Starke StilleWas Eltern wissen sollten, die ein introvertiertes Kind haben

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Ein lächelnder Junge schaut den Betrachter an

Stille Kinder fallen kaum auf – doch in ihnen steckt so viel mehr, als man denkt.

Laute, gesellige Kinder bekommen meist Aufmerksamkeit und bleiben in Erinnerung. Ruhige Kinder werden in unserer schnellen, kreischenden Welt dagegen oft übersehen und unterschätzt. Antje Kunstmann kennt das gut, sie ist selbst introvertiert und hat vier introvertierte Kinder. Sie fordert: Es wird Zeit, laut zu werden für die stillen Kinder und endlich ihre ganz besonderen Stärken zu erkennen. Ein Gespräch.

Welche Situationen sind für Sie als introvertierter Mensch schwierig?

Antje Kunstmann: Gruppensituationen sind eine besondere Herausforderung für mich und auf Dauer sehr anstrengend. Ich sehne mich dann schnell danach, wieder für mich zu sein. Ein Hauptmerkmal von introvertierten Menschen ist es, immer wieder die Ruhe für sich zu brauchen, um dabei auftanken zu können. Extrovertierte Menschen ziehen dagegen neue Kraft im Kontakt mit anderen.

Welche Eigenschaften haben Introvertierte noch?

Antje Kunstmann ist Redakteurin und promovierte Biologin. Sie hat vier Kinder und lebt in Hamburg.

Antje Kunstmann ist Redakteurin und promovierte Biologin. Sie hat vier Kinder und lebt in Hamburg.

Introvertierte Menschen stehen in der Regel nicht gerne im Mittelpunkt und ziehen nicht gerne die Aufmerksamkeit auf sich. Sie haben häufig Schwierigkeiten, sich schnell auf unbekannte Situationen, neue Menschen und wechselnde Umgebungen einzustellen. Anders als Extrovertierte, die direkt auf Situationen und Menschen zugehen, beobachten Introvertierte lieber zunächst und nähern sich langsamer neuen Dingen an.

Sind Introvertierte in unserer schnellen, lauten Zeit dann oft überfordert?

Die Welt fordert ja permanent, dass man sich möglichst schnell und flexibel auf Neues einstellt. Unter diesen Bedingungen kommt es tatsächlich oft zu einer Überforderung. Introvertierte müssen hier stärker als andere lernen, eigene Grenzen zu ziehen. Bekommen sie lange Zeit keinen Rückzugsraum, laugen sie aus. Können sie sich allem Neuen aber in ihrem Tempo nähern, dann kommen sie gut klar.

Kommen Menschen schon introvertiert auf die Welt oder ist das auch anerzogen?

Introversion und Extroversion sind Persönlichkeitseigenschaften, die zu einem Großteil angeboren sind. Aber es spielt natürlich auch eine Rolle, welche Erfahrungen man macht. Ich selbst habe meinen Kindern die Introversion sicher biologisch mitgegeben, aber sie wachsen mit mir als introvertierter Mutter natürlich auch in einer Umgebung auf, die das noch fördert oder verstärkt.

Gibt es auch Mischformen – kann man extrovertiert sein und trotzdem introvertierte Züge haben?

Buchtipp

Cover des Buches „Lauter leise Kinder“

Antje Kunstmann: „Lauter leise Kinder – vom Glück, ein introvertiertes Kind zu haben", Ullstein Buchverlage, 256 Seiten, 17,99 Euro

Auf jeden Fall. Ich glaube, dass jeder Mensch beides hat. Es ist immer ein ganzes Spektrum. Auch ich bin nicht komplett und in allen Situationen introvertiert, aber eher auf der introvertierten Seite. Andere sind eher auf der extrovertierten Seite, selbst, die brauchen aber auch mal Ruhe für sich. Und es gibt einen großen Teil Menschen, die irgendwo in der Mitte liegen und je nach Bedingung flexibel zwischen beidem wechseln. Es ist auch gesünder, wenn man weder auf das extrem Laute noch auf das extrem Leise festgelegt ist.

Erkennt man von außen manchmal gar nicht so gut, ob jemand introvertiert ist?

Selbst ich erkenne das nicht immer. Ich dachte früher, andere Introvertierte müssten so sein wie ich. Doch es gibt ganz verschiedene Formen, das erzähle ich auch im Buch. Auch Barack Obama zum Beispiel hat introvertierte Seiten. Das sagt er selbst über sich und auch Wegbegleiter haben das bestätigt. Er kann charismatisch sein und tolle Reden halten, aber ist trotzdem auch ein leiser Mensch, der genügend Rückzugsräume zum Auftanken braucht.

In der Regel bekommen die Lauten Aufmerksamkeit. Werden leise Kinder oft übersehen?

