Ohne Realitätsbezug behauptet Donald Trump, amerikanische Städte würden von kriminellen Ausländern und linken Randalierern belagert. Als Antwort schickt er immer mehr maskierte Bundespolizisten und Militär in die Straßen und erwägt die Ausrufung des Notstands. In Chicago und Portland droht eine fatale Eskalation der Gewalt.
Trumps Krieg im InnerenDer Geruch der Apokalypse

Polizisten stellen sich Demonstranten in Broadview, Illinois, in den Weg. (Archivbild)
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Er hat seine Augen vorsichtig ausgespült und die mit chemischen Reizstoffen kontaminierte Kleidung gründlich gewaschen. Doch seine Empörung über den Vorfall ist nicht gewichen. „Das war völlig willkürlich“, beklagte sich Pastor David Black vor wenigen Tagen beim Sender CNN: „Das war bösartig.“
Die verstörende Szene aus dem September, über die der presbyterianische Geistliche spricht, hat sich im Internet längst millionenfach verbreitet. Dort sieht man auf Videoaufnahmen, wie Black mit schwarzem Hemd und weißem Predigerkragen neben dem Tor der Abschiebepolizei ICE in Broadview, eine halbe Autostunde westlich von Chicago, beide Arme zum Gebet in den Himmel reckt. Dabei schaut er hinauf zum Dach des Gebäudes, auf dem drei Schwerbewaffnete in Tarnkleidung stehen.
Pastor über ICE-Attacke: „Ich konnte sie lachen hören“
Plötzlich hört man einen dumpfen Knall. Der Pfarrer fasst sich an den Kopf, dann geht er zu Boden. Ein Beamter hat ihn gezielt mit einem Pfefferspray-Projektil beschossen. Damit nicht genug: Minuten später, als sich der Gottesmann im Schutze anderer Demonstranten aus der Gefahrenzone herausbewegen will, wird er von ICE-Polizisten verfolgt und aus unmittelbarer Nähe mit einer Chemikalie im Gesicht besprüht. „Ich konnte sie lachen hören“, berichtet er: „Ich finde das sehr beunruhigend.“

Ein Banner mit der Aufschrift „Trump ist ein Nazi“ hängt vor einem ICE-Gebäude in Broadview nahe der Metropole Chicago. (Archivbild)
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Aus Sicht ihrer Vorgesetzten haben die Bundespolizisten alles richtig gemacht. Black habe die Ausfahrt blockiert und den Beamten den Mittelfinger gezeigt, behauptet Tricia McLaughlin, die Sprecherin des Heimatschutzministeriums. Eine Entschuldigung wird es nicht geben. Warum auch? Schließlich hat der Präsident persönlich die Sicherheitskräfte aufgefordert, „keine Rücksicht“ zu nehmen „auf die Verrückten, die unser Land zerstören.“
Soldaten patrouillieren mit Schnellfeuergewehren
Das ist die neue Realität in Amerikas Städten, wo neuerdings Soldaten mit Schnellfeuergewehren patrouillieren, vermummte Häscher aus zivilen Autos herausspringen und dunkelhäutigere Menschen von der Straße verschleppen, die Autos von Reportern von Ordnungshütern absichtlich gerammt und filmende Passanten mit der Waffe bedroht werden.
Während sich Donald Trump im Nahen Osten als Friedensstifter feiern lässt, beschwört er im Inneren der USA kriegsähnliche Zustände herauf. Seine Rhetorik wird immer martialischer. Lange schon beschreibt er die Zustände in demokratisch regierten Städten in düstersten Farben. Er behauptet, „Höllenlöcher“ wie Los Angeles, San Francisco oder Chicago würden von „Verrückten“ überrannt und zerstört. Vor zwei Wochen, bei einer Rede vor Generälen auf dem Militärstützpunkt Quantico in Virginia, ging er noch weiter: „Wir haben einen Feind im Inneren“, wütete der Commander-in-Chief: „Er ist in unseren Städten, brennt sie nieder, plündert und randaliert. Wir werden das nicht mehr zulassen.“
Mit der Realität hat diese apokalyptische Vision nichts zu tun. Zwar leiden viele amerikanische Städte seit langem unter einer vergleichsweise hohen Kriminalität. Doch sind die Zahlen zuletzt gesunken. Auch gibt es angesichts der aktuellen Massenabschiebungen verstärkt Proteste, bei denen es zuletzt gelegentlich zu Rangeleien kam. Doch - anders als beim Kapitolsturm der Trump-Anhänger im Januar 2021 - ist bislang kein einziger Ordnungshüter ernsthaft zu Schaden gekommen. „Sie erfinden einfach Sachen, um die Leute zu schikanieren“, kontert deshalb JB Pritzker, der demokratische Gouverneur von Illinois.
