Mesale Tolu im Interview„Ich konnte meinem Sohn nicht erklären, warum die Tür zu ist“

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Mesale Tolu lebt in Neu-Ulm und macht derzeit ein Volontariat bei der „Schwäbischen Zeitung". 

  • Die deutsche Journalistin Mesale Tolu saß 2017 acht Monate lang wegen angeblicher Terrorpropaganda in Istanbul in Haft.
  • Sechs Monate davon war ihr damals zweijähriger Sohn Serkan bei ihr im Gefängnis.
  • Im Interview erzählt sie, was am schlimmsten an dieser Zeit war, wie sie jetzt lebt und warum ihr noch immer 20 Jahre Haft drohen.

Köln – Mesale Tolu ist neben Deniz Yücel und Peter Steudtner wohl eine der bekanntesten Personen, die in der Türkei aus politischen Gründen im Gefängnis gesessen haben. Tolu wurde 1984 in Ulm als Tochter kurdischer Eltern geboren und lebt in Deutschland. Ab und an arbeitete sie als Journalistin in Istanbul für den privaten Radiosender Özgür Radio und als Übersetzerin für die Nachrichtenagentur ETHA. Ihr Mann wurde Anfang April 2017 wegen seiner politischen Arbeit innerhalb der Oppositionspartei HDP inhaftiert, drei Wochen später sie selbst, als sie sich gerade in Istanbul aufhielt. Im Morgengrauen wurde sie von einer türkischen Antiterroreinheit aus ihrer dortigen Wohnung geholt.  

Der Sohn musste mit ansehen, wie Mesale Tolu aus der Wohnung geholt wurde

Ihr damals zweijähriger Sohn Serkan musste den Überfall mit ansehen. Als seine Mutter abgeholt wurde, blieb er alleine mit den Nachbarn zurück. Während seine Mutter in Untersuchungshaft saß, wohnte er bei ihrer Schwester, die zu diesem Zweck aus Deutschland nach Istanbul gekommen war. Tolu wurde vorgeworfen, am erst noch bevorstehenden 1. Mai Krawalle geplant zu haben. Außerdem wurde ihr wegen der Teilnahme an vier öffentlichen Veranstaltungen Terrorpropaganda vorgeworfen.

Der Prozess geht im Februar weiter – Mesale Tolu drohen bis zu 25 Jahre Haft in der Türkei

Als Tolu wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Verbreitung von Terrorpropaganda in das Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy gesperrt wurde, holte sie nach 17 Tagen ihren Sohn Serkan zu sich in die Zelle. Fast sechs Monate lang lebte der Junge mit ihr und den anderen Frauen im Gefängnis – dann wollte er im Oktober 2017 zurück in die Freiheit und ging zu Mesale Tolus Schwester nach Deutschland. Tolu selbst musste noch bis Dezember 2017 im Gefängnis bleiben, dann wurde sie unter Auflagen aus der Haft entlassen. 

Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Neu-Ulm und macht ein Volontariat bei der „Schwäbischen Zeitung“. Am 25. Februar 2020 soll der Prozess in Istanbul fortgeführt werden. Bei einem Schuldspruch drohen ihr dort bis zu 25 Jahre Haft. 

In ihrem Buch „Mein Sohn bleibt bei mir! Als politische Geisel in türkischer Haft – und warum es noch nicht zu Ende ist“ beschreibt Tolu diese Zeit. Im Interview spricht Mesale Tolu darüber, was das Schlimmste an der Gefängniszeit war und wie sie heute mit ihrer Familie lebt.  

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Frau Tolu, was war für Sie rückblickend der schlimmste Moment mit Ihrem Sohn im Gefängnis?

Mesale Tolu: Die erste Nacht. Die war wirklich sehr schwer, weil wir nichts hatten, keinen Schnuller, keine Milchflasche, keinen Pyjama. Das war die schrecklichste Nacht, weil ich meinem Sohn nicht erklären konnte, warum wir dort sind, warum er seine Sachen nicht bekommt und warum die Tür abgeschlossen ist. Mein Sohn ist unter Tränen aus Erschöpfung eingeschlafen. Die ganzen Probleme waren geballt. In dieser Nacht habe ich mich auch gefragt, ob es die falsche Entscheidung war, ihn zu mir ins Gefängnis zu holen.

