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Star auf dem SchulflurWie ein Kölner Lehrer auf TikTok unfreiwillig Karriere macht

Lesezeit 7 Minuten
Rufai  Karakaya im Büro des Berufskollegs Südstadt. Er lächelt freundlich in die Kamera.

„Den Pausenhof versuche ich schon zu meiden. Da höre ich meinen Namen aus allen Ecken“, sagt Rufai Karakaya.

Herr Karakaya ist ein Star auf TikTok. Die Videos, die seine Schüler verbreiten, haben mehrere Millionen Aufrufe.

Als der kleine Mann mit dem Schnurrbart durch den Schulflur läuft, scharen sich seine Schüler um ihn wie Fans, die ein Autogramm wollen. Zwei Mädchen bleiben stehen, rufen seinen Namen, kichern und tuscheln, ein Junge zückt das Handy und filmt los, als gehe da Justin Bieber oder Billie Eilish vorbei. Aber es ist Dr. Rufai Karakaya, Lehrer für Politik und Wirtschaft am Berufskolleg Südstadt in Köln, der die Blicke auf sich zieht.

„Den Pausenhof versuche ich schon zu meiden. Da höre ich meinen Namen aus allen Ecken“, sagt Karakaya, während er in roter Strickjacke über weißem Hemd zum Klassenzimmer schlendert, in der linken Hand ein schwarzer Kasten mit Tragegriff, sein Aktenkoffer, den er immer dabei hat.

Wenn er das sagt, dann nicht etwa resigniert oder verärgert, sondern mit dem Augenzwinkern eines Entertainers, der sein Standing genießt. Als ihm ein Schüler entgegenkommt, fragt Karakaya: „Mein Lieber, in welche Richtung musst du? Hier lang? Gut, dann gehe ich da lang“, er deutet kurz den entgegengesetzten Laufweg an, dann lacht er auf.

Der Kölner Lehrer Karakaya ist deutschlandweit bekannt

Auf dem Videoportal TikTok ist Karakaya deutschlandweit bekannt. Die Videos haben zum Teil hunderttausende Likes und mehrere Millionen Klicks. Darin sieht man ihn tanzen, Witze reißen oder man sieht dabei zu, wie er bei Wettrennen mitmacht. Sein adretter Kleidungsstil kontrastiert mit dem Style der Schüler und lässt ihn in den Videos oft knuffig daherkommen.

„Es ist schon verrückt“, sagt Karakaya. „Als ich in Barcelona auf Klassenfahrt war, hat mich eine fremde Schülergruppe namentlich begrüßt. Ich habe sie gefragt, woher sie mich kennen. ‚Na, von TikTok.‘ “

Karakaya ist im Berufskolleg mit Schülern zu sehen.

„So, liebe Freunde...“  - Karakaya im Unterricht am Berufskolleg.

Fünfte Stunde. Politik. Karakaya stellt sich ans Whiteboard und beginnt zu schreiben. Seine Schüler schreiben mit. Einer sitzt in der letzten Reihe und isst ein Eis am Stiel. Andere reden durcheinander. Es ist einer der letzten Tage vor den Abschlussprüfungen. Thema: die Umweltpolitik.

„So, liebe Freunde...“. Karakaya spricht mit lauter Stimme gegen das Gemurmel an. „Kann es sein, dass Sie den Müll nicht richtig getrennt haben?“ Er geht zum anderen Ende des Raumes, seine Miene eher süffisant als vorwurfsvoll, reckt den schwarzen Mülleimer in die Luft und fischt ein Stückchen Papier heraus. Die Schüler lachen.

Laurentia weiß es zu schätzen, dass Karakaya den Unterricht mit Humor gestaltet. „Er macht Späße mit uns und nimmt sich selbst nicht so ernst“, sagt sie nach der Stunde. Viele sind noch kurz da geblieben, um ein paar lobende Worte über ihren Politiklehrer loszuwerden. Auch Elias, der sein Eis inzwischen aufgegessen hat: „Egal in welcher Stufe, Herr Karakaya war immer der beliebteste Lehrer.“ Ob er das bloß sagt, um Karakaya zu schmeicheln? Immerhin sitzt der ebenfalls im Raum.

Aber die Kommentare unter den TikTok-Videos fallen ganz ähnlich aus. „Wie kann man so ein cooler Lehrer sein?“, heißt es da. Oder: „Warum ist der so sympathisch? Mein Lehrer hat mich damals immer mit einem Schlüsselbund abgeworfen.“

Philologenverband NRW: Ein Drittel der Lehrer denkt über Jobaufgabe nach

Vermutlich träumen die meisten Lehrer davon, bei ihren Schülern beliebt zu sein, vielleicht nicht gleich als Berühmtheit auf TikTok, aber doch zumindest wertgeschätzt zu werden. Doch laut einer Umfrage des Philologenverbands NRW zweifeln Lehrer zunehmend an ihrer Arbeit. Danach denkt etwa ein Drittel der Lehrer in Nordrhein-Westfalen gelegentlich ernsthaft darüber nach, den Job aufzugeben. Fast jeder zweite Befragte sagt, er würde seinen Beruf nicht noch einmal ergreifen.

Fragt man Karakaya, was ihn von anderen Lehrern unterscheidet, setzt der gleich wieder seinen süffisanten Blick auf: „Über das, was andere Lehrer machen, möchte ich nichts sagen.“ Bei ihm müsse der Unterricht Spaß machen, sagt er. Es gebe da keine Geheimzutat. „Ich versuche, den Schülern auf Augenhöhe zu begegnen und ich respektiere sie. Und die Schüler spüren das.“ Vermutlich spüren sie das zwischen den Zeilen, wenn er sie mal wieder mit „Liebe Freunde“ anspricht. Aber vermutlich ist es auch mehr als das.

