Wege aus der ZuckersuchtWie man den süßen Versuchungen widersteht

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Vielen fällt es schwer, im Alltag auf Zucker zu verzichten. (Symbolbild)

  • Nach den von fettigem Essen und Alkohol geprägten Karnevalstagen nehmen sich viele vor, wieder mehr auf eine gesunde Ernährung zu achten.
  • Doch gerade nach den Karnevalsumzügen locken noch viele Kamelle und süße Versuchungen, denen man häufig nur schwer widerstehen kann.
  • Warum es so schwer ist, "nein" zu sagen, und wie man Essgewohnheiten leichter ändert, erklärt die Heilpraktikerin und Buchautorin Inke Jochims.

Frau Jochims, Sie haben langjährige Erfahrung in der Therapie der Zuckersucht. Ab wann ist eine Grenze zur Sucht tatsächlich überschritten?

Überschritten ist die Grenze, wenn sich jemand ein Stück Schokolade vornimmt und dann nicht mehr aufhören kann, bis er zwei Tafeln verputzt hat. Wenn es eine echte Abhängigkeit von dem Stoff zur Stimmungsregulierung gibt. Das Ausmaß des Kontrollverlustes bestimmt, ob Zucker zum Suchtstoff geworden ist oder nicht.

Was macht Zucker zum Feind?

An sich ist Zucker kein Feind. Wenn jemand jeden Tag bewusst und mit Genuss ein Stück isst, dann kann das nährend sein und wegen der Freude an der Sache, die sich auch physiologisch auswirkt, sogar gesund. Zuckersucht hat physiologische Gründe, die in der Wirkung der Substanz auf den Körper liegen, und psychologische Gründe. Beide greifen ineinander.

Wir wissen mehr denn je über gesunde Ernährung und die medizinischen Aspekte von Diäten. Wieso nützt uns das oft nichts im Kampf gegen die Pfunde?

Weil kognitives Wissen wie „Zucker ist schlecht“ das Essverhalten nicht oder nur zu einem ganz geringen Ausmaß steuert. Es wird von Emotionen gesteuert, von erlernten, häufig unbewussten Essmustern, von Konditionierungen wie Zucker = Liebe. Dann wird Zucker als symbolischer Ersatz gegessen. Das Problem beginn bereits mit dem Ausdruck Kampf. Kampf bedeutet Stress und dieser verändert die Biochemie so, dass wir keine Nährstoffe mehr assimilieren, Muskeln abbauen und die Fettverbrennung gesenkt wird.

Tappen Frauen einfach in eine Schönheits-(Str)ess-Falle?

Ich nenne das Problem „Weightism“. Wir pflegen ein Schönheitsideal, das etwa zwei Prozent der Frauen erreichen können. Etwa neun von zehn Frauen lehnen ihren Körper ab. Etwa 49 Prozent aller Mädchen von neun Jahren haben schon einmal eine Diät gemacht. Etwa 98 Prozent aller Diäten scheitern. Es scheint so zu sein, als wären wir ziemlich komplett auf dem falschen Dampfer.

Wieso ist der Wunsch abzunehmen selten eine rein körperliche Angelegenheit?

Wir werden jeden Tag von angeblichen Experten damit bombardiert. Es gibt einen immer größer werdenden Druck, sich an eine Norm anzupassen, von der sich die Mediziner keinesfalls so sicher sind, wie sie behaupten, dass sie auch gesund ist. Natürlich ist ein Body-Mass-Index von über 40 problematisch, aber der permanente Stress ist es auch. Die meisten Menschen assoziieren mit Übergewicht dumm, faul und undiszipliniert. Die wenigsten Menschen wissen, wie das Gewicht tatsächlich vom Gehirn geregelt wird und dass Strategien wie: Kalorien rein/Kalorien raus praktisch nicht funktionieren. Die Biologie des Körpers ist etwa vier Millionen Jahre alt und definitiv nicht an das angepasst, was wir heute konsumieren. Die Folge ist eine hormonelle Fehlregulation, die dazu führt, dass das Gehirn dafür sorgt, dass kein Fett abgebaut wird.

Wieso sind Gefühle wie Scham und Schuld so häufig verknüpft mit dem Wunsch, abzunehmen?

