdienst wieder aktiv. Die Zeit, in der Patienten also weder Medikamente bekamen noch einen Zahn- oder Hausarzt sehen konnten, betrug drei Stunden. Für lebensbedrohliche Fälle war weiterhin der Notruf zuständig.

Warum streiken die Apotheken?

Die wirtschaftliche Lage vieler Apotheker habe sich enorm verschlechtert. Zehn Prozent der Kolleginnen und Kollegen bezeichnet Preis als akut gefährdet. Als Grund für die Schieflage nennt er die Arzneimittelpreisverordnung, die sich seit über zehn Jahren ungeachtet der Inflation nicht verändert habe. „Im Gegenteil: Zu Beginn des Jahres wurden die Honorare gar gekürzt, um die Krankenkassen zu entlasten.“

Auch die Lieferengpässe bei den Arzneimitteln kosteten die Apotheker bares Geld. Fast jedes zweite Rezept sei heute davon betroffen, um Patienten dennoch zu versorgen entstünden zusätzlich Kosten von monatlich etwa 3000 Euro pro Apotheke. Preis rechnet hoch: „Das sind im Jahr etwa 36.000 Euro pro Apotheke, NRW-weit insgesamt über 135 Millionen Euro und bundesweit mehr als 600 Millionen Euro pro Jahr.“

Wie reagiert das Bundesgesundheitsministerium?

Es sei „das gute Recht“ von Apothekerinnen und Apothekern, für bessere Honorare zu demonstrieren, schreibt das Ministerium auf Anfrage. Allerdings weise man darauf hin, dass die Honorare gemessen am Rekorddefizit von 17 Milliarden Euro, welches das Gesundheitsministerium in dieser Legislatur habe ausgleichen müssen, noch sehr hoch gewesen seien. Apotheker hätten „viel geleistet, wurden aber auch sehr gut vergütet in der Pandemie“. In einem Tweet antwortete Minister Karl Lauterbach (SPD) den Forderungen bereits im Juni: „Die Einkommen der Apotheker sind stetig gestiegen, gerade in der Pandemie.“ 

Problematisch sei die Versorgung mit Apotheken in strukturschwachen Räumen. Hier wolle Lauterbach deshalb Filialgründungen vereinfachen. Thomas Preis sieht in diesem Plan keinen adäquaten Lösungsansatz und spricht von „Apotheken light“. „Eine Apotheke ohne Apotheker kann die Belange einer immer älter werdenden Gesellschaft nicht abdecken. Das ist so, als würden Fluglinien ihre Kosten senken wollen, indem sie künftig ohne Pilot fliegen“, so Preis. Das Gesundheitministerium kontert: „Vielleicht sollten die Apotheker erst einmal den Gesetzentwurf abwarten, bevor sie auf die Straße gehen.“

Worüber beklagen sich die Hausärzte?

Früher, so sagt Elke Cremer aus Troisdorf, habe sie die Tätigkeit als Hausärztin mit Sinn erfüllt. Heute fühlt sie sich von der Politik im Stich gelassen und überfordert. Ihren Alltag dominiert das Gefühl, ihrer Arbeit nicht mehr gerecht zu werden, weder in administrativer Hinsicht noch den Patienten gegenüber. Eine Entlastung sieht die 60-Jährige auch in der Zukunft nicht. Eher eine weitere Zuspitzung der Lage. Das liege nicht nur am demografischen Wandel. „Zudem hat die Pandemie die Menschen verunsichert“, so Cremer. Patienten suchten ärztlichen Rat viel schneller als früher.

Wieso übernehmen immer weniger junge Ärzte eine Praxis?

Dem erhöhten Patientenaufkommen stehen immer weniger Hausärzte gegenüber. „In Nordrhein sind 600 Hausarztsitze gerade nicht besetzt“, sagt Cremer. Bei den übrigen Praxen führe das zu Überforderung und Aufnahmestopps. „Die Versorgung in den ländlichen Gebieten bricht langsam weg.“ Das liege auch daran, dass es zu wenig Nachwuchs gibt, sagt die Hausärztin. Für junge Menschen lohne es sich finanziell kaum noch, eine Praxis zu übernehmen.