Eine Unterrichtsszene ist zu sehen, drei Mädchen sitzen in der Stuhlreihe, eine meldet sich.

„Ich versuche, den Schülern auf Augenhöhe zu begegnen und ich respektiere sie.“

Karakaya kommt aus einer kurdischen Familie und ist in Istanbul aufgewachsen. Damals war er Fan vom Fußballverein Galatasaray. Inzwischen unterstützt er lieber den 1. FC Köln. Die Fans machen weniger Radau, das findet er gut.

Er erinnert sich noch genau an seine Schulzeit. Insbesondere sein Mathelehrer ist ihm nie aus dem Kopf gegangen. „Vor dem hatten wir regelrecht Angst.“ Wer die richtige Antwort nicht wusste, wurde angeschrien. Er selbst wollte es immer anders machen und sich für die Belange der Schüler einsetzen.

Fast jeder Schüler hat eine Anekdote auf Lager, in der „Herr Karakaya“, wie sie ihn nennen, ihnen geholfen hat. Zum Beispiel Anna, die einmal ihr Mathebuch verloren hat. Karakaya besorgte ihr ein neues. Oder Miro, der kurz vor seinem Praktikumsstart eine Bescheinigung brauchte, die ein anderer Lehrer verpeilt hatte. Karakaya sprang rechtzeitig ein – und das, obwohl er eigentlich selbst Unterricht hatte.

Karakaya ist Vertrauenslehrer und erster Ansprechpartner für Schüler mit Migrationshintergrund

Seit 23 Jahren ist er Lehrer am Berufskolleg Südstadt, und genauso lange Vertrauenslehrer. Erst neulich wurde er mit fast hundertprozentiger Zustimmung von der Schülervertretung wiedergewählt. Er schlichtet Streits, kümmert sich darum, dass die Jugendlichen einen Aufenthaltsraum haben und ist vor allem für Schüler mit Migrationshintergrund der erste Ansprechpartner. „Wir haben viele Schüler türkischer Abstammung an der Schule“, erklärt Claudia Casu, die ebenfalls SV-Lehrerin ist. „Er kennt die Probleme des Landes. Er spricht die Sprache. Für sie ist er wirklich wie ein Onkel.“

Und da ist noch etwas, was Karakaya besonders macht: seine Gelassenheit. Denn nicht er selbst stellt Videos von sich ins Internet, sondern seine Schüler, einfach so, und ohne ihn vorher zu fragen. „Manche Kollegen haben mir gesagt, ich könnte sie anzeigen, aber nein, das mache ich nicht.“ Vielleicht weil er weiß, dass die Schüler ihm nicht auf der Nase herumtanzen, sondern ihn abfeiern, wenn er einfach mitspielt. In einem der ältesten TikTok-Videos mit ihm beginnt ein Schüler unvermittelt, ihn zu filmen. Karakaya registriert das und macht dann den „Dab“, eine Art Tanzfigur, bei der er den Kopf nach unten senkt und zugleich einen Arm hochhebt. Der Schüler lacht. „Bei uns war der immer sauer hahah“, steht in einem Kommentar unter dem Video. Heute jedenfalls wirkt er, als könnte nichts und niemand ihn aus der Ruhe bringen.

Die Videos stellen die Schüler auf TikTok, nicht der Lehrer

Nach der Politikstunde ist Karakaya der letzte, der aus dem Klassenraum geht. Er muss abschließen, logisch. Auf dem Flur wollen gleich wieder alle irgendetwas von ihm. Manche wollen ihm die Hand geben, andere wollen wissen, ob er sich noch an die Vertretungsstunde von damals erinnern kann, oder wann er für das nächste TikTok-Video bereitsteht. Eine Schülerin will wissen, welche Note sie bekommt. „Ich habe Sie seit September nicht mehr gesehen“, entgegnet Karakaya im Vorbeigehen. Nach einer kurzen Kunstpause, als könnte er es nicht übers Herz bringen, seine Schülerin im Ungewissen zu lassen, schiebt er hinterher: „Die gleiche Note wie im letzten Halbjahr.“

In seiner Mittagspause erzählt Karakaya, dass er schon froh ist, wenn die Schüler überhaupt zum Unterricht kommen. Und, dass die Zeiten sich geändert haben. „Viele Schüler fehlen so häufig, dass sie Probleme mit der Versetzung haben. Das war früher nicht so“, sagt Karakaya. Laut dem Lehrerverband NRW liegt das daran, dass die psychischen Probleme von Schülerinnen und Schülern zugenommen haben. Neben Nachwirkungen von Corona und Krieg in Europa spiele zudem Mobbing an Schulen eine große Rolle. An Berufsschulen kommt laut Karakaya zudem hinzu, dass viele Schüler volljährig sind, und sich ihre Fehlzeitenentschuldigungen selbst schreiben können.

Die Frage, was man dagegen tun kann, braucht man Rufai Karakaya nicht zu stellen. Denn der tut bereits alles, was in seiner Macht steht. Eigentlich könnte er seit drei Jahren in Rente sein, aber er hat bei der Bezirksregierung einen Antrag auf Dienstzeitverlängerung gestellt. Inzwischen ist er 69 Jahre alt und denkt auch für das kommende Schuljahr noch nicht ans Aufhören. „Solange ich gesund bleibe, mache ich weiter“, sagt Karakaya und nippt an seiner Cola.