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Scheitern ist okWelche Dinge Eltern ihren Kindern ab welchem Alter zutrauen sollten

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Vor allem Jugendliche können viele Sachen selbst regeln - auch, wenn das manchmal schwer fällt. 

Köln – Eltern möchten ihre Kinder unterstützen und ihnen bei Problemen helfen. Gleichzeitig soll der Nachwuchs selbstständig werden. Wie viel sollten Kinder dafür selbst machen und muss man sie auch mal scheitern lassen, damit sie etwas fürs Leben lernen? Die Sozialpädagogin und systemische Familientherapeutin Dorothea Jung gibt Antworten. 

Frau Jung, die meisten Eltern versuchen, ihre Kinder so gut wie möglich zu unterstützen und ihnen bei Schwierigkeiten zu helfen. Ist das vielleicht gut gemeint, aber falsch? Muss man Kinder auch mal scheitern lassen? Dorothea Jung: Das hängt vom Alter und von der Mentalität des Kindes ab. Manche Kinder sind vorsichtig und ängstlich, andere trauen sich eher mehr zu und sind forsch. Prinzipiell sollen Kinder Selbstständigkeit lernen, das muss allerdings schrittweise geschehen. Zu den ersten Schritten gehört beispielsweise, dass Kleinkinder erfahren, was passiert, wenn etwas herunterfällt und kaputt geht, denn sie lernen nur vom wirklichen Erleben und nicht von bloßen Worten.

Zur Person

Dorothea Jung ist Diplom-Sozialpädagogin, systemische Familientherapeutin und fachliche Leiterin der Online-Beratung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). Hier können sich alle Eltern mit Kindern bis zum Alter von 21 Jahren mit Fragen rund um Schule und Erziehung hinwenden – anonym und kostenfrei. 

Wann und wie beginnt man damit, Kinder selbstständig zu machen? Gerade kleinen Kindern nehmen Eltern oft viel ab, weil es schneller und bequemer ist. Zum Beispiel können Kinder ab dem Kindergartenalter lernen, sich alleine anzuziehen. Dazu muss man natürlich ausreichend Zeit einplanen – besonders morgens, wenn man pünktlich aus dem Haus muss.

Was macht man, wenn das Kind keine Lust hat, sich selbstständig anzuziehen? Ich habe von Beispielen gehört, in denen die Eltern das Kind dann im Schlafanzug in den Kindergarten gebracht haben. Das Kind lernt: Wenn ich mich jetzt nicht anziehe, muss ich im Schlafanzug in den Kindergarten. Diese Erfahrung bleibt hängen.

Auch Winterjacken und Mützen lehnen Kinder gerne ab. Soll man sie frieren lassen? Natürlich steht die Gesundheit des Kindes an erster Stelle. Aber Kinder müssen die Erfahrung ja auch erstmal machen, dass es ohne Mütze und Jacke sehr kalt wird. Sie wissen sonst nicht, warum sie das anziehen sollen. Das gleiche gilt für das Wort „heiß“. Natürlich sollen sie auf keinen Fall an den heißen Ofen oder auf den Herd fassen, aber sie können vielleicht mit viel Abstand zumindest ein Gefühl dafür bekommen, was dieses Wort bedeutet.

Was sollten ältere Kinder selbst machen? Schulkinder sollten zum Beispiel selbst daran denken, die Sportsachen mitzunehmen. Das lernen sie aber nur, wenn die Mutter ihnen den vergessenen Turnbeutel nicht hinterher bringt. Das Kind muss dann die Erfahrung machen, im Sportunterricht ohne Turnsachen dazustehen. So lernt es schneller, selbst daran zu denken, als wenn ihm alles immer hinterher getragen wird.

Klingt vernünftig, aber dazu brauchen Eltern auch eine gewisse Härte. Natürlich. Man muss es dann auch mal ertragen, dass das Kind an dem Tag vom Lehrer eine Ermahnung bekommt. Aber auf der anderen Seite ist das eine Erfahrung, die das Kind in den allermeisten Fällen nur einmal macht.

Wie sollen Eltern sich verhalten, wenn ihre Kinder etwas wirklich nicht können? Auf dem Spielplatz irgendwo hochklettern zum Beispiel. Auf dem Spielplatz wird das Kind das Klettern lernen, wenn man es lässt. Am Anfang sollte man natürlich dabei sein und aufpassen, dass es nicht runterfällt. Aber dann lässt man es machen und steht nicht dauernd mit ausgebreiteten Armen daneben und ruft „Pass‘ auf! Vorsicht!“. Damit verunsichern Sie das Kind nur und es fällt vielleicht erst recht hin. Wenn Sie vorher mit Ihrem Kind geübt haben und wissen, dass es das kann, sollten Sie als Eltern ihrem Kind vertrauen. 

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Und später in der Schule? Ist es falsch, bei den Hausaufgaben zu helfen? Die Hausaufgaben sind die Aufgaben der Kinder, die sie selbst erledigen sollten. Eltern können natürlich Tipps geben, aber mehr nicht. Wichtig ist, dass die Eltern kontrollieren, dass die Aufgaben gemacht werden. Aber sie müssen nicht unbedingt 100 Prozent richtig sein. So erhalten die Lehrer auch eine Rückmeldung darüber, ob die Klasse alles verstanden hat. Wenn etwas korrigiert werden soll, macht das das Kind.

Konkretes Beispiel: Praktikumsplatz suchen. Sollten Jugendliche das alleine hinkriegen? Natürlich können Eltern auch hier unterstützen, Vorschläge machen oder Adressen raus suchen. Aber den Kontakt aufnehmen und die Bewerbung schreiben, können die Jugendlichen selbst.

Was macht man, wenn das jugendliche Kind nie rechtzeitig aufsteht, deshalb nicht pünktlich ist und dadurch zum Beispiel seinen Ausbildungsplatz verliert? Ein Jobverlust hat auch finanzielle Auswirkungen auf die Eltern, deshalb sollten hier besonders klare Linien gezogen werden. Zunächst unterstützen Sie Ihr Kