LebensmüdeWas Eltern tun können, wenn ihre Kinder verzweifelt sind

Knapp ein Drittel aller Kinder und Jugendlichenhat schon mal an Selbsttötung gedacht.
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- Fast ein Drittel der Kinder und Jugendlichen hat schon einmal über eine Selbsttötung nachgedacht.
- Oft geht diesen Gedanken eine Depression voraus. Ein Alarmsignal. Wie Eltern diese erkennen können.
- Vermuten Eltern, dass ihr Kind Selbstmordgedanken hegt, sollten sie dies ihm gegenüber ansprechen, sagt Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Christoph Wewetzer.
Anna (Name geändert), 13 Jahre, hat sich verliebt. In Tim aus ihrer Schule. Er ist zwei Jahre älter und hat Anna per Handy-Textnachricht um ein Nacktfoto gebeten. Anna hat es ihm geschickt. Dass Tim ihr Foto an die Hälfte der Schüler ihrer Schule weiterleiten würde, ahnte sie damals nicht. Jetzt geht Anna nicht mehr zur Schule. Sie schämt sich unendlich und sieht keinen Ausweg mehr. Nachts, als ihre Eltern schlafen, versucht sie sich im Badezimmer der Wohnung die Pulsadern aufzuschneiden.
Die Anzahl der Jugendlichen, die angeben, sich das Leben nehmen zu wollen oder dieses bereits versucht haben, nimmt in den psychiatrischen Kliniken zu. Stabil bleibt dagegen die Zahl der vollendeten Suizide. Verglichen mit den 1980er Jahren ist sie sogar stark rückläufig. Dennoch ist der Selbstmord bei Jugendlichen die zweithäufigste Todesursache nach den Verkehrsunfällen. Im Jahr 2017 haben sich 184 15- bis 20-Jährige das Leben genommen.

Prof. Christoph Wewetzer ist Leiter der Städt. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Köln-Holweide.
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Was muss passiert sein, damit ein Teenager freiwillig aus dem Leben scheiden will? Heftigster Liebeskummer, tiefste Scham oder völlige Selbstaufgabe? Nicht erst seit dem Freitod von Torhüter Robert Enke vor genau zehn Jahren ist bekannt, dass eine Depression der größte Risikofaktor ist. Und zwar bei Kindern wie bei Erwachsenen. „Wesentlich für die Prävention von Selbstmorden ist daher das Erkennen der Depression“, sagt Professor Christoph Wewetzer. Der Leiter der städtischen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters behandelt in Köln-Holweide täglich depressive und suizidale Jugendliche.
In Zahlen
Etwa 10 000 Menschen nehmen sich jedes Jahr in unserem Land das Leben. Das sind fast dreimal so viele wie die Anzahl der Verkehrstoten. Fast 75 Prozent der Suizidverstorbenen sind männlich – und zwar weltweit. Die Gründe sind sehr unterschiedlich. Fast immer geht dem Selbstmord eine schwere psychische Krise voraus, die aber für das Umfeld oft nicht im lebensgefährlichen Ausmaß wahrnehmbar ist. Aber: Nicht jeder Suizidtote litt an einer psychischen Erkrankung. Etwa 60 Prozent hinterlassen einen Abschiedsbrief. (chn)Quelle: Agus e.V.
28 Kinder zwischen 10 und 15 Jahren haben sich 2017 in Deutschland das Leben genommen. Darunter waren 16 Jungs und 12 Mädchen. Die Zahl der Jugendlichen ist im gleichen Zeitraum signifikant höher. Unter den 15- bis 20-Jährigen waren es 184, die sich umgebracht haben. 132 davon männlich und 52 weiblich. (chn)Quelle: Statistisches Bundesamt
„Jeder von uns hat gute und schlechte Tage. Wenn Sie sich an den Tag erinnern, an dem es Ihnen psychisch am schlechtesten ging und sich diesen noch düsterer und belastender ausmalen – dann wissen Sie wie sich depressiven Menschen jeden Tag fühlen.“ Wenn die schwere Form der Krankheit langfristig nicht behandelt wird, kann der Wunsch irgendwann nicht mehr leben zu wollen immer konkretere Formen annehmen.
An Selbstmord zu denken ist unter Jugendlichen kein ungewöhnliches Phänomen. Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge geben bis zu 30 Prozent an, irgendwann in ihrem Leben schon einmal an Selbsttötung gedacht zu haben. Und zwischen sechs und zehn Prozent aller Jugendlichen geben zu, bereits einen Suizidversuch unternommen zu haben. Für Außenstehende ist oft schwer zu erkennen: Sind Anna oder Max einfach nur längere Zeit in einem tiefen psychischen Loch? Oder ist die Lage ernster?
