Pflichtdienst„Profis lassen sich nicht durch Zwangspraktikanten ersetzen, Herr Merz“

Im Rahmen einer Dienstpflicht könnten Jugendliche sich in der Betreuung älterer Menschen engagieren.
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- Die CDU spricht sich auf ihrem Parteitag für ein gesellschaftliches Pflichtjahr aus.
- Unsere Autorin Alexandra Ringendahl findet, ein Pflichtjahr könnte in verschiedenen Lebensphasen bei der Orientierung helfen.
- Thorsten Breitkopf ist der Meinung, dass Gutes tun nur dann gut werden kann, wenn man es auf freiwilliger Basis tut.
- Ein Pro und Contra.
Köln – Es klingt vermessen, was ausgerechnet die von Herren im fortgeschrittenen Alter dominierte Union den jungen Leuten jetzt auch noch aufdrücken will: Neben Klimarettung und Sicherung der Rente sollen sie sich nun verpflichtend für die Gesellschaft engagieren. Mit Freiheit hat das auf den ersten Blick nichts zu tun. Aber wer die Perspektive wechselt, entdeckt darin eine andere Form von Freiheit: die Ermöglichung von prägenden Erfahrungen.
Wer mit Abiturienten spricht, der spürt oft zweierlei: Druck und Orientierungslosigkeit. Nach zwölf Jahren Bulimie-Lernen und Abarbeiten überladener Lehrpläne haben sie nach dem Abi drei Monate Zeit, sich zu überlegen, welchen Berufsweg sie wählen. Und das bei einer Auswahl von 16.000 Studiengängen. Die Mehrzahl weiß inzwischen angesichts der erschlagenden Vielfalt nach dem Abi nicht, was sie machen will. Zeit, darüber nachzudenken, ist nicht vorgesehen. Von der Schulbank geht es nahtlos in die nächste Schule, die nur anders heißt.
Abbrecherquote in vielen Studiengängen liegt bei über 50 Prozent
Ab Herbst beginnt die Bologna-optimierte Hochschulzeit, die die Absolventen mit 21 Jahren mit dem Bachelor ausspuckt. Es sei denn, sie haben vorher aufgegeben: In sehr vielen Studienfächern liegt die Abbrecherquote aktuell bei über 50 Prozent. Tendenz steigend. Kein Zufall.

Alexandra Ringendahl
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Immer mehr wählen daher schon von sich aus das, was schick „Gap Year“ heißt. Ihr Impuls: Druck aus der Entscheidung nehmen, erst mal schauen, wer man ist, was man will und wie das Leben abseits der eigenen Blase aussieht. Sie machen ein freiwilliges soziales Jahr – staatlich gefördert etwa mit „Weltwärts“ in einer Schule in Tansania, mit dem Europäischen Freiwilligencorps in einem Naturschutzprojekt in Marokko oder mit dem Bundesfreiwilligendienst in einer Jugendbegegnungsstätte in Deutschland.
Eher prägende als verlorene Zeit
Die, die ich kenne, sind anders zurückgekommen. Oft mit einer gefestigteren Entscheidung über ihren Weg und das, was ihnen wichtig ist. Und auch von denen, die dereinst Zivildienst leisten mussten, höre ich eher von einer prägenden denn von einer verlorenen Zeit.
Auch wenn es natürlich einen Unterschied macht, ob man den Dienst freiwillig leistet oder dazu verpflichtet wird. Es ist eine Debatte wert, darin eine Chance zu sehen, die alle bekämen und nicht nur diejenigen, die sich von sich aus darum bemühen. Vorausgesetzt es gibt ein faires Dienstgeld.
Dass ausgerechnet die Union diesen Bruch mit der marktwirtschaftlichen Logik vollzieht, die Jungen möglichst schnell dem Arbeitsmarkt zuzuführen, finde ich bemerkenswert.
Bildung bedeutet auch Austausch mit Menschen, die anders denken
Um Entscheidungen über sein Leben zu treffen, hilft es, ein wenig Lebenserfahrung gesammelt zu haben. Bildung bedeutet auch Bildung der Persönlichkeit, bedeutet Austausch mit anderen Menschen, die anders leben und denken. Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr öffnet jungen Menschen Räume, die aus mehr bestehen als digitalen und sozialen Echokammern, Klassen und Seminarräumen. Davon profitieren auch diejenigen, die schon wissen, was sie wollen. Es bietet die Chance, sich zu engagieren und sich weiterzuentwickeln.
Andere Länder wie etwa Irland haben das Orientierungsjahr als so genanntes „Transition Year“ längst in ihr Schulsystem integriert. Es gilt dort als großer Erfolg.
Alexandra Ringendahl (53) ist als Lokalredakteurin zuständig für Schule und Bildung. Sie hat zwei Töchter von 14 und 16 Jahren. Ihre Ältere will nach dem Abi ein Gap Year machen. Hoch im Kurs steht gerade ein Freiwilligendienst in einem Kibbuz in Israel.
Contra: Unzulässiger Eingriff in verbriefte Rechte
Es ist ein ziemlich deutscher Reflex, dass alles vom Staat per Gesetz reguliert werden soll. Jetzt fordert ausgerechnet die Partei, die vor einem Jahrzehnt die längst überfällige Wehrpflicht abgeschafft hat, ein Pflichtjahr für alle Jugendlichen. Doch das ist unverhältnismäßig und ein unzulässiger Eingriff des Staates in ein ganzes Bündel an grundgesetzlich verbrieften Rechten. Die freie Berufswahl ist ebenso ein hohes Gut wie die freie Wahl des Wohnorts oder auch der Freiheit, freiwillig einen Dienst zu leisten, im Sportverein, bei einer gemeinnützigen Einrichtung oder –, ja, sogar bei der Bundeswehr.

