Ex-Verschickungskind erzählt„Sie haben mich bis zum Erbrechen mit Essen vollgestopft“

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Kurt Heinen (73) aus Köln wurde mit neun Jahren nach Norderney auf Kur geschickt und erlebte dort Schreckliches. 

  • Nach dem Krieg sind viele Kinder ohne ihre Eltern in Kur geschickt worden. Sie sollten sich dort erholen oder zunehmen. Statt dessen habe viele Kinder schreckliche Erfahrungen gemacht.
  • Lange Zeit war nicht bekannt, dass viele der sogenannten Verschickungskinder Ähnliches erlebt haben. Jetzt arbeiten Bücher ihr Schicksal auf.
  • Kurt Heinen (73) aus Köln war als Kind auf Norderney und berichtet hier von seinen Erfahrungen.

Köln – Ich bin im Juni 1947 in Aachen geboren, in einer christlichen Einrichtung für Mütter mit unehelichen Kindern. Meine Mutter hatte bereits einen Sohn. Mein Vater war ein belgischer Soldat. Sie lebte zu der Zeit ausgebombt in einem Lastwagen und hatte überhaupt keine Möglichkeit, mich zu ernähren. Also kam ich wenige Tage nach meiner Geburt nach Aachen in ein Waisenhaus. Dort wäre ich fast verhungert, aber die Nonnen haben mich durchbekommen.

„Meine Eltern haben mir nicht gesagt, dass ich adoptiert bin“

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Als Kind war Kurt Heinen zu dünn und sollte deshalb in der Kur aufgepäppelt werden. 

Mit zwei Jahren bin ich in ein Eifeldorf an der belgischen Grenze adoptiert worden. Meine Adoptiveltern konnten keine eigenen Kinder kriegen und suchten einen Nachfolger für ihren Bauernhof. Außer mir haben sie sich noch zwei andere Jungen angeschaut und sich am Ende für mich entschieden, weil mein Adoptivvater in mir einen Bauern sah – das war der größte Irrtum seines Lebens. Dass ich ein Adoptivkind bin, habe ich erst mit zehn im Streit von einem Mitschüler erfahren. Meine Eltern haben mit mir nie darüber gesprochen.

„Ich sollte unbedingt Bauer werden, war aber viel zu dünn“

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Kurt Heinen als Kind mit seinen Adoptiveltern bei der Arbeit auf dem Feld. 

Ich bin in sehr deftigen, ländlichen Verhältnissen aufgewachsen und musste schon mit sieben Jahren in der Landwirtschaft helfen. Meine Adoptiveltern waren sehr gut zu mir, aber mit dem Vater hatte ich ab und zu Schwierigkeiten, weil ich so gerne las. Er war ein gebildeter, aber einfacher Mann, für den seine Arbeit auf dem Acker alles war. Sie wollten aus mir nichts Akademisches heraus arbeiten, das wäre ja gegen die Absichten gewesen, ich sollte ja Bauer werden. Sie merkten aber schon bald, dass ich der Falsche dafür war, unter anderem deshalb, weil mich jeder kleine Fleck an meiner Kleidung störte. Also adoptierten sie 1952 noch ein Mädchen, das am Ende aber auch keine Bäuerin wurde.

Zum Weiterlesen

Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Psychosozial-Verlag, 29,90 Euro  Hilke Lorenz: „Die Akte Verschickungskinder. Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden“, Beltz Verlag, 22 Euro Sylvia Wagner: „Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975“, Mabuse-Verlag, 34,95 Euro Sabine Ludwig: „Schwarze Häuser“, Dressler Verlag, 16 Euro

Ich selbst las nicht nur gern, sondern war auch spindeldürr und nahm einfach nicht zu, obwohl es immer ausreichend zu essen und zu trinken gab. Außerdem hatte ich ein Bronchienleiden und habe manchmal zehn Tage Luft schnappend im Bett gelegen. Dann kam in regelmäßigen Abständen eine Fürsorgerin, um nach mir zu schauen.

Als ich neun war, kam die Sache mit der Erholung auf Norderney. Die Fürsorgerin machte den Vorschlag mit der Verschickung, weil ich so mager war. Das war für mich damals schon ein ganz großes Problem, weil ich so viel Angst davor hatte, von Menschen verlassen zu werden. Außerdem wollte ich nicht an fremde Orte. Das war für mich schrecklich. Ich war bis dahin nur einmal bei Verwandten in Belgien gewesen und dann hieß es: „Der Junge kommt in Erholung.“

„Als wir auf Norderney ankamen, war ich wie gelähmt“

Die Geschichte der Verschickungskinder wird aufgearbeitet

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Foto: Hanspeter Ludwig

Sie sollten sich erholen, ihren Husten kurieren oder ein paar Kilo zunehmen. Doch viele Kinder, die nach dem Krieg in Erholungsheime geschickt wurden, kamen stattdessen schwer traumatisiert zurück. In einigen Heimen wurden sie gedemütigt, geschlagen und zum Essen gezwungen. Auch zur Toilette durften manche nicht gehen. Zurück bei den Eltern, schwiegen sie entweder oder man glaubte ihnen nicht. So blieb das Schicksal der sogenannten Verschickungskinder lange verborgen.