Nach dieser Nacht haben Sie sich aber halbwegs an alles gewöhnt, weil sich auch die anderen Frauen gut um Ihren Sohn gekümmert haben. Mesale Tolu: Ja, das stimmt, nach dieser ersten Nacht wurde alles besser. Die ersten zwei Wochen sind wir wie Koala-Mama und -Kind herum gelaufen, er hat sich gar nicht von mir gelöst. In diesen Wochen hat er sich auch gar nicht geöffnet. Danach hat er aber gesehen: Wir sind ja immer dort und ich gehe nicht weg. Ich konnte ja auch nicht weg gehen, weil die Türen verschlossen waren. Dann hat er wieder Vertrauen gefunden, auch in die anderen Frauen. Alle wollten mit ihm spielen. Als er begriffen hatte, dass er keine Angst mehr haben muss, war alles schlagartig ganz anders. Er hat jeden Tag etwas mit einer anderen Frau unternommen, ganz viel gebastelt und gespielt. Danach hat er kaum geklagt, bis er zum ersten Mal wieder draußen war und die richtige Welt gesehen hat. 

Ihr Sohn Serkan ist in Deutschland geboren und sprach so gut wie gar kein Türkisch. Wie hat das geklappt? Mesale Tolu: Er hat zwar überwiegend Deutsch gesprochen, aber konnte auch Türkisch. Mit 28 Monaten war die Sprache noch nicht ganz ausgefeilt. Im Gefängnis hat er türkisch gelernt und geredet. Als er dann wieder draußen war, hat er kein Wort Deutsch mehr gesprochen. Er hatte alles vergessen. 

Was haben Sie gedacht, als Ihr Sohn sich dazu entschieden hat, in die Freiheit zurück zu kehren und das Gefängnis zu verlassen? Mesale Tolu: Als Serkan gehen wollte, war ich eigentlich froh. Der Winter stand bevor, mein Prozess begann und wir wussten nicht, was passieren würde. Ich wollte, dass er in sicheren Händen ist. Ich habe aber relativ bald gemerkt, als ich alleine war, dass ich Angst habe, dass er mich vergisst. Er war in Deutschland bei meiner Schwester und ich hörte nur alle 15 Tage von ihm. Am Telefon hat er beiläufig mal im Scherz gesagt: „Mama, ich bin jetzt Tantes Sohn“. Da hatte ich Angst, dass mein Sohn mich als seine Mutter vergisst. Das war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich wieder weinen musste, weil ich Angst hatte, dass mein Sohn die Bindung zu mir verliert. Dass ich seine Entwicklung nicht mehr mitbekomme und ihn auch nicht schützen kann. Wenn ihm etwas passiert, ist er tausende Kilometer weit weg von mir. Bis ich es mitbekomme, sind 15 Tage vergangen. Also bin ich als Mutter außen vor. Diese allgemeine Ungewissheit, wie es mit mir, meiner Ehe und auch mit meinem Sohn weiter geht, war das schlimmste im Gefängnis. Die Zeit an sich war nicht negativ, die Gemeinschaft der Frauen hat mich gestärkt. 

Sie machen allgemein einen wahnsinnig starken Eindruck. Das ist sowohl im Buch so, das war aber auch bei der Pressekonferenz so, die Sie kurz nach Ihrer Freilassung und Rückkehr nach Deutschland gegeben haben. Schon da sahen Sie stark und tough aus. Mesale Tolu: Das war auch meine Motivation, um dieses Buch zu schreiben. Ich habe immer wieder gehört: „Du bist so stark!“, aber ich bin es nicht. Ich habe so viel erlebt, wo ich sehr schwach war. Ich wollte mit dem Buch zeigen: „Hey Leute, ich habe so viel durchgemacht, so krasse Sachen, die ihr euch gar nicht vorstellen könnt.“ Ich wollte das erzählen und auch zeigen, dass ich natürlich Angst hatte. Todesangst. Ich war schwach, ich habe geweint, ich habe alles Mögliche gemacht. Aber: Ich kann heute darüber reden und anderen Menschen Hoffnung und Mut geben, weil ich selbst diesen Mut von anderen Menschen zugesprochen bekommen habe. Mein Ziel ist es, anderen Menschen zu sagen: Man kann alles erleben, aber man kann auch aufstehen und weiter machen.