Probleme direkt und offen ansprechen
„Viele haben die Vorstellung im Kopf: Ich spreche meinen Verdacht besser nicht aus, wenn ich vermute, dass mein Freund oder Familienmitglied suizidale Gedanken hat. Weil ich die andere Person vielleicht dann erst recht darauf bringen könnte. Selbst Fachleute, Eltern und Lehrer denken mitunter so. Doch das Gegenteil ist der Fall“, sagt Christoph Wewetzer. Ein Großteil der Jugendlichen macht vorher Andeutungen und sucht Gesprächsangebote. Gerade deswegen sei es wichtig, das Thema direkt und offen anzusprechen und gemeinsam mit dem Betroffenen schnell Hilfe zu suchen.
Ganz klar: Wer ernsthafte Suizid-Absichten verkündet, braucht Hilfe in einer psychiatrischen Klinik. Dort geht es für die Experten zunächst darum herauszufinden, wie ernst die Lage tatsächlich ist. Muss der Patient in der Klinik bleiben oder kann er zunächst noch einmal nach Hause? Je konkreter die Suizid-Pläne, desto wahrscheinlicher wird der Versuch. „Wir fragen die Jugendlichen sehr genau: Wie willst du das machen? Wie hast du dich darauf vorbereitet? Obwohl auch uns diese Fragen widerstreben: Nur so kommen wir an Informationen über den genauen Zustand des Patienten“, erklärt der Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Auch ständig wiederkehrendes selbstverletzendes Verhalten ist ein Alarmsignal.
Profis können in akuten Krisen meist schnell helfen
Wenn der oder die Jugendliche eine akute Krise hat, aber ansonsten keine anderen seelischen Erkrankungen, können die Profis meist schnell helfen. Wie bei Anna. „In solchen Fällen geht es darum, dass Kind in seiner akuten Krisensituation wirklich zu sehen und zu unterstützen“, sagt Wewetzer. Bei den meisten hat sich die Situation nach 24 bis 48 Stunden wieder stabilisiert.
Schwieriger ist es, wenn eine deutliche depressive Symptomatik vorliegt, wie bei Ben. Er ist 16 und schon längere Zeit macht er sich Gedanken darüber, dass er sterben möchte. Sein Selbstwertgefühl ist am Boden. Er hat schon einmal eine Vielzahl an Tabletten geschluckt und ritzt sich immer wieder die Unterarme auf. Wenn dann noch ein akuter Krisenauslöser hinzu kommt wie Probleme in der Schule oder Streit mit den Eltern, kann es dramatisch werden. Jugendliche wie Ben werden in der Klinik stationär aufgenommen. Manchmal durch einen Richter genehmigt auch gegen ihren Willen. „Die größte Angst von uns Psychiatern und Ärzten ist es, dass wir jemanden entlassen, der sich danach suizidiert“, so Wewetzer. Über alle Altersgruppen hinweg geschieht in Deutschland alle 53 Minuten ein Selbstmord. Und alle fünf Minuten ein Suizid-Versuch.
Der Freitod von Robert Enke hat dem Thema eine große Öffentlichkeit beschert
Der Freitod von Hannover 96-Torhüter Robert Enke im Jahr 2009 hat dem Thema viel Öffentlichkeit beschert – und gleichzeitig viele Nachahmer auf den Plan gerufen. Die US-amerikanische Fernsehserie „Tote Mädchen lügen nicht“ soll laut Studien den gleichen Effekt gehabt haben. In der Netflix-Serie geht es um eine Jugendliche, die sich lange mit dem Thema Selbstmord beschäftigt und diesen am Ende auch begeht. Fachleute nennen dieses Phänomen den „Werther-Effekt“, in Bezugnahme auf das bekannte Werk von Goethe. „Auch deswegen waren wir bei unseren Vortragsabenden in der Elternwerkstatt mit diesem Tabu-Thema bisher zurückhaltend. Doch inzwischen wissen wir: Wenn man fachkundig aufklärt und Hilfen anbietet, hat das keinen Nachahmer- sondern einen protektiven Effekt“, so der Kölner Fachmann.
Kontakt zum Kind nicht verlieren
In vielen Fällen ahnen Eltern gar nicht, dass ihr Kind Selbstmordgedanken hat. Weil sie den wirklichen Kontakt zu ihrem Teenager schon lange vorher verloren haben. Besonders suizidgefährdet sind depressive Jugendliche, die regelmäßig Drogen und Alkohol konsumieren. Oft sacken dann auch die Leistungen in der Schule ab und eine Negativ-Spirale setzt ein.
Wenn Eltern oder Freunde die Befürchtung haben, dass jemand sich etwas antun könnte, sollten sie ihm oder ihr Hilfe anbieten, um den Kontakt zu einer psychiatrischen Klinik herzustellen – oder zur Notfallambulanz.