Ilja Jaschin kam über einen Gefangenenaustausch nach Köln. Er ist überzeugt: Russische Agenten überwachen ihn auch in Deutschland.
„Ich weiß, wie Agenten aussehen“Kreml-Kritiker schildert „seltsamen Vorfall“ in Café
Reicht der Arm von Wladimir Putin bis nach Deutschland? Kreml-Kritiker Ilja Jaschin ist sich sicher, während eines Café-Besuchs in Berlin mit einem Freund von einem russischen Agenten überwacht worden zu sein. Er habe einen „seltsamen Vorfall“ erlebt, berichtet Jaschin. Ein Mann am Nebentisch habe plötzlich sein Handy gezückt und angefangen, ihn zu filmen. „Dieser Mann war kein normaler Café-Besucher, sondern hat uns ausspioniert“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Ich weiß mittlerweile sehr gut, wie russische Agenten oder Polizisten aussehen.“
Jaschin lehnt trotz der möglichen Gefahren durch den russischen Geheimdienst einen Polizeischutz in Deutschland ab. Bei seiner Ankunft nach dem beispiellosen Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen vor rund einem Monat sei ihm ein Personenschutz angeboten worden, so der Putin-Gegner. Das wolle er „auf keinen Fall“. „Ich hatte nicht mal in Moskau Bodyguards, warum sollte ich dann hier welche haben?“
Ilja Jaschin in Deutschland von Wladimir Putin überwacht?
Auf den seit mehr als zweieinhalb Jahren andauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine angesprochen, sagte Jaschin: „Es darf keine Illusion darüber geben, dass Putin sich mit der Ukraine zufriedengeben würde.“ Vielmehr sollten sowohl der Westen als auch die russische Opposition alles dafür tun, „um die Ukraine zu retten“. In Russland hatte der prominente Kreml-Kritiker 2022 eine achteinhalbjährige Haftstrafe bekommen, weil er offen die von Russen angerichteten Gräueltaten im Kiewer Vorort Butscha angesprochen hatte.
Zugleich beklagte Jaschin, dass der Raum für kritische Meinungen in Russland immer enger werde. Die meisten Leute hätten Angst, sich gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und sein Regime zu stellen. „Putin hat mein Volk als Geisel genommen“, sagte er.
Kreml-Kritiker Ilja Jaschin kam bei Gefangenenaustausch nach Köln
Bei einem beispiellosen Gefangenenaustausch wurden Anfang August von Russland und Belarus neben Jaschin 15 weitere Menschen freigelassen, die unter anderem wegen ihrer Tätigkeiten als Journalisten, Künstler, Oppositionelle oder Aktivisten in Gefangenschaft geraten waren. Im Gegenzug wurden zehn Personen an Moskau übergeben, darunter der verurteilte „Tiergartenmörder“ Wadim Krassikow und Spione.
Jaschin landete nach seiner Freilassung am 1. August am Flughafen Köln/Bonn und wurde dort zusammen mit den ebenfalls freigelassenen russischen Oppositionellen Ilja Jaschin und Andrej Piwowarow von Bundeskanzler Scholz in Empfang genommen worden.
Ilja Jaschin am Flughafen Köln/Bonn von Bundeskanzler Olaf Scholz empfangen
Jaschin ist ein bekannter jüngerer Vertreter der liberalen russischen Opposition in Russland und war mehrere Jahre in Moskau Kommunalpolitiker. 2022 wurde er zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er offen die von Russen angerichteten Gräueltaten im Kiewer Vorort Butscha angesprochen hatte. Offizielle Urteilsbegründung: „Falschaussagen“ und „Diskreditierung der Armee“. Richterin Oxana Gorjunowa führte damals, im Dezember 2022, knapp zehn Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges, aus: „Russland führt in der Ukraine keinen Krieg.“ Jaschin habe aus „politischem Abscheu“ eine „reale Gefahr für die Verbreitung eines negativen Bildes über die russische Armee“ geschaffen.
Über seine Haftzeit sagte Jaschin, die Unterstützung vieler Gleichgesinnter habe ihm geholfen. „In zwei Jahren Gefängnis habe ich etwa 30.000 Briefe und Postkarten bekommen“, sagte er. „Wenn ich die gelesen habe, habe ich mich frei gefühlt.“ Etwa 10.000 Briefe habe er beantwortet, „bis zu Blasen an den Fingern vom Schreiben“.
Jaschin in Berlin: „Dieser Krieg ist eine Tragödie für die Ukraine“
Seit seiner Ankunft in Berlin kritisiert Jaschin, der zu den bekanntesten russischen Oppositionellen gehört, Wladimir Putin weiter öffentlich. Putin habe die Ukraine mit Krieg überzogen, sagte Jaschin bei einem ersten öffentlichen Auftritt Anfang August in Berlin. Mehrere Hundert, meist jüngere Leute, waren dazu in den Mauerpark der Hauptstadt gekommen.
„Dieser Krieg ist eine Tragödie für die Ukraine“, sagte Jaschin. Zugleich verlaufe die Front des Konflikts auch durch Russland, wo Kritiker eingesperrt würden, und durch Belarus, wo der Diktator Alexander Lukaschenko sein Volk unterdrücke. Jaschin forderte die Freilassung von politischen Häftlingen in Belarus wie der Oppositionellen Maria Kolesnikowa, von russischen Politgefangenen und von gefangenen Ukrainern in Russland. (pst mit dpa)