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Kölner Russland-Experte„Ein autoritärer Herrscher unter Druck geht nicht selten größere Risiken ein“

8 min
Der russische Präsident Vladimir Putin

Der russische Präsident Vladimir Putin 

Der Journalist Andrey Gurkov im Interview über den wachsenden Druck auf Putin, 2026 als mögliches Wendejahr und die aktuellen politischen Verhandlungen.

Herr Gurkov, was ist für Sie das wichtigste Ergebnis des Ukraine-Gipfels in Berlin?

Entscheidend war, dass nach vielen Monaten des Nebeneinanders erstmals wieder die Ukraine, die Europäer und die Amerikaner gemeinsam am Tisch saßen. Dieses Format hat es so lange nicht mehr gegeben. In Europa wuchs die Sorge, Washington würde lediglich mit Moskau verhandeln und am Ende Fakten schaffen, die die Europäer und vor allem die Ukraine vor vollendete Tatsachen stellen. Dass Deutschland die Initiative übernommen und nach Berlin eingeladen hat – und alle gekommen sind –, ist ein politisches Signal von enormem Gewicht. Man hat sich sogar auf konkrete Papiere geeinigt, um sie Moskau als Grundlage für mögliche Gespräche vorzulegen. Dass Russland diese Vorschläge wahrscheinlich zurückweist, war sicherlich einkalkuliert. Wichtig aber ist: Es gibt jetzt intensive diplomatische Bemühungen.

(Hier im Plyer können Sie eine deutlich längere Fassung des Gesprächs mit Andrey Gurkov als Podcast „Talk mit K hören“ - oder auf sämtlichen Podcast-Plattformen wie Spotify, Apple und Co.)

Auffällig war, dass keine ranghohen US-Minister erschienen, sondern Trumps Schwiegersohn Jared Kushner und der Sondergesandte Steve Witkoff. Ist das nicht doch ein Zeichen mangelnder Wertschätzung?

Das ist eine Realität der Trump-Ära, an die wir uns gewöhnen müssen. Man kann darüber streiten, wie seriös es wirkt, wenn der Schwiegersohn des Präsidenten an zentralen Gesprächen teilnimmt. Aber Trump vertraut Kushner und Witkoff – und Vertrauen ist bei einem autoritären Führungsstil oft politisch wertvoller als ein offizielles Amt. Beide haben direkten Zugang zum US-Präsidenten. Für die Ukraine ist das nicht zwingend schlecht.

Einer der größten Knackpunkte sind und bleiben die territorialen Forderungen Russlands. Die Ukraine ist nicht bereit, die Gebiete, die Russland beansprucht, abzutreten.

Für die Ukraine ist es äußerst schwer, überhaupt über Gebietsfragen zu sprechen. Das Land führt einen Verteidigungskrieg, hunderttausende Soldaten verteidigen seit Jahren ihre Heimat, viele haben ihr Leben verloren. Dass man diesen Menschen sagt, man solle umkämpfte Gebiete freiwillig aufgeben, ist nahezu undenkbar. Deshalb ist die ukrainische Position: Ein Waffenstillstand entlang der aktuellen Frontlinie, aber ohne irgendeinen rechtlichen Schritt, der russische Ansprüche legitimiert. Russland hingegen will mindestens den gesamten Donbass – und zwar vollständig, inklusive jener Städte, die von den Ukrainern seit 2014 zu regelrechten Festungen ausgebaut wurden und militärisch kaum einzunehmen sind. Putin hat auch andere ukrainische Gebiete in die russische Verfassung schreiben lassen, obwohl er große Teile davon gar nicht kontrolliert.

Gleichzeitig verbietet die ukrainische Verfassung Gebietsabtretungen.

Trotzdem wird international oft so getan, als liege die Hauptverantwortung für Kompromisse allein bei Kiew. Diese Schieflage erzeugt verständliche Gereiztheit bei der Ukraine. Ich kann mich nicht erinnern, dass von Russland ebenfalls Verfassungsänderungen gefordert wurden, obwohl Putin seine Verfassung jederzeit ändern lassen könnte – er hat es mehrfach getan.

Wie überlegen ist Russland derzeit auf dem Schlachtfeld?

Putin versucht ein Bild stetiger Erfolge zu zeichnen, doch dieses Bild hält der Realität nicht stand. In beinahe vier Jahren Krieg hat Russland sehr überschaubare Gebietsgewinne erzielt – gemessen an der zahlenmäßigen Überlegenheit seiner Armee ist das erstaunlich wenig. Es gibt mehrere Gründe dafür, warum eine so große Armee nur so langsam vorankommt. Erstens: Die Ukraine verteidigt sich heldenhaft. Zweitens: Die russische Armee leidet unter systemischen Problemen. Korruption ist in Russland ein tief verankertes Übel, das bis in die oberste Führung reicht. Dazu kommt die Doktrin „Masse statt Klasse“: Russland wirft Unmengen an Soldaten in Angriffe, die enorm verlustreich sind und nur geringe Erfolge bringen. Parallel dazu hat die Ukraine ihre frühere Rolle als Waffenschmiede der Sowjetunion wiederentdeckt. Drohnen, Raketen, Munition – vieles kann sie inzwischen selbst produzieren.

