„Free Range Kids“Wieviel Freiraum brauchen unsere Kinder?

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Kind allein unterwegs - da könnte doch jederzeit was Schlimmes passieren, oder?

Kind allein unterwegs - da könnte doch jederzeit was Schlimmes passieren, oder?

Dass sie ihren zehnjährigen Sohn Rafi und ihre sechsjährige Tochter Dvora an einem Samstagnachmittag alleine zum Spielen in den nahegelegenen Park schickten, das war für Danielle und Alexander Meitiv aus dem US-Bundesstaat Maryland keine Frage. Die örtliche Polizei aber sah das ganz anders: Nach einem Hinweis aus der Bevölkerung griff sie die Kinder beim Nachhauseweg auf und brachte sie zum Kindernotdienst der Stadt.

Erst nach vielen Stunden wurden die Eltern kontaktiert und an den Pranger gestellt: Den Meitivs wurde Vernachlässigung vorgeworfen, weil Rafi und Dvora ohne Begleitung unterwegs waren. Man belehrte sie darüber, dass die Welt gefährlich sei und Kinder unter acht Jahren nicht ohne Aufsicht draußen sein dürfen. Schon einmal hatte das Elternpaar zuvor eine Verwarnung bekommen. Dabei wollten die Eltern in beiden Fällen ihren Kindern nur den Freiraum lassen, den sie ihnen zutrauten.

„Free Range Parenting“: Mehr Freiraum für Kinder

„Free Range Parenting“ nennt sich dieser Erziehungstrend aus den USA, dem sich auch die Meitivs verschrieben haben. Sie möchten ihren Kindern mehr zutrauen, sie sollen eigene Erfahrungen machen dürfen, Unabhängigkeit lernen und Grenzen austesten können. Immer wieder geraten Anhänger dieser Erziehungs-Bewegung in Konflikt mit den Behörden, denn in manchen Staaten gelten strenge Gesetze was die Aufsicht von Kindern betrifft. Die Meitivs wehren sich heftig gegen die Vorwürfe und wollen ihre Kinder auch weiterhin zur Selbständigkeit erziehen. Sie stehen seit dem Vorfall aber unter der Aufsicht des Jugendamts. Im Ernstfall könnte man ihnen sogar die Kinder wegnehmen.

In der US-Bevölkerung gibt es seit einiger Zeit eine regelrechte Sorge-Hysterie. Die Angst vor Kindesentführungen und Unfällen ist groß. Deshalb werden Kinder oft bis ins Kleinste überwacht. 2008 bekam das auch die Mutter Lenore Skenazy zu spüren, die ihren 9-jährigen Sohn alleine U-Bahn fahren ließ. Ein öffentlicher Entrüstungssturm folgte, sie wurde als die „schlechteste Mutter der Welt“ beschimpft. Später schrieb sie zum Thema das Buch „Free-Range Kids“, heute betreibt sie einen gleichnamigen Blog und hält Vorträge in aller Welt. Die „Free-Range-Bewegung“ ist eine Art Gegenbewegung zum „Helicopter Parenting“, bei dem Eltern ihre Kinder im Übermaß behüten.

Kind allein unterwegs: Hierzulande (noch) kein Aufreger

Dass Kinder auch mal alleine unterwegs sind, ist in Deutschland nicht selten. Gerade kleine Grüppchen Grundschul-Kids sieht man häufig ohne elterliche Begleitung im Wohngebiet oder im Park. Eine übertriebene Aktion wie die der US-Polizei ist hier nicht vorstellbar und würde einen Empörungssturm auslösen. Eltern, die ihren Kindern zutrauen, alleine einzukaufen, im Park zu spielen oder von der Schule heimzugehen, werden hier nicht schräg angeschaut oder gar der Vernachlässigung beschuldigt.

Deutsche Eltern sind, was die Betreuung der Kinder betrifft, einfach viel lockerer als die Amerikaner, schrieb jüngst auch ein in den USA lebender deutscher Journalist in der New York Times. Hier würden Eltern Kindern mehr Risiken zutrauen, während viele überbehütende amerikanische Eltern ihre Sprösslinge gar nicht erst draußen spielen lassen würden.

Wieviel Prozent der Deutschen würden ein Kind nicht alleine in den Park lassen? Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.

Auch hier geht der Trend hin zu mehr Überwachung

Obwohl wir sicherlich weit weg sind vom amerikanischen Modell, ist auch hier im Land ein allgemeiner Trend zu mehr Begleitung, Behütung und Überwachung zu spüren. Auf jeden Fall, wenn man die Kindheit der jetzigen Eltern als Vergleich heran zieht. Früher wurde man tagsüber zum Spielen geschickt und kam Stunden später zurück, ohne dass sich Eltern wunderten. Heute werden manche Kinder überall hin begleitet und auch kurze Wege mit dem Auto kutschiert. Sie dürfen nicht frei um die Häuser ziehen, sondern nur in Sichtweite oder an fest vereinbarten Orten spielen.

Das ist natürlich der Extremfall, der auch gerne als das „Helikopter“-Getue überbesorgter Eltern verspottet wird. Auf der anderen Seite ist mehr elterliche Fürsorge im Allgemeinen normaler geworden. Es gehört heute dazu, noch genauer darauf zu achten und zu begleiten, was das Kind wann und wo tut. Das liegt am veränderten Alltag und Umfeld von Kindern, aber auch an der bewussteren Erziehungskultur der heutigen Eltern. „Es ist nicht ein ausufernder elterlicher Kontrollwahn, der die Kindheit heute von der Kindheit in den 80er Jahren unterscheidet. Aber unsere Gesellschaft hat sich verändert und ist kindorientierter geworden“, sagte auch Erziehungswissenschaftlerin Sabine Walper jüngst in einem Brigitte-Interview zum Thema.

66 Prozent würden Kind nicht alleine in den Park lassen

Tatsächlich gefährlicher geworden ist die Welt nicht, das belegen immer wieder Kriminalstatistiken. Das Unsicherheitsgefühl vieler Erwachsenen ist dennoch eher angestiegen, was auch eine aktuelle Online-Befragung des Meinungsforschungsinstituts YouGov bestätigt. Darin finden 70 Prozent der Befragten, dass die Welt für Kinder unsicherer geworden ist. 66 Prozent würden ein Grundschulkind nicht alleine in den Park gehen lassen, 45 Prozent nicht erlauben, dass es alleine den öffentlichen Nahverkehr benutzt. Und 38 Prozent empfinden die eigene Nachbarschaft so unsicher, dass sie ein Kind dort nicht den Tag über unbeaufsichtigt spielen lassen würden – obwohl 80 Prozent der Befragten in ihrer eigenen Kindheit genau das tun durften.

Würden Sie ihr Kinder alleine im Park spielen lassen? Jeder Vater und jede Mutter muss diese Frage letzten Endes alleine beantworten. Wie lange man die Leine lässt und mit welchem Spielraum man die eigenen Kinder in die Welt hinauslassen möchte, das gehört zu den vielen kleinen Erziehungsregeln, die wir heute selbst festlegen müssen - aber auch dürfen. Das eigene Umfeld bietet sicher viele Orientierungspunkte. Und der Staat, anders als in de USA, glücklicherweise genug Raum, um das selbst zu entscheiden.

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