Die Honorarentwicklung sei deutlich unter der Kostensteigerung geblieben. Das liege an der festgelegten Budgetierung. Nur einen bestimmten Anteil ihrer Leistung bekämen Hausärzte zu einem festgelegten Preis bezahlt. Alles, was darüber hinaus stattfinde, werde zu weniger als 20 Prozent des ursprünglich vereinbarten Gehalts vergütet. 

Neben der steigenden Patientenzahl werde auch die bürokatische Belastung aufwendiger. „Wir Ärzte müssen sinnlose Verwaltungsarbeit leisten.“ Vom Bund fordert sie, den Verwaltungsaufwand einer Prüfung zu unterziehen und auf das zu reduzieren, was wirklich nötig ist.

Wie kann die Digitalisierung helfen?

Die Digitalisierung der Hausarztpraxen hält Elke Cremer grundsätzlich für sinnvoll. „Doch leider funktioniert das alles noch nicht so richtig.“ Cremer beschwert sich darüber, dass den Ärzten die Digitalisierung häufig einfach übergestülpt werde. Es werde verlangt, dass man mit Programmen arbeite, die noch keinem Praxistest unterzogen wurden und ständig abstürzten. Baaken: „Die Digitalisierung sollte eine Erleichterung sein, doch wir haben in der Telemedizin kaum praxisnahe Lösungen. Das führt eher zu erhöhtem Aufwand als zu Erleichterung.“

Was wünschen sich die streikenden Ärzte von der Politik?

Von der Politik wünscht Cremer sich Wertschätzung. Die zeige sich auch in finanzieller Hinsicht. Zudem solle die Politik den Hausärzten besser zuhören. Verbesserungskonzepte lägen dem Bund bereits seit einer Weile vor. Zudem muss laut Baaken das Abrechnungssystem der Krankenkassen optimiert werden, sodass gut ausgebildete MFAs besser bezahlt werden und auch mehr Aufgaben in der Praxis übernehmen können. 

Was sagen die Krankenkassen?

Die AOK Rheinland/Hamburg hat grundsätzlich Verständnis für die Unzufriedenheit. Die Forderung nach Honorarerhöhung sei nach zehn Jahren „nachvollziehbar“, schreibt eine Sprecherin auf Anfrage. Dies müsse jedoch finanziell kompensiert werden, die Krankenkasse selbst könne dafür nicht aufkommen. „Eine Kompensation durch die Politik könnte zum Beispiel durch eine Absenkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel, die Gültigkeit des sogenannten Erstattungsbetrags rückwirkend zum ersten Tag der Zulassung oder die Beibehaltung des Herstellerabschlags bei zwölf Prozent erfolgen.“

Der Verband der Ersatzkassen schreibt auf Anfrage, man halte die Protestaktionen für „nicht angemessen“. Man weist darauf hin, dass Apotheken in den vergangenen Jahren sogar Verdienstmöglichkeiten hinzugewonnen hätten. Darunter fielen zum Beispiel Botenleistungen und Impfungen. Im Übrigen stellten sich die Ersatzkassen vor allem auf die Seite der Versicherten, deren Versorgung gewährleistet sein müsse.

Wie steht das NRW-Gesundheitsministerium zur Kritik der Protestierenden?

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann steht auf Seiten der protestierenden Beschäftigten, Lauterbachs Pläne führten zum Verlust der wohnortnahen inhabergeführten Apotheke: „Das macht aus meiner Sicht keinen Sinn.“ Der Bund müsse die Rahmenbedingungen für diese Arbeit deutlich verbessern. „Die Apotheke vor Ort ist für die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung von großer Bedeutung und ein wesentlicher Baustein der wohnortnahen niederschwelligen Gesundheitsversorgung.“

Grundsätzlich stehe das Gesundheitssystem vor der Frage: „Wollen wir in erster Linie Mittelstand und Freiberuflichkeit oder wollen wir weitverzweigte Konzernstrukturen? Ich bin lieber im Dialog mit einer selbstständigen Apothekerschaft, die für mich ansprechbar ist, statt mit Konzernen.“

Das Land unterstütze die Zukunft der ambulanten Versorgung beispielsweise durch den Ausbau der Medizinstudienplätze in der Allgemeinmedizin, dem Hausarztaktionsprogramm und der Landarztquote.

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