Worum geht es bei dem zweiten großen Knackpunkt, den Sicherheitsgarantien, die die Ukraine fordert?

Der Begriff wird inflationär benutzt, ohne dass klar ist, was genau gemeint ist. Für die Ukraine stellt sich eine existenzielle Frage: Wenn der Krieg endet – wer verhindert, dass Russland in absehbarer Zeit wieder angreift? Die NATO-Mitgliedschaft wäre eine eindeutige Garantie gewesen, doch sie ist vom Tisch, weil die NATO unter Druck der USA sie nicht anbieten will. Deshalb bewegen sich die aktuellen Überlegungen in zwei Richtungen. Erstens: Eine starke ukrainische Armee, die zahlenmäßig und technisch so ausgestattet ist, dass sie Russland vor einem erneuten Angriff abschreckt. Das hieße: Keine Obergrenzen für die Truppenstärke und keine Beschränkungen für die Bewaffnung der Armee. Zweitens: Effizienter Schutz des ukrainischen Luftraums mit Unterstützung der NATO, möglicherweise auch vom NATO-Territorium aus, und Eingreifen bei Verletzungen, aber dann ohne ausländische Bodentruppen.

Die USA haben vor einigen Wochen einen 28-Punkte-Plan vorgelegt, der offenkundig stark von Russland beeinflusst war. Wie stark Ihrer Meinung nach?

Viele Formulierungen entsprachen eindeutig russischen Narrativen – teilweise Wort für Wort. Das war für Kiew ein Schock und für Europa ein Weckruf. Aus diesem Grund hat Deutschland so vehement versucht, den Prozess wieder in europäische Hände zu holen. Der Berliner Vorschlag soll nun als Gegengewicht dienen. Es geht darum, nicht in eine „amerikanisch-russische“ Lösung hineinzurutschen, die europäische und vor allem ukrainische Interessen ignoriert.

Welche Reaktion erwarten Sie aus Moskau?

Eine weitgehende Ablehnung. Putin muss innenpolitisch Stärke demonstrieren und den Eindruck erwecken, er könne Bedingungen diktieren. Das entspricht nicht der Realität, aber politisch braucht er diese Inszenierung. Der Donbass ist für ihn ein symbolisches Projekt: Er muss irgendetwas als „Sieg“ verkaufen können – und sei es nur die Erzählung, er habe den ganzen Donbass „befreit“ und die Ukraine aus der NATO ferngehalten. Gleichzeitig dürfte der Kreml allmählich ahnen, dass die Zeit gegen Russland arbeitet. Militärisch kommen die russischen Truppen nur langsam und nur mit außerordentlichen Verlusten voran, wirtschaftlich verschlechtert sich die Lage sichtbar. Deshalb steigt auch Putins Risikobereitschaft: Je dünner das Eis, desto lauter sein Auftreten.

Russland greift auch in diesem Winter massiv zivile Infrastruktur in der Ukraine an mit dem Ziel, dass die Bevölkerung ohne Strom und Heizung durch den Winter kommen muss. Hat die Zahl der Angriffe eine neue Qualität?

Ja, eindeutig. Die Zahl der Drohnen- und Raketenangriffe ist stark gestiegen, auch weil Russland inzwischen eine eigene Massenproduktion von Drohnen aufgebaut hat – unabhängig von den Lieferungen aus dem Iran. Das Ziel ist klar: die Moral brechen, Versorgung lahmlegen, die Bevölkerung zermürben. Aber die Ukraine hat in den drei vorangegangenen Kriegswintern viele Erfahrungen gesammelt und gelernt, mit Stromausfällen fertig zu werden, übrigens auch dank der Generatoren, die häufig als Hilfslieferungen aus Europa kamen.  Neu ist allerdings, dass die Ukraine nun auch regelmäßig russische Energieanlagen angreift. In vielen Städten Russlands heulen nachts Sirenen und brennen Raffinerien oder Kraftwerke. Der Krieg, den Putin als kurze „militärische Spezialoperation“ versprach, ist nun weit im russischen Hinterland angekommen. Das beginnt die Stimmung in Russland zu verändern.

Die eingefrorenen russischen Staatsvermögen, über die heftig diskutiert wurde, werden vorerst nicht angetastet, wurde am Donnerstag beschlossen wurde. Bräuchte die Ukraine diese Milliarden nicht dringend?