Die Bezeichnung Verschickungskinder stammt daher, dass die Kinder alleine ohne ihre Eltern mit dem Zug in die Heime verschickt wurden. Zudem knüpft er an die Kinderlandverschickung im Nationalsozialismus an. Der Begriff hielt sich übrigens noch bis in die 1990er-Jahre, als viele Heime zu Mutter-Kind-Heimen wurden und es unüblich wurde, Kinder alleine in Kur zu lassen.

Die Kinder wurden mit ärztlicher Diagnose und auf Kosten der Krankenkasse verschickt, meist für sechs Wochen, manchmal aber auch länger. Manche Kinder waren noch im Säuglingsalter, die meisten noch nicht in der Schule. Es bestand ein Besuchsverbot für Eltern, Briefe wurden zensiert.

Auch Anja Röhl hat 1961 in einem Kindererholungsheim schlimme Dinge erlebt. Weil sie zu viel schwatzte, wurde ihr der Mund mit Leukoplast zugeklebt. Von einer der „Tanten“ wurde sie geschlagen, weil sie sich erbrochen hatte. 2003 schrieb sie ihre Erlebnisse auf und veröffentlichte sie in einer Zeitung und auf ihrer Internetseite. Kurz darauf bekam sie Hunderte Zuschriften von Menschen, denen in den 1950er bis 1970er-Jahren Ähnliches widerfahren war. Die Betroffenen berichten übereinstimmend von Strafmaßnahmen wie Beachtungs- und Liebesentzug, Schlägen, Demütigungen vor der Gruppe, Isolation, Wegnahme von Kuscheltieren und anderen persönlichen Dingen oder Wegsperren. Röhl begann daraufhin, das Elend der Verschickungskinder zu erforschen und gründete den Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen. Auf einer speziellen Internet-Plattform für Verschickungskinder veröffentlicht sie Erfahrungsberichte und vernetzt Betroffene untereinander. Es gibt auch nach Bundesländern geordnete Untergruppen.

In ihrem Buch „Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt“ arbeitet sie Stück für Stück die Vergangenheit auf und stellt verschiedene Heime von Borkum bis Berchtesgaden mit Zeitzeugenberichten vor. Ebenso versucht sie, Gründe für die schlechte Behandlung der Kinder zu finden, wobei die Prägung durch den Nationalsozialismus und seine Erziehungsmaßnahmen im Vordergrund steht. Sie schreibt: „Für die weit über tausend westdeutschen Verschickungsheime wurde jedenfalls deutlich: Die Umgangsformen des klinischen Personals, also der Schwestern, Kindergärtnerinnen, Kinderpflegerinnen und Kurärzte mit den dort für sechs bis zwölf Wochen untergebrachten Kindern müssen eine einheitliche ideologische und Mentalitätsgrundlage gehabt haben, denn es war nicht nur einfach ein strenges und liebloses Regime, das dort zufällig geherrscht hätte, es wiederholen sich in allen Berichten immer wieder bestimmte Handlungen und Drohungen.“ 

Eines Tages holte mich also ein anderes Fräulein ab. Dann ging es zunächst nach Aachen zum Bahnhof und dann mit der Dampflok nach Norddeich. Allein diese Reise ohne meine Eltern war ein massiver Einbruch. Als wir auf Norderney ankamen, war ich wie gelähmt und völlig deprimiert. In dem Heim gab es evangelische Nonnen mit kleinen Häubchen, das hatte ich noch nie gesehen. Dort gab es auch einen großen Speisesaal. Wenn ich nervös war, konnte ich nichts essen. Das begriffen die nicht. Die haben uns wie eine Gans gestopft, weil sie der Meinung waren, wenn die Kinder dick und rund zurückkommen, haben sie eine gute Kur gehabt.

Die Betreuerinnen hatten ihre Lieblinge. Als sie merkten, dass ich nicht essen konnte, mochten sie mich nicht mehr. Der wichtigste Punkt in der Kur war, dass die Kinder zunahmen und in einen wohlgenährten Zustand kamen. Außerdem haben wir Wanderungen und Liegekuren gemacht, da musste man nach dem Mittagessen in unserem Schlafsaal zwei Stunden ruhen. Ich weiß noch, dass wir Bettnässer hatten, die hatten es noch schlechter. Bettnässer waren die alleruntersten. Da waren die Nichtesser noch eine Stufe darüber.

