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Wohnen in den USAHälfte des Einkommens geht für Miete drauf

Lesezeit 4 Minuten
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Mieter demonstrieren in Los Angeles gegen steigende Mietpreise.

Berlin – Der amerikanische Sozialwissenschaftler Matthew Desmond forscht im Bereich Armut und Gentrifizierung in den USA, wo Zwangsräumungen in vielen Städten auf der Tagesordnung sind. Mehr als ein Jahr lebte er unter verarmten Familien in Wohnheimen und auf Bauwagenplätzen, erlebte Zwangsräumen mit und schrieb ein Buch darüber. Am Morgen ist er aus Boston nach Berlin geflogen, um am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) einen Vortrag zu halten. Draußen herrschen 25 Grad, Desmond freut sich über das Brandenburger Mineralwasser: „I love it“, sagt er.

Herr Desmond, wie würden Sie Gentrifizierung definieren?

Gentrifizierung wird meist über Verdrängung definiert. Das passiert,  wenn die Preise für Wohnungen so hoch geworden sind, dass Familien wegziehen müssen,  weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Es gibt zwei Arten: Im ersten Fall sind nur Stadtteile oder Nachbarschaften von Gentrifizierung betroffen. Aber es gibt aber auch eine Gentrifizierung, die die ganze Stadt betreffen kann. Das passiert in den USA zum Beispiel in Seattle, New York, San Francisco oder Boston, in Europa geschieht das momentan in London. Und das ist wirklich besorgniserregend. 

Wohnen und Armut, das sind Begriffe, die mittlerweile oft in einem Atemzug genannt werden.

Ja, Amerika ist die reichste Demokratie und hat gleichzeitig die höchste Armutsrate. In der Debatte geht es jedoch meist um Jobs und schlechte Löhne, das ist aber nur ein Teil des Problems. Das Thema Wohnen wird in den USA innerhalb der  Armutsdebatte oft nur am Rande behandelt. Doch das gehört zusammen. Wir sind in den USA jetzt an einem Punkt, an dem die meisten ärmeren Familien die Hälfte ihres Einkommens für die Miete aufbringen müssen. Bei einigen sind es sogar 70 Prozent und mehr. Wir müssen uns in den USA die Frage stellen, ob wohnen nicht das Recht eines jeden Menschen ist.

Wie hat sich die Gentrifizierung in den USA in den letzten zehn Jahrzehnten entwickelt?

Während die Löhne sich kaum verändert haben und sogar in einigen Fällen gesunken sind, sind gleichzeitig seit den 2000er Jahren die Kosten für Wohnungen und Häuser stark angestiegen. In den USA gibt es zwar Wohnungsprogramme, doch nur wenige Familien haben Anspruch darauf.   Mehr als zwei Drittel der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, erhalten keine Unterstützung vom Staat, um ihre Wohnungen finanzieren zu können.

Sie haben für fast ein Jahr in Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin mit Familien auf einem Bauwagenplatz und in einem Wohnheim zusammengelebt, die von dieser Problematik betroffen sind. In ihrem Buch „Evicted: Poverty and Profit in the American City“, das dieses Jahr erschienen ist, berichten Sie über Räumungen und Familien, die einfach auf die Straße gesetzt wurden, weil sie sich die Wohnungen nicht mehr leisten konnten.

Ja, das war sehr deprimierend, das ging unter die Haut.  Ich war bei einigen Räumungen dabei. In den USA klopft ein Polizist einfach an die Tür und hält der Familie die richterliche Anordnung vor die Nase. Dann haben die Betroffenen zwei Möglichkeiten: Entweder alle persönlichen Sachen und Möbel werden auf einen LKW geladen und zwischengelagert. Die Familien bekommen die Gegenstände erst zurück, wenn sie Geld gezahlt haben. Die meisten können das Geld dafür nicht aufbringen. Also lassen sie die Möbel und Gegenstände lieber auf den Bürgersteig stellen. Einer von acht Mietern in Milwaukee ist in den letzten zwei Jahren unbeabsichtigt aus seiner Wohnung vertrieben worden. Er muss dann auf der Straße leben oder schläft in einem Obdachlosenheim.

Was waren die Gründe für die Räumungen?Man braucht keinen besonderen Grund, wenn man 50 bis 70 Prozent seines Einkommens für die Wohnung ausgeben muss. Das können Kleinigkeiten sein, die dann zu einer Räumung führen. Mehr als 90 Prozent der Betroffenen, die vor Gericht stehen, haben eine Mietzahlung ausfallen lassen. Der Prozess kann dann sehr schnell gehen.

Was bedeutet das für die Familien?

Eine Räumung ist ein Schock für eine Familie, das verändert das Leben von einen auf den anderen Tag. Eine Generation zuvor waren Räumungen selten. Aber inzwischen ist das ein normaler Vorgang. 2,8 Millionen Wohnungen werden in den USA in Kürze geräumt. Räumungen verursachen Armut. Das kann dich deinen Job kosten, weil die Situation natürlich nervenaufreibend ist, man verliert das Umfeld, Kinder müssen eventuell die Schule wechseln und das alles wirkt sich natürlich auch auf die Gesundheit aus.

Gibt es etwas Vergleichbares in Europa?

Nicht auf diesem Level. Aber das Problem wächst  auch in Europa. In Großbritannien werden jährlich Daten zu Räumungen veröffentlicht. Jedes Jahr werden dort erneut Rekorde gebrochen. Die Zahl der Räumungen ist dort so hoch, wie nie zuvor.

Matthew Desmond

Matthew Desmond (36) ist Associate Professor für Soziologie an der Harvard Universität und Autor des Buches „Evicted: Poverty and Profit in the American City“, das im März erschienen ist. Desmond war Gast am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und ist dort in der Reihe „Distinguished lectures“ aufgetreten.