Nun, die EU hat sich stattdessen für einen Kredit in Höhe von 90 Milliarden Euro entschlossen. Diese Summe soll der Ukraine ein bis zwei Jahre den Staatshaushalt sichern: Gehälter, Renten, medizinische Versorgung. Die Verwendung der eingefrorenen russischen Gelder wäre völkerrechtlich und finanziell heikel gewesen, ihre Übergabe an die Ukraine hätte das Vertrauen in die Eurozone beschädigen können. Russland würde mit Sicherheit juristisch dagegen vorgehen und hätte zudem ganz bestimmt einen globalen Propagandafeldzug gestartet. Es hätte behauptet, dass die Europäer unliebsame Länder enteignen würden, und die Staaten des globalen Südens eindringlich davor gewarnt, ihre Währungsreserven in der Eurozone anzulegen. Die Erzählung aus Moskau würde lauten: Europa ist ein Dieb, der, wie in früheren kolonialen Zeiten, andere Länder ausraubt. Und ein Teil der Welt wäre dafür sicherlich empfänglich. Das würde langfristig die Zinsen für europäische Staatsanleihen erhöhen – ein Risiko für die gesamte Eurozone. Aus all diesen Gründen hat die EU die schwierige Entscheidung getroffen, der Ukraine doch lieber über einen eigenen Kredit finanziell zu helfen.

Die USA haben gerade ihre neue nationale Sicherheitsstrategie veröffentlicht, in der Russland nicht mehr als Bedrohung bezeichnet wird. Haben da in Moskau die Sektkorken geknallt?

Offiziell reagiert der Kreml zurückhaltend, aber in Wahrheit dürfte man in Moskau hochzufrieden darüber sein, dass Trump aus der vorigen US-Strategie den Punkt streichen ließ, in dem Russland als Risiko für die internationale Ordnung beschrieben wurde. Zudem war Putin immer bestrebt, einen Keil zwischen Europa und den USA zu treiben. Allerdings bedeutet die neue amerikanische Sicherheitsstrategie meiner Ansicht nach nicht, dass Washington sich von Europa abwendet. Eher, dass die USA Europa umformen möchten. Die Strategie liest sich wie ein ideologisches Manifest der MAGA-Bewegung: Europa sei kulturell vom „wahren Westen“ abgekommen, man müsse es wieder auf den „richtigen zivilisatorischen Weg“ bringen – mithilfe rechtsnationaler Parteien, deren Aufstieg das Papier ausdrücklich begrüßt. Das ist ein gefährlicher Ansatz, weil er die gemeinsamen Werte infrage stellt, auf denen die transatlantische Partnerschaft lange beruhte. Aber genau das dürfte Moskau sehr gefallen.

Sie warnten im Sommer vor einer möglichen russischen Provokation gegen einen NATO-Staat. Ist diese Gefahr größer geworden?

Sie ist jedenfalls definitiv nicht geringer geworden. Russland könnte versuchen, mit einer begrenzten Operation – etwa gegen die estnische Stadt Narva – zu testen, ob die NATO wirklich schnell und entschlossen reagiert. Die russische Armee ist zwar militärisch geschwächt, aber Putin ist angesichts geringer Erfolge an der Front und schnell zunehmender wirtschaftlicher Probleme politisch unter Druck. Ein autoritärer Herrscher unter Druck geht nicht selten größere Risiken ein.

Wie lange kann Russland diesen Krieg noch führen?

Mit Sicherheit nicht „jahrelang“, wie oft behauptet wird. Wie gesagt: Die wirtschaftlichen Probleme wachsen rasant. Der Haushalt hat ein großes Loch, die Industrie ist am Rande oder bereits in der Rezession, die westlichen Sanktionen greifen immer mehr. Ein wirtschaftlicher Kollaps steht nicht bevor, aber der Trend ist eindeutig. Wenn die militärische Lage so bleibt wie jetzt – also minimale Erfolge bei maximalen Kosten –, wird sich Russland im Laufe des Jahres 2026 fragen müssen, ob es noch in der Lage ist, diesen Krieg weiterzuführen.

Woran kann man erkennen, dass der Druck kritisch wird?

Zum Beispiel am Ölpreis. Die europäische Sorte Brent kostete in den letzten Tagen erstmals seit mehr als vier Jahren weniger als 60 Dollar, und das ist ein psychologisch sehr wichtiger Punkt. Zudem wird russisches Öl wegen der Sanktionen mit hohen Abschlägen verkauft wird. Wenn also der Ölpreis weiter stark fällt, verliert Putin sein finanzielles Fundament.


Zur Person

Andrey Gurkov ist ein in Köln lebender russisch-deutscher Journalist und langjähriger Russland-Experte. Er wurde in Moskau geboren und arbeitet seit Ende der 1980er‑Jahre für internationale Medien, unter anderem für die Deutsche Welle. Gurkov gilt als einer der profiliertesten deutschsprachigen Erklärer russischer Innen‑, Außen‑ und Propagandapolitik. 2025 veröffentlichte er das Buch „Für Russland ist Europa der Feind“.