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Sinan SelenDieser Kölner ist Deutschlands neuer Verfassungsschutzpräsident

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Der bisherige Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz wird ihr neuer Präsident: Sinan Selen.

Der bisherige Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz wird ihr neuer Präsident: Sinan Selen.

Mit Sinan Selen soll der bisherige Vize Verfassungsschutzpräsident werden. Er hat über Parteigrenzen hinweg einen guten Ruf.

Ein dreiviertel Jahr lang war das Bundesamt für Verfassungsschutz nach Thomas Haldenwangs überstürztem Abgang für eine erfolglose Bundestagskandidatur ohne offizielle Führung. Jetzt soll der bisherige Vizepräsident des Nachrichtendienstes, Sinan Selen, die Leitung übernehmen. Darauf haben sich Union und SPD nach RND-Informationen aus Parlamentskreisen geeinigt, das Bundesamt sollte noch am Montag förmlich über diese Entscheidung informiert werden. Die Personalie soll voraussichtlich am Mittwoch im Bundeskabinett beschlossen werden.

Damit ist eine viel beachtete Hängepartie vorbei: Ausgerechnet in einer Zeit der steigenden Bedrohung durch Spionage und hybride Angriffe sorgte das ungewöhnlich lange andauernde Machtvakuum an der Verfassungsschutzspitze zuletzt für Kritik an Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU).

Sinan über Parteigrenzen als Fachmann geschätzt

Für die Entscheidung, Sinan Selen zum neuen Verfassungsschutzpräsidenten zu machen, darf er hingegen mit Anerkennung rechnen – auch über Partei- und Koalitionsgrenzen hinweg. „Es ist gut und wichtig, dass die Spitze des Bundesamts nun endlich wieder besetzt ist“, sagte der stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende Konstantin von Notz dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

ARCHIV - 23.08.2025, Berlin: Alexander Dobrindt (CSU,l-r), Bundesinnenminister, feiert mit Sinan Selen, Vizepräsident des Verfassungsschutz, Silke Willems, Vizepräsidentin des Verfassungsschutz, und Sabine Lackner, Präsidentin des Technischen Hilfswerk (THW), am Tag der offenen Tür der neuen Bundesregierung im Bundesinnenministerium mit einem Kuchen 75 Jahre THW und BfV. An dem Wochenende besteht die Gelegenheit, einen Blick hinter die Kulissen der Politik zu werfen und sich über die Arbeit der Bundesregierung zu informieren. (zu dpa: «Vize-Präsident Selen wird neuer Chef des Verfassungsschutzes») Foto: Fabian Sommer/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Alexander Dobrindt (CSU), Bundesinnenminister, feierte mit Sinan Selen, Vizepräsident des Verfassungsschutz, Silke Willems, Vizepräsidentin des Verfassungsschutz, und Sabine Lackner, Präsidentin des Technischen Hilfswerk (THW), am Tag der offenen Tür der neuen Bundesregierung im Bundesinnenministerium 75 Jahre THW und BfV. (Archivbild)

„Sinan Selen bringt für diese Position und die mit ihr verbundenen, großen Herausforderungen viel Erfahrung und Kompetenz mit“, so von Notz weiter. Selen ist weit über Partei- und Koalitionsgrenzen hinweg als Fachmann angesehen und auch in Politik und Wirtschaft bestens vernetzt. Und ähnlich wie Thomas Haldenwang ist auch Sinan Selen dafür bekannt, bei öffentlichen Einschätzungen kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Mehr als 20 Jahre Erfahrung im Sicherheitsapparat

Der 53-Jährige wurde 1972 in der türkischen Metropole Istanbul geboren und zog im Alter von vier Jahren mit seinen Eltern – die beide als Journalisten arbeiteten – nach Deutschland. In den 1990er Jahren studierte Selen Jura in Köln, bevor er im Jahr 2000 beim Bundeskriminalamt anheuerte. Bis 2006 arbeitete er dort im Bereich Staatsschutz und organisierte den Personenschutz für Bundeskanzler Gerhard Schröder. Nachdem islamistische Terroristen 2006 Kofferbomben in zwei Regionalzügen in Nordrhein-Westfalen platziert hatten, leitete Selen für das BKA die Fahndung nach den Tätern.

Der Kampf gegen Terrorismus sollte sich seitdem weiter durch Selens berufliches Leben ziehen: 2006 holte ihn Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble als Leiter des Referats „Ausländerterrorismus und Ausländerextremismus“ im Stab Terrorismusbekämpfung in sein Ministerium. 2009 wechselte Selen als ständiger Vertreter des Abteilungsleiters für Kriminalitätsbekämpfung ins Bundespolizeipräsidium. Seine Schwerpunkte: Schleusungskriminalität, Pirateriebekämpfung und Terrorismusabwehr. 2012 ging Selen dann zurück ins Ministerium: In der Abteilung Öffentliche Sicherheit war er nun zuständig für Terrorismusbekämpfung und internationale Zusammenarbeit mit Ländern wie der Türkei, wurde außerdem Vertreter Deutschlands in der Counter Terrorism Group der G7-Staaten.

