Kommentar zum Offenen Brief an ScholzDer Klügere gibt nicht nach

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Ein Wohnhaus in Mariupol wird von einem Panzer beschossen. 

Der Klügere gibt nach. Diese Binsenweisheit ist unterm Strich die Botschaft eines Offenen Briefs an Bundeskanzler Olaf Scholz, die 28 Prominente unter der Federführung von Alice Schwarzer am Freitag über den Umweg Kanzleramt auch in die Ukraine geschickt haben. Nicht nur, dass Martin Walser, Ranga Yogeshwar, Juli Zeh und wie sie alle heißen, an der Realität vorbei schreiben. Nein, die Argumentation, falls überhaupt vorhanden, ist schlimmer noch purer Zynismus.

Frieden fordern die Verfasser – natürlich. Nur Waffen liefern wollen sie dafür nicht. Wenn es nach Schwarzer und ihren Unterstützern geht, sieht der Weg zum Frieden so aus: Die Ukraine kapituliert, weil der Westen ihr die Unterstützung versagt, und verliert dadurch mindestens Krim und Donbass. Dann werden russische Truppen, davon muss man angesichts des bisherigen Kriegsverlaufs und der faschistischen Worte aus Moskau rechnen, die neugewonnenen Gebiete „säubern“, wie sie es bereits in Butscha, Borodjanka und Mariupol getan haben.

Zu allem Überfluss wäre Transnistrien schlimmstenfalls plötzlich direktes russisches Grenzgebiet – und der Griff nach Moldau damit nur eine Frage der Zeit. Für Moskau hätte sich der Krieg gelohnt, warum sollte der Kreml den nächsten also nicht führen?  

Russland hat die Verhandlungen unmöglich gemacht

Diese Konsequenzen scheinen den Urhebern des Offenen Briefs jedoch ebenso egal zu sein, wie dass es bereits wochenlange, unerfolgreiche Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland gegeben hat. Die werden unterschlagen, dafür wird kräftig mit Weltkriegen und Atombomben gedroht. Lawrows Geraune aus deutschem Munde.

Tatsächlich gab es aber Verhandlungen. Sie sind gescheitert, weil Russland seinen Krieg nicht ohne Landgewinn beenden will. Es ist Russland, das sie zum Scheitern verdammt hat. Es ist Russland, das für den Krieg und das Leid verantwortlich ist. Für die Morde, Vergewaltigungen, Folter und Zerstörung. Für Butscha, Borodjanka und Mariupol.  

„Victim Blaming“ made in Germany

Es wirkt, als wollte man die Schuld für das Scheitern der bisherigen Verhandlungen der ukrainischen Regierung anhängen, und das ist dreist. „Victim Blaming“ müsste doch mindestens Schwarzer ein Begriff sein. Die Ukraine fordert lediglich, was sie fordern muss: den Rückzug aller russischer Truppen aus ihrem Hoheitsgebiet.

Wer vor diesem Hintergrund einen Diktatfrieden fordert, der möglicherweise auch noch in alter Tradition vom Westen durch unterlassene Hilfeleistung erzwungen und so zukünftige Konflikte nahezu garantieren würde, fordert also auch, dass die Ukraine sich ihrem vermeintlichen Schicksal und damit dem russischen Aggressor ergibt. Und das nur, damit man in Deutschland wieder ohne Kriegsangst in Ruhe schlafen kann.

Dass Putin über Atomwaffen verfügt, scheint für Schwarzer, Walser, Yogeshwar und Co jedenfalls gleichbedeutend mit völliger Unbezwingbarkeit zu sein. Aus Angst, selbst hineingezogen zu werden, opfert man dann eben auch mal ein Land – solang es nicht das eigene ist.  

Angst ist kein guter Ratgeber

Ein möglicherweise mit Atomwaffen geführter Weltkrieg, vor dem die Briefschreiber so dringlich warnen, hätte allerdings auch für Russland fatale Konsequenzen, an denen selbst der Kreml nicht interessiert sein dürfte. Russland wäre zum einen auf ewig Täterstaat, zum anderen würden die Folgen – infrastrukturelle und wirtschaftliche Zerstörung – das Land vollends in den Ruin treiben. Und zu guter Letzt muss man sich fragen: Wenn Putin und Co. den Atomkrieg wollen, warum haben sie ihn dann nicht schon längst begonnen?

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Natürlich ist ebenfalls ungewiss, ob die Ukraine mit schweren Waffen aus dem Westen den Krieg für sich entscheiden kann – unmöglich erscheint das angesichts der bisherigen militärischen Erfolge und des wirtschaftlichen Drucks durch die westlichen Sanktionen jedoch nicht. Wie lange die Ukrainer für ihre Freiheit kämpfen wollen, ist aber ohnehin ihre Entscheidung. Unsere Entscheidung ist lediglich, ob wir denjenigen helfen, die Hilfe brauchen, oder ob wir lieber wegschauen wollen. Angst ist dabei kein guter Ratgeber.  

Kapitulation aus Furcht ist Russlands Ziel

Die im Offenen Brief geforderte Kapitulation aus Furcht ist schließlich genau das, was Russland von vornherein mit seinem Krieg erreichen wollte, ursprünglich in wenigen Tagen. Nur hat die Ukraine bei diesem Plan nicht mitgespielt.

Die zehnte Kriegswoche hat mittlerweile begonnen. Und in Kiew müssten sie die Bombe eigentlich viel mehr fürchten als aufmerksamkeitsheischende deutsche Feuilleton-Prominente, die Putin nach dem Mund reden. „Schäbig“ nannte Andrij Melnyk, ukrainischer Botschafter in Deutschland, das – wer will da widersprechen?  

Nein, der Klügere sollte eben nicht nachgeben. Und gerade Alice Schwarzer müsste das eigentlich noch aus den mittlerweile leider weit zurückliegenden Zeiten wissen, in denen sie noch mit klugen Worten für mehr, statt mit zynischen Appellen für weniger Gerechtigkeit eingetreten ist.  

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