Wir beginnen mit einem Verbot. Du darfst xyz nicht. Ab heute keine Milch mehr, keine Kohlenhydrate mehr, keine Schokolade mehr, kein Fleisch mehr, kein Fett mehr – was der aktuelle Diätguru eben gerade nicht so gut findet. Je mehr etwas verboten ist, desto mehr begehren wir es. Das ist völlig normal. Gesund wäre es, alles zu 80 Prozent richtig machen zu wollen. Aber wir wollen 100 Prozent. Gar keine Kohlenhydrate mehr, nie wieder. Gar kein Fett mehr, nie wieder. Als nächstes wird der Wunsch unüberwindlich, die Regel gebrochen und es beginnt ein innerer Dialog: Versager, schlecht, Schuld. . . Da man ja gesündigt hat, tut man Buße und verbietet es sich noch mehr. Ein Teufelskreis negativer Emotionen.

Wieso fällt es so schwer, aus dem Teufelskreis auszubrechen?

Weil wir kein liebevolles und nährendes Weltbild haben, wenn es ums Essen geht. Wir behandeln Essen, als wäre es ein Feind. Wenn man wirklich annimmt, dass z. B. Kohlenhydrate böse sind, führt man Krieg. In Wahrheit ist kein einziges Lebensmittel böse oder gut. Es liegt da und tut gar nichts. Wir machen etwas damit, indem wir es emotional besetzen. Wir kennen nur die Verbots-Kampf-Strategie, nicht die Entspannung-Selbstakzeptanz-Strategie. Das muss sich ändern, denn die alte Strategie funktioniert nicht und hat uns kollektiv ins Desaster geführt. Man muss die emotionale Verbindung lösen, die Essen und Gefühle häufig haben.

Dabei wollen wir doch alle nur das Eine: glücklich sein, oder?

Aber viele Menschen glauben, dass sie erst dann glücklich sein können, wenn sie dünn sind und in Kleidergröße 34 passen. Also leben sie in der Zukunft, einer Zukunft, die nie kommt. Aber die Hoffnung bleibt: Eines Tages schaffe ich es, die Zukunft wird prächtig und dann darf ich leben. Mit dieser prächtigen Zukunft verglichen ist die Gegenwart eher mies und beschämend und überdies ist man immer innerlich angespannt und unglücklich. Das meiste, was mit dem Gewicht verbunden ist, ist auch jetzt schon erreichbar. Man kann jetzt schon einen Partner haben, Tanzen gehen, Freunde haben, Achtung erringen.

Welche Rolle spielt Stress?

Stress ist ein Ausdruck für eine Reaktion des Körpers auf ein bestimmtes Ereignis, zum Beispiel einen Säbelzahntiger. Wenn das Nervensystem einen solchen entdeckt, macht es uns bereit zu kämpfen oder zu fliehen und das bedeutet, jegliche Verdauungstätigkeit und jegliche Regeneration wird eingestellt. Aber solche Stressoren kommen nicht nur von außen, auch Gedanken und Gefühle sind Stressoren. Wenn man ständig im niedrigschwelligem Stress ist, dann wird ein Hormon ausgeschüttet, dass dem Körper sagt, er möge bitte Fett speichern, Muskeln abbauen und keine Nährstoffe mehr assimilieren. Ebenfalls wird ein Botenstoff ausgeschüttet, der die Gier nach Süß anheizt.

Wie können Frauen, denn die sind es ja doch in der Mehrzahl, lernen, achtsamer mit sich umzugehen?

Langsam essen, ganz bewusst. Nicht gleichzeitig telefonieren, Kinder wickeln, E-Mails lesen und am Kühlschrank naschen. Bewusst eingenommene Mahlzeiten, kein Auslassen von Mahlzeiten, keine Buße, sondern langsam, genussvoll und möglichst mit anderen Menschen zusammen essen. Wenn man sich doch erwischt, dann achtsam sagen: Aha, das bin ich, die jetzt gerade am Kühlschrank nascht. Und dann kann man sagen: Ich wähle es, das jetzt zu tun. Ich verurteile mich nicht, sondern akzeptiere mich auch als naschendes Kühlschrank-Monster.

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