Trump: US-Städte als „Trainingsplätze für das Militär“
Schon im Juni hatte Trump die Nationalgarde nach Los Angeles geschickt, um dort eine angebliche Rebellion niederzuschlagen. Seit August streifen 2400 Nationalgardisten planlos durch Washington. Vorige Woche hat der Präsident Reservisten-Truppen nach Chicago, Portland und Memphis beordert. Der Auftrag der Soldaten dort bleibt vage: Mal sollen sie das angeblich ausufernde Verbrechen bekämpfen, mal öffentliche Gebäude schützen, mal irreguläre Migranten jagen. Vor allem geht es um die Zurschaustellung staatlicher Gewalt. „Wir sollten einige unserer gefährlichen Städte als Trainingsplätze für das Militär nutzen“, postulierte Trump in Quantico martialisch.

US-Präsident Donald Trump geht am frühen Dienstag über den Südrasen des Weißen Hauses in Washington, nachdem er von einer Reise nach Israel und Ägypten zurückgekehrt ist.
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Wie ernst dieser gefährliche Plan ist, erleben die Amerikaner derzeit vorm Fernsehen. Anfang September hatte der Präsident „Operation Midway Blitz“ gegen „die schlimmsten der schlimmsten kriminellen Ausländer in Chicago“ ausgerufen. Dazu postete er ein AI-generiertes Bild, das ihn im Outfit des sadistischen Oberstleutnants Bill Kilgore aus „Apocalypse Now“ vor der brennenden Skyline von Chicago zeigt. „Ich liebe den Geruch von Deportationen am Morgen“, erklärte er: Die Millionenstadt werde bald erfahren, warum das Verteidigungsministerium neuerdings „Kriegsministerium“ heiße.
Panzerfahrzeuge rollen durch US-Straßen
In den frühen Morgenstunden des 30. September war es soweit. Da donnerten plötzlich Hubschrauber über einer Wohnanlage im Süden der Millionenstadt, während auf der Straße Panzerfahrzeuge anrollten und hunderte Schwerbewaffnete in Tarnuniformen das Gebäude stürmten, als stünde es irgendwo im Irak oder in Vietnam. Verschreckte Nachbarn filmten die surreale Szene. Heimatschutzministerin Kristi Noem postete anschließend ein perfekt geschnittenes Video und ließ verkünden, man habe 37 Mitglieder einer venezolanischen Drogenbande festgenommen. Belege lieferte sie nicht.
Noch verstörender als diese Furcht einflößend inszenierte Verbrecherjagd sind die Aufnahmen alltäglicher Übergriffe vermummter Beamter ohne Namensschild und Dienstplakette, die derzeit das Netz fluten. Da sieht man, wie ein mexikanischer Blumenverkäufer ohne erkennbaren Grund von der Straße deportiert wird, bewaffnete Grenzschutzpolizisten grimmig auf dem Chicago River patrouillieren und ein Fahrradfahrer bedroht wird, weil er einem Polizeiauto folgte. In Wohngegenden mit hohem lateinamerikanischen Bevölkerungsanteil herrscht pure Angst. Viele Eltern trauen sich kaum noch, ihre Kinder zur Schule zu schicken. „Die Einwohner von Chicago und Portland leben in einem Polizeistaat, wo maskierte Bewaffnete kidnappen können, wen sie wollen“, beschreibt der renommierte Politikwissenschaftler Don Moynihan von der Universität Michigan die Situation drastisch.
Mehr als 1000 Festnahmen in Chicago
Mehr als 1000 Menschen wurden in Chicago nach offiziellen Angaben bislang festgenommen. Ob es sich dabei um Kriminelle oder um Migranten ohne Vorstrafen handelt, ist unklar. Bislang werden die Betroffenen von Bundespolizisten verschiedener Einheiten abgeführt. Dabei tut sich vor allem die Abschiebepolizei ICE hervor, die mit ihrem auf 28 Milliarden Dollar verdreifachten Budget gerade 10.000 zusätzliche Beamte einstellt. Bewerber müssen keinen höheren Schulabschluss haben. Ihnen winken eine Begrüßungsprämie von 50.000 Dollar und das gute Gefühl, „unser heiliges Land verteidigen“ zu können, wie das das Ministerium in einer Anzeigekampagne wirbt.