Sie schreiben, dass Ihr Sohn jetzt gar nicht mehr über die Zeit im Gefängnis spricht. Mesale Tolu: Ich glaube, er hat es schon noch im Unterbewusstsein, weil er ab und zu Dinge sagt oder zeigt, die er vom Gefängnis kennt. Aber er beschreibt es nicht als Gefängnis-Zeit. Er macht zum Beispiel Sportübungen, die er dort gelernt hat oder singt ein Kinderlied von dort. Er weiß, dass er das in der Türkei gelernt hat, aber er sagt nicht: „Mama, wir haben das im Gefängnis gelernt.“ 

Sie reden mit ihm aber auch nicht bewusst darüber? Mesale Tolu: Doch, natürlich. Wir haben die erste Zeit ganz bewusst über alles gesprochen, weil ich wissen wollte, was er versteckt. Ich wollte nicht, dass bei ihm im Unterbewusstsein etwas unbeantwortet bleibt. Deswegen haben wir oft darüber gesprochen, auch im Kindergarten. Ich denke, das Thema ist deswegen so schnell bei ihm durch gewesen, weil er sich alles von der Seele gesprochen hat. 

Haben Sie sich oder Ihren Sohn je psychologisch beraten lassen? Mesale Tolu: Nein, gar nicht. Wir sind beide in keiner Beratung gewesen, weil wir es uns aus der Seele gesprochen haben. Wir haben von Anfang an immer über alles gesprochen, mit der Familie, Freunden, aber auch vor der Presse. Ich finde, man muss über die Probleme reden, damit sie sich lösen. Dieser Ansatz hat uns sehr gut geholfen.

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Und jetzt leben Sie in Neu-Ulm ein ganz normales Leben mit Kindergarten und Job? Mesale Tolu: Ja genau, ein Fulltime-Job als Mutter und Journalistin.

Können Sie ihren Sohn ganz angstfrei in den Kindergarten gehen lassen oder gibt es manchmal Momente, in denen Sie denken, Ihnen könnte auch in Deutschland etwas passieren? Mesale Tolu: Nein. Es gibt zwar immer und überall Risiken. Aber als ich zurück nach Deutschland gekommen bin, habe ich gesagt: „Ich werde mich nicht einschränken, ich werde ganz normal leben.“ Das ist hier meine Heimat, ich lebe in einem Land mit einem Grundgesetz, Regeln und Gesetzen. Ich werde mich nicht einschüchtern lassen. Deshalb leben wir unser Leben ganz normal. 

Wenn Sie jetzt als Volontärin zu Terminen gehen und Ihren Namen sagen, sind aber doch alle erstmal erstaunt, oder? Mesale Tolu: Es ist meistens so, dass mich die Leute danach erst ansprechen. Wir führen unser Interview und danach fragen Sie mich, wie es mir eigentlich geht. Die Menschen sind sehr nett und respektvoll gegenüber dieser Erfahrung. Sie wollen mich nicht direkt damit konfrontieren. Meist höre ich liebenswürdige Kommentare wie: „Ich hoffe, es geht Ihnen gut“ und „Schön, dass Sie wieder da sind“. Es ist nie aufdringlich. Das finde ich ganz toll.

Geht es Ihnen denn gut? Was antworten Sie auf die Frage? Mesale Tolu: Ja, es geht mir sehr gut. Natürlich rede ich auch sehr oft über alles. Bei meinen Lesungen aus dem Buch kocht natürlich alles hoch. Aber das ist ganz normal. Danach ist es vorbei und ich bin wieder im Alltag. Ich weiß, dass ich wieder zurück in meinen Alltag muss, damit es mir wieder besser geht. Das bekomme ich gut hin, denke ich.

