Mit Kind in Frankreich„Es gibt keinen Mutterkult“

Die Autorin Annika Joeres hat gerade ihr zweites Kind geboren – in Frankreich.
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Frau Joeres, Sie haben gerade Ihr zweites Kind geboren. Wissen Sie schon, wie lange Sie diesmal zu Hause bleiben werden?
Ein bisschen länger als bei meinem ersten Sohn; damals waren es dreieinhalb Monate, diesmal werde ich sieben Monate aussetzen.
Ist das nach französischen Maßstäben schon zu lang?
Meine erste Auszeit entsprach zwar mehr dem französischen Durchschnitt, aber die sieben Monate sind noch im Rahmen. Wenn ich gesagt hätte, ich bleibe ein Jahr oder länger zu Hause, wären die Reaktionen aber schon sehr verwundert gewesen.
Warum?
Weil es für Französinnen normal ist, nach der Geburt relativ schnell wieder arbeiten zu gehen. Deutsche Freunde fragen mich, wie lange ich denn zu Hause bleiben will, meine französischen Bekannten wollen wissen, wann ich wieder arbeiten gehe. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied.
Und wie hatten Ihre deutschen Freundinnen reagiert, als sie nicht einmal vier Monate ausgesetzt haben?
Da kamen viele Sprüche, ob ich meinen Sohn wirklich schon in die Kita geben wolle, er sei doch noch so klein. Und ob ich mir denn sicher sei, dass er keinen Schaden nehme.
Historisch bedingte Unterschiede
Frankreich ist ja kein völlig anderer Kulturkreis. Wie erklären Sie sich diese großen Unterschiede in der Einstellung gegenüber Fremdbetreuung?
Frankreich ist uns als westeuropäisches Land zwar in vielem sehr ähnlich, aber wenn es um Kinder und Erziehung geht, gibt es wirklich große historisch bedingte Unterschiede. Das ist mir erst bewusstgeworden, seitdem ich hier lebe. Es ist zum Beispiel völlig normal und gesellschaftlicher Konsens in Frankreich, schon die Babys in Betreuung zu geben. Franzosen sind davon überzeugt, dass ihr Kind in der Kita sozialisiert wird, dass sie sein erster Schritt in die Gesellschaft ist hin zu einem Leben in der Gemeinschaft.
Deshalb fällt es französischen Eltern so viel leichter, früher Verantwortung für Ihre Kinder abzugeben?
Ja. In Deutschland gibt es noch immer diesen Mutterkult nach dem Motto „Unser Kind ist am besten bei der Mutter aufgehoben“. Die Mutterrolle wird viel höher gehängt als in Frankreich. So denken die Franzosen nicht. Sie haben großes Vertrauen in staatliche Einrichtungen und wissen, dass es ihren Kindern dort gut geht. Das entlastet sehr. Das ist für mich auch die Erklärung dafür, warum die Geburtenrate in Frankreich so viel höher ist als in Deutschland.
Die Erwartungen an die Mütter sind dort viel geringer?
Ja. In Deutschland glauben Frauen, dass sich ihr ganzes Leben ändert, wenn sie Kinder haben. Dass sie eine perfekte Mutter sein müssen und ihr altes Leben vergessen können. Das schreckt ab. Französinnen bekommen ihren Nachwuchs, auch wenn der Zeitpunkt nicht so ideal erscheint.
Zeigt sich da der deutsche Perfektionismus?
Ja. Wir wollen alles perfekt machen, auch das Kinderkriegen. Wenn es um Handwerker geht, ist Perfektionismus toll. Aber im Sinne der Familienplanung kann es eher hinderlich sein, auf den perfekten Moment zu warten. Mein Mann und ich haben ja auch viel zu lange gezögert, bis wir gedacht haben, jetzt ist alles prima für den Nachwuchs. Franzosen nehmen das Leben insgesamt etwas leichter, und das schlägt sich auf die Kindererziehung und ihre Erwartungen an sich selbst als Eltern nieder.
Unterschiedliches Angstpotenzial
Haben Franzosen weniger Angst, bei der Erziehung zu versagen oder schlechte Eltern zu sein?
Ja. Das zeigt sich auch bei der Kita-Frage. In Bochum hätte mich die Auswahl schier verrückt gemacht, vom Awo-Kindergarten über Montessori, einer kirchlichen Einrichtung oder der Wald-Kita. Für jeden Anspruch ist etwas dabei. Franzosen schicken ihr Kind in die nächstgelegene Kita. Punkt.
Das klingt alles so unkompliziert, ist es wirklich so einfach?
Franzosen geben morgens ihre Kinder in der Kita ab und machen sich tatsächlich dann keine Sorgen mehr. Die Kitas erwarten nicht, dass die Eltern – faktisch machen das nur die Mütter – ständig backen oder basteln oder sogar putzen. Manches geht aber auch mir mit meiner deutschen Prägung zu weit. Als ich zum Beispiel erst abends von der Erzieherin erfuhr, dass mein Sohn den ganzen Tag krank war. Nicht angerufen zu werden, das wäre in einer deutschen Kita undenkbar gewesen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Kinder mit bis zu 38,5 Grad Fieber noch in die Kita gebracht werden können. Will man das denn?