„Alle Jungen bekamen Pakete, nur ich nicht“

Ich war über Weihnachten im Heim, das war natürlich besonders schrecklich, nicht zuhause zu sein. Ich habe nur geweint, aber das interessierte die überhaupt nicht. Dann musste man vom Tisch wieder ins Bett. Alle Jungen bekamen Pakete, nur ich nicht. Das war eine Strafe. Es hieß nur: „Kurt, du musst essen. Warum isst du nicht?“ Dann habe ich gegessen und alles über den Tisch erbrochen. Da war es aus. Da wurden sie sowas von bösartig und schimpften, weil ich die Weihnachtsfeier verdorben hätte. Anschließend musste ich ins Bett. Da stellten sie mir wieder einen Teller mit Reisbrei hin. Unglaublich.

Mein Paket habe ich erst zehn Tage später bekommen, die einzige Verbindung, die ich zu meinen Eltern hätte haben können. Ich hatte in der ganzen Zeit keinen Kontakt mit ihnen, außer dass ich eine Karte schreiben durfte, die mir diktiert wurde. Wir hatten auch kein Telefon zu der Zeit. Man hätte aber ohnehin nicht telefoniert, weil man davon ausging, dass das Kind gut aufgehoben ist. Man machte sich nicht so viele Gedanken. Vor allem mein Vater war emotional sehr abgehärtet, weil er im Krieg lange in Sibirien gewesen war. Darüber hat aber nie jemand gesprochen. Die Leute waren durch den Krieg sehr abgehärtet und hatten ihre Emotionen verloren. Wenn man das weiß, kann man verstehen, dass ein Kind wie ich Schwierigkeiten hat, wenn es mit Emotionen kommt.

„Zuhause wurde ich dafür ausgeschimpft, dass ich nicht zugenommen hatte“

Ich war insgesamt sechs Wochen in Kur. Die anderen Jungen dort kamen fast alle aus Städten, die wussten Dinge, die ich gar nicht kannte und waren mir überlegen. Ich habe zwar ab und zu mit ihnen gesprochen oder gespielt, aber mich mit niemandem angefreundet, weil ich durch meine von den Betreuerinnen erzwungene Verhaltensweise total eingekapselt war. Als die Kur vorbei war, war die Heimfahrt für mich das größte Glück.

Zuhause wurde ich aber erstmal dafür ausgeschimpft, dass ich nicht zugenommen hatte. Meine Eltern haben kurz gefragt, wie es in der Erholung gewesen war. Ich sagte: „Ja, schön“ und das war’s. Mehr haben wir nicht darüber gesprochen. Sie fragten nicht, was wir gemacht haben oder wie die Schwestern zu uns waren. Ich war zwar sehr unglücklich, habe aber nicht gewagt, anzudeuten, was da gelaufen ist. Die Eltern hätten es mir nicht geglaubt und gesagt, dass ich mich nicht entsprechend verhalten habe. Also habe ich von vornherein nichts gesagt.

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„Nach meiner Rückkehr ging der normale Alltag nahtlos weiter“

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Kurt Heinen in seiner Wohnung.

Nach meiner Rückkehr ging der normale Alltag nahtlos weiter. Das war Landwirtschaft, das ging morgens um 5 Uhr los und hörte abends um 22 Uhr auf. Es war für mich normal, dass ich morgens um 6 Uhr mit meiner Mutter das Vieh versorgen und die Kühe auf die Weide treiben musste und dann zur Schule ging. Nachmittags half ich beim Saubermachen und Kochen.

Als klar war, dass ich kein Bauer werde, bin ich in Aachen auf eine weiterführende Schule gegangen und später nach Köln gezogen. Zu meiner Mutter hatte ich immer ein sehr gutes Verhältnis und habe sie bis zu ihrem Tod betreut. Mein Vater ist schon 1970 an seinem Kriegsleiden gestorben. Mit 40 Jahren habe ich auf eigenen Wunsch meine leibliche Mutter kennengelernt. Wir haben uns wenige Tage nach unserem ersten Telefonat getroffen. Wir haben uns ohne etwas zu sagen sofort beide erkannt. Inzwischen ist sie verstorben. Mit meiner Halbschwester, die sie nach mir bekommen hat, habe ich einen sehr netten Kontakt.

Auf Norderney bin ich noch einmal gewesen und ich bin mir sehr sicher, dass das Heim noch steht. Es ist ein sehr mächtiger Bau aus roten Ziegelsteinen. Ich bin aber nicht rein gegangen.

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