Ja, leider. In einer Untersuchung wurden Lehrende befragt, an wen sie sich am Ende des Schuljahres erinnern. Sie nannten vor allem die lauten Kinder – viele der ruhigen hatten sie dagegen komplett vergessen. Introvertierte Kinder werden oft übersehen oder unterschätzt. Ich beobachte das auch bei meinen Kindern. Introvertierte Menschen gehen etwa in Gruppensituationen häufig unter. Dabei brauchen sie einfach nur ein bisschen Zeit, bis sie sich äußern. Sie denken länger über ein Thema nach und hätten eigentlich Gutes beizutragen. Wenn sie aber so weit sind, ist die Diskussion schon vorbeigezogen, dann werden sie meist nicht mehr gehört. Das ist für Kinder natürlich schrecklich. Und es entsteht der Eindruck, weil ein Kind sich nicht äußert, weiß es nichts oder hat kein Interesse. Stille Jungen haben noch größere Schwierigkeiten, weil sie nicht ihrem Geschlechterstereotyp entsprechen. Ihnen wird oft unterstellt, dass sie einfach keine Lust haben – anders als stillen, braven Mädchen, die eher dem Klischee entsprechen.

Können introvertierte Kinder zu Hause auch laut sein?

Absolut. Bei uns daheim ist es oft laut. In ihrer vertrauten Umgebung können meine Kinder auch mal aufdrehen. Manchmal kommt man beim Abendbrottisch kaum zu Wort, weil alle so viel erzählen wollen. Oft sagt man, Introvertierte haben ein Privat-Ich und ein öffentliches Ich. Wenn sie sich sicher fühlen, können Introvertierte auch aus sich herausgehen und haben daran sogar Spaß. Je öfter sie das in vertrautem Rahmen ausprobieren, desto mehr trauen sie sich das vielleicht auch in einer lauteren Umgebung.

Welche besonderen Stärken haben introvertierte Kinder?

Introvertierte haben ganz viele besondere Stärken. Sie sind sehr fantasievoll und einfallsreich und können ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Sie sind sehr vertraut mit ihrer inneren Welt und halten sich gerne in ihren Gedanken auf. So sind sie sich öfter selbst genug und unabhängiger von der Meinung anderer. Extrovertierte verlieren sich dagegen öfter mal im Außen und sind sehr auf Belohnungen angewiesen sind, sie wollen gut ankommen. Introvertierte Kinder sind eher von innen heraus angetrieben, von eigenen Interessen motiviert – und auch das macht sie unabhängiger.

Introvertierte Kinder haben auch viel Einfühlungsvermögen und sind sehr teamfähig, sie können anderen Raum geben und ihnen gut zuhören. Wenn es um Wettbewerb geht, schneiden Extrovertierte oft besser ab – geht es aber um Kooperation, liegen die Introvertierten vorne. Extrovertierte kommen in Gruppen anfangs sehr gut an und können andere mitreißen, wenn es aber längerfristig zu Schwierigkeiten kommt, sind introvertierte Kinder im Vorteil.

Was können wir von introvertierten Kindern lernen?

Wir könnten uns von ihnen abschauen, uns unabhängiger zu machen von äußeren Faktoren und uns öfter Zeit zu lassen, nachzudenken und zu beobachten, statt immer gleich aktiv zu werden. Auch anderen Menschen richtig zuzuhören ist eine Qualität, die viele Leute gebrauchen könnten.

Wie stärkt man diese Kinder, damit sie in dieser lauten Welt bestehen können?

Indem wir sie akzeptieren und schätzen und ihnen nicht suggerieren, sie müssten anders sein als sie sind. Nimmt man das Extrovertierte nicht immer als Maßstab und erkennt die Stärken der stillen Kinder, dann können sie auch aus sich selbst heraus in der lauten Welt bestehen. Eltern sollten zudem schauen, welche Bedürfnisse ihr Kind hat. Ein normaler Schultag ist für introvertierte Kinder anstrengender, sie sollten an den Nachmittagen genügend Rückzugsraum und Ruhe bekommen.

Für extrovertierte Menschen ist der Umgang mit introvertierten oft eine Herausforderung. Haben Sie einen Rat, wie sollte man am besten auf Introvertierte zugehen?

Es hilft sicher, in solchen Situationen nicht zu forsch zu sein und sich etwas zurückzunehmen, damit das introvertierte Kind Zeit genug hat, von selbst den Kontakt aufzunehmen. Auf der anderen Seite kann es für einen introvertierten Menschen auch eine Art Eisbrecher sein, wenn jemand extrovertiert ist. Grundsätzlich hilft es, sensibel zu sein für den Charakter und die Reaktion des Gegenübers und darauf auch Rücksicht zu nehmen.

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