Vier Jahre später zog es Selen dann nach mehr als anderthalb Jahrzehnten im Staatsdienst in die Wirtschaft, zum Tourismuskonzern TUI, wo er sich um die konzernweite Sicherheitsstruktur kümmerte.

Rassismus und Geraune wegen türkischer Herkunft

Im Januar 2019 endete der Ausflug in die Privatwirtschaft. Sinan Selen wurde Verfassungsschutzvize – und stand damit auch zum ersten Mal in der breiten Öffentlichkeit. Schnell wurde sein Migrationshintergrund Thema: Von Rechten und Verschwörungsideologen schlugen ihm rassistische Anfeindungen entgegen, von Linksaußen wurde geraunt, Selen gehe wegen seines türkischen Hintergrunds besonders hart gegen die kurdische PKK vor.

12.08.2024, Nordrhein-Westfalen, Köln: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD, r) gibt ein Statement für die Presse zusammen mit den BfV-Vizepräsidenten Silke Willems (l) und Sinan Selen (M), nachdem sie sich beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) über die aktuelle Sicherheitslage informiert hat. Foto: Henning Kaiser/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) gibt ein Statement für die Presse zusammen mit den BfV-Vizepräsidenten Silke Willems (l.) und Sinan Selen. (Archivbild)

Als Vizepräsident des BfV ist Selen seitdem für das operative Geschäft des BfV zuständig, nicht nur im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus und islamistischen Terror, sondern auch in den Bereichen Rechts- und Linksextremismus, sowie Spionage- und Cyberabwehr.

Topthema: Angriffe aus Russland

Besonders die Abwehr von Spionage und sogenannten hybriden Angriffen aus Russland dürfte Selens Präsidentschaft prägen. „Wir müssen ‚hemdsärmeliger‘ werden, wir müssen mehr in Fähigkeiten denken und diese Fähigkeiten gut und partnerschaftlich miteinander vernetzen“, sagte Selen im Mai 2025, als er auf einer Sicherheitskonferenz über die Herausforderungen durch russische Spionage-, Sabotage- und Desinformationsangriffe auf Deutschland sprach. Auf derselben Konferenz verwies Selen auch auf den Koalitionsvertrag von Union und SPD: Darin haben sich die Parteien darauf geeinigt, dem Bundesamt für Verfassungsschutz mehr Fähigkeiten und Befugnisse zur Verfügung zu stellen.

Der neue Verfassungsschutzchef wird deshalb nicht nur mit stets wachsenden Herausforderungen zu tun haben, sondern diesen künftig auch mit neuen Werkzeugen begegnen können. „Die umfassende Reform des Rechts der Nachrichtendienste steht weiterhin aus. Sie muss nun endlich kommen. Hier sind vor allem Bundesinnenministerium und Kanzleramt in der Verantwortung“, fordert Grünen-Politiker von Notz. Mit der Reform müsse „eine Stärkung der Dienste und der Kontrolle ihrer wichtigen Arbeit gleichermaßen kommen“.

Juristische Auseinandersetzung mit der AfD

Neben der Abwehr russischer Angriffe wird auch der Umgang mit der AfD viel von Selens Zeit in Anspruch nehmen. Unter der kommissarischen Leitung durch ihn und die weitere Vizepräsidentin Silke Willems hatte das BfV die Partei im Mai zur gesichert rechtsextremistischen Bestrebung hochgestuft. Weil die AfD Klage dagegen eingereicht hat, setzte der Verfassungsschutz diese Hochstufung jedoch nur eine Woche später vorübergehend aus. Der Fall liegt jetzt als Eilklage vor dem Verwaltungsgericht Köln, das in den nächsten Monaten eine erste Entscheidung fällen könnte. Darauf folgen voraussichtlich ein Hauptsacheverfahren in Köln, anschließend eine Berufungsverhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht in Münster, schließlich eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig.

Kritik kam von der Linken: Wegen der Verstrickung von Verfassungsschutzbehörden allgemein in rechtsterroristische Komplexe wie dem NSU „haben wir als Linke kein Vertrauen in das Amt – unabhängig von der Frage, welches Personal an dessen Spitze steht“, sagte die Innenpolitikerin Clara Bünger dem RND. „Solange die Verfassungsschutzämter existieren, müssen sie vor allem nach rechts schauen: Die Zahl rechter und rassistischer Straftaten ist alarmierend hoch, Rechtsextreme horten Waffen, bereiten sich auf den Umsturz vor, terrorisieren Geflüchtete, queere Menschen, Linke und alle, die nicht in ihr rechtes Weltbild passen. Die größte Gefahr für die Demokratie geht von diesem Spektrum aus.“