Doch immer stärker soll nach Trumps Willen das Militär polizeiliche Aufgaben übernehmen. Gegen den ausdrücklichen Protest der demokratischen Gouverneure hat er dieNationalgarden der Bundesstaaten Illinois und Oregon, zu denen Chicago und Portland gehören, unter seinen Befehl gestellt und zusätzlich Truppen aus republikanischen Bundesstaaten dorthin in Marsch gesetzt. Ausdrücklich nennt er die Städte „Kriegsgebiete“, in denen angeblich kriminelle Ausländer und die linksradikale Antifa rebellieren.
„Wir sehen einen verfassungswidrigen Einmarsch“
„Es gibt hier keinen Aufstand“, widerspricht Gouverneur Pritzker entschieden: „Wir sehen nur einen verfassungswidrigen Einmarsch der Bundesregierung.“ Mit lautstarken Protesten, satirischen Aktionen und Gerichtsklagen versuchen sich die Betroffenen vor der militärischen Invasion zu schützen. In Portland demonstrieren Aktivisten neuerdings in aufblasbaren Tierkostümen und posten die friedlich-heiteren Szenen mit ironischen Kommentaren wie „Portland ist bis auf die Grundmauern abgebrannt“ - einem Trump-Zitat. Pritzker meldete sich kürzlich als „Krisenreporter“ mit schusssicherer Weste aus der Innenstadt von Chicago in der Late-Night-Show von Jimmy Kimmel: „Wie Sie sehen können, herrschen hier Chaos und Verwüstung“, sagte er: „Die Leute werden gezwungen, Hotdogs mit Ketchup zu essen“ - ein Tabu im Mittleren Westen.
Vor Gericht haben beide Bundesstaaten in der ersten Instanz Erfolge erzielt, die kurz darauf in den Berufungsverfahren relativiert wurden. Nach den jüngsten Eilentscheidungen bleiben die Nationalgarden ihrer Bundesstaaten unter Trumps Befehl, dürfen aber vorerst nicht in den Städten eingesetzt werden. Wie der Rechtsstreit am Ende ausgeht, ist offen.
Donald Trump lässt ultrarechte Aktivisten im Weißen Haus referieren
Trump bereitet ohnehin längst einen dramatischen Schritt vor, um ein mögliches gerichtliches Verbot auszuhebeln. Immer unverfrorener behauptet er, Portland und andere Städte befänden sich „unter Belagerung durch die Antifa“. Mehrere Stunden ließ er ultrarechte Aktivisten kürzlich im Weißen Haus über die Gefahren der antifaschistischen Bewegung referieren, die in Wahrheit keine festen Strukturen hat. Die linke Antifa sei genauso bedrohlich wie die islamistische Terrororganisationen ISIS, behauptete Ministerin Noem.
Gegen diesen Popanz erwägt Trump nun ein Gesetz aus dem 19. Jahrhundert zu aktivieren: den „Insurrection Act“. Das lange vergessene Paragraphenwerk würde ihm ermöglichen, wegen eines Aufstands auch das aktive Militär im Inneren einzusetzen. „Wenn es sein muss, werde ich das anwenden“, versichert er. Seinem Widersacher Pritzker droht er derweil mit der Verhaftung.
„Er will Chaos, Angst und Durcheinander verbreiten“
Der ebenso massige wie vermögende Gouverneur reagierte demonstrativ gelassen: „Komm und hol mich!“, provozierte er den Präsidenten. Doch über den Ernst der Lage macht sich der Demokrat keine Illusionen: Trump wolle bewusst die Gewalt eskalieren, glaubt er: „Er will Chaos, Angst und Durcheinander verbreiten und es so darstellen, als seien friedvolle Demonstranten gewalttätige Horden, indem er sie mit Tränengas beschießen lässt.“ Noch haben sich die Protestler nicht provozieren lassen. Aber ein einzelner Zwischenfall könnte den Vorwand für einen brutalen Militäreinsatz liefern.
Pessimisten fürchten schon länger, dass sich Trump mittelfristig eine loyale Miliz mit regulärer Präsenz in Amerikas Städten schaffen will. Auch Pritzker hält das für wahrscheinlich. Für die Parlamentswahlen 2026 äußerte der Gouverneur am Wochenende eine düstere Prognose: „Ich glaube, Trump wird dann seine Leute neben den Wahllokalen postieren.“