Thorsten Breitkopf ist Ressortleiter Wirtschaft.
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Jungen Menschen ein ganzes Jahr oder viele Monaten ihres Lebens zu rauben, um Löcher in Krankenhäusern oder Altenheimen zu stopfen, ist kein gangbarer Weg. Junge Menschen stehen in Schule, Studium oder Beruf unter enormem Druck. Jetzt sollen sie obendrauf noch ein Pflichtjahr leisten? Das ist die Gängelung der Generation, die schon bald für unsere Rente aufkommen soll.
Obendrein: Das Geld, das die Pflichtdienstleister in ihrem Dienstjahr nicht in Renten- und Sozialkassen einzahlen, fehlt am Ende uns allen.
Die Wirtschaft braucht Fachkräfte
Das drängendste Problem der Wirtschaft ist der Fachkräftemangel. Lehrstellen im Handwerk bleiben unbesetzt, selbst Großunternehmen mit tadellosem Ruf und guten Gehältern haben große Probleme, Nachwuchs zu bekommen. Da fordert die CDU, einen ganzen Jahrgang dem Arbeitsmarkt zu entziehen? Was ist aus der Volkspartei mit Wirtschaftsverstand geworden? Jetzt argumentieren einige, durch ein Pflichtjahr könnten die Engpässe im Pflegedienst oder im Gesundheitsbereich vermieden werden. Das ist ein Schlag ins Gesicht von Krankenschwestern, Altenpflegern und etlichen anderen sozialen Berufen.
Glauben die Pflichtjahr-Befürworter allen Ernstes, deren Tätigkeit könnte einfach von ungelernten Jugendlichen von heute auf morgen für ein paar Monate übernommen werden? Krankenpfleger haben anspruchsvolle Berufsbilder mit jahrelanger Ausbildung. Das sind Profis, Herr Merz, die nicht durch Zwangs-Praktikanten ersetzt werden können. Obendrein würde das Anlernen Hunderttausender Schüler in diese „Jobs“ mehr Kapazitäten binden als diese dann später freisetzen könnten.
Zwangsdienste sind im Übrigen nicht grade bekannt dafür, dass sie von denen, die sie ausführen müssen, mit besonderem Ehrgeiz erfüllt werden. Freiwillige sind motiviert, gut bezahlte vielleicht noch mehr. Woher aber sollen die Pflichtdienstleistenden bitte schön ihre Motivation nehmen? Ein Großteil wird nicht mehr als Dienst nach Vorschrift leisten, mit enormen Effizienzverlusten in den betroffenen Sektoren.
Wir haben es mit 12er-Abi, Bologna-Reform und Abschaffung der Wehrpflicht mühsam geschafft, dass junge Leute genau so früh im Beruf sind wie ihre internationalen Wettbewerber. Wollen wir diese Chancengleichheit jetzt einfach über Bord werfen? Ein Zwangsdienst wie von der CDU gefordert widerspricht den Grundsätzen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung genauso wie unserer sozialen Marktwirtschaft.
Thorsten Breitkopf (43) ist Chef der Wirtschaftsredaktion und leistete von 1997 bis 1998 seinen „Zwangsdienst“ bei der Bundeswehr in Köln-Wahn. Dennoch lehnt er jede Form von Zwangsdiensten ab und setzt auf Freiheit und Freiwilligkeit.