Ist es Ihnen schwer gefallen, dieses Buch zu schreiben?

Mesale Tolu: Ja, sehr. Ich bin nach Deutschland eingereist und habe damit angefangen. Während ich geschrieben habe, habe ich fast jedes Erlebnis neu erlebt. Es gab auch Tage, an denen ich nicht mehr weiter schreiben konnte, weil ich fertig war und wieder weinen musste. Deswegen ist es mir nicht leicht gefallen. Aber es war gut, dass ich alles noch einmal in Ruhe verarbeiten konnte.

Die Erinnerungen sind sehr detailliert beschrieben. Die Erlebnisse müssen sich sehr stark bei Ihnen eingebrannt haben.

Mesale Tolu: Ich habe nicht gewusst, dass es so präsent ist. Ich habe wirklich auch versucht, alles wieder zurück in Erinnerung zu rufen und mir zum Beispiel die Internetseiten vom Gefängnis angeschaut. Wo ich nicht mehr ganz hundertprozentig sicher war, habe ich noch einmal nachrecherchiert, ob es stimmt.

Wie geht es jetzt weiter? Ihr Prozess ist ja noch nicht abgeschlossen. Mesale Tolu: Mein nächster Prozesstag ist am 25. Februar. Das sollte der 12. Tag sein. An dem Tag soll vermutlich ein Schlussplädoyer vom Staatsanwalt gehalten werden. Da wird sich herausstellen, ob an diesem Prozess, so wie er jetzt steht, festgehalten wird oder nicht. 

Was könnte jetzt noch passieren? Mesale Tolu: Es gibt drei Möglichkeiten. Entweder halten sie an dem Verfahren fest und verurteilen mich zu bis zu 25 Jahren Haft, das dem Höchstmaß entspricht, zu einer geringeren Strafe oder sprechen mich frei. Und in keinem Fall wird das Erlebte vergessen werden. 

Was passiert, wenn Sie jetzt zu 20 Jahren Haft verurteilt werden? Mesale Tolu: Außer der seelischen Belastung, dass ich in einem Land zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, ist die einzige Konsequenz, dass ich in die Türkei, in das Land meiner Eltern, nicht mehr einreisen kann. Sicherlich wäre das kein schönes Gefühl, aber dass dort eine Willkürjustiz herrscht, ist bekannt.

Haben Sie Angst, dass das passiert? Mesale Tolu: Nein, eigentlich habe ich keine Angst davor. Natürlich ist allein die Tatsache, dass ich eine Haftstrafe bekommen könnte, hart genug. Meine Eltern kommen aus diesem Land und meine Mutter ist dort begraben. Es gibt natürlich eine Bindung zur Türkei. Aber auch, wenn es die nicht gäbe, ist es schlimm genug zu wissen, dass ich in einem anderen Land zu 20 Jahren Haftstrafe verurteilt wurde. Seelisch wird es mich natürlich belasten. Aber ich muss sagen, ich weiß ja, was in diesem Land herrscht, wie willkürlich entschieden wird. Das bringt mich wieder in einen normalen Zustand zurück, in dem ich sagen kann: Es gibt schlimmere Fälle und so lange ich in Deutschland bin, geht es mir noch gut. Wenn ich freigesprochen würde, kann ich mir vorstellen, dass ich alles, was ich in Deutschland mache - also Vorträge halten, Lesungen geben, dieses Buch geschrieben zu haben - auch schon ein Risiko ist, um wieder in die Türkei einzureisen.

Würden Sie denn in die Türkei zurück wollen? Mesale Tolu: Normalerweise würde ich schon gerne in die Türkei fahren. Eigentlich mag ich das Land, die Vielfalt und die Menschen sehr. In der Türkei arbeiten und leben zu können, ist auch heute noch eine schöne Vorstellung, aber nicht unter diesen riskanten Bedingungen. Dafür ist die Gefahr zu groß. 

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