Einerseits klingt das für uns schockierend, aber solange es meinem Sohn noch gut geht und er zufrieden spielt, spricht nichts dagegen. Zudem ist immer eine Kinderkrankenschwester vor Ort, man kann sich also darauf verlassen, dass sie sich kümmert.
Sind französische Eltern einfach ein bisschen egoistischer als deutsche?
Ich glaube schon, dass deutsche Frauen schnell ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie mal an sich und weniger an das Kind denken. Das französische Mantra – glückliche Eltern haben glückliche Kinder – führt dazu, dass sich Franzosen mehr Zeit für sich selbst nehmen. Sie verzichten weniger auf Hobbys und Arbeit, die sie vorher erfüllt haben. Das heißt, sie holen ihr Kind auch mal etwas später aus der Kita ab, weil sie noch Sport machen oder sich mit Freunden treffen wollen. Dafür sind sie dann entspannt und verbringen noch einen schönen Abend mit dem Nachwuchs. So gesehen, sind Franzosen etwas egoistischer, aber ihre Kinder profitieren davon. Auch wenn sie natürlich weniger Zeit mit ihren Eltern verbringen als deutsche Kinder.
Das heißt, Sie bekommen dadurch aber auch weniger von Ihren Kindern mit.
Wahrscheinlich schon. Aber ich habe deshalb nicht das Gefühl, dass ich nicht auf dem Laufenden bin, was mein Kind angeht. Ich habe eine sehr liebevolle und enge Bindung zu meinem Sohn, auch wenn er den ganzen Tag in der Kita ist. Gleichzeitig nehmen Franzosen ihre Kinder sehr ernst. Zum Beispiel teilen sie auch die berühmten langen Menüs mit ihrem Nachwuchs oder sprechen über anstehende Planungen wie Erwachsene mit ihnen. Das verbindet auch im Alltag. Das Kind muss nicht dauerhaft im Mittelpunkt stehen, um wertgeschätzt zu werden.
Annika Joeres hat als Journalistin in Düsseldorf gearbeitet, bevor sie vor ein paar Jahren mit ihrem deutschen Mann nach Frankreich gegangen ist. Seitdem berichtet die 36-Jährige aus Südfrankreich für überregionale deutsche Medien. In ihrem Buch „Vive la famille. Was wir von den Franzosen übers Familienglück lernen können“ (Herder, 16,99 Euro) versucht sie zu ergründen, warum die Geburtenrate in Frankreich so viel höher ist als in Deutschland.
Die Debatte, dass die Bindung des Kindes zu den Eltern leidet, wenn es schon als Baby so lange fremdbetreut wird, kennt man in Frankreich nicht?
Dass die Bindung an die Eltern deshalb schlechter sein könnte, würde hier niemand vermuten. Auch, weil die heutigen Eltern selbst schon in die Kita gingen. Hier sind neun bis zehn Stunden Betreuung völlig normal. Die scheinbar in Stein gemeißelten Bindungstheorien sehen in Frankreich ganz anders aus.
Sie beschreiben, wie viel leichter es in Frankreich ist, mit Kindern Vollzeit zu arbeiten. Aber als meine erste Tochter in die Kita kam und mein Mann und ich beide voll gearbeitet haben, war das der pure Stress – trotz langer Kita-Öffnungszeiten bei uns.
Zur Wahrheit gehört sicher, dass Eltern in Frankreich mit zwei Vollzeit-Jobs und mehreren Kindern auch Stress haben. Und ideal wäre es für Familien, wie in Frankreich nur die gesetzlichen 35 Stunden oder sogar deutlich weniger arbeiten zu müssen. Aber viel Stress entsteht auch durch das schlechte Gewissen. Und das haben die Franzosen viel weniger.
Ein Grund für die niedrigere Geburtenrate in Deutschland ist auch der Unwille vieler Männer, sich auf Kinder einzulassen. Sind französische Männer da mutiger?
Sie machen sich auf jeden Fall weniger Sorgen als deutsche Männer. Und sie spielen bei der Erziehung eine größere Rolle, weil ihre Frauen häufig genauso viel arbeiten wie sie. Dadurch ist es gleichberechtigter, die Kinder sind auch nicht so auf die Mutter fixiert, wie ich das bei meinen deutschen Freundinnen oft beobachte.
Hätten Sie in Deutschland auch zwei Kinder bekommen?
Nein. Das glaube ich tatsächlich nicht. Mich hätte das alles viel zu sehr abgeschreckt. Ich hänge zu sehr an meinem Beruf, meinen Interessen und wäre nicht bereit gewesen, das alles aufzugeben. Wir hätten es wohl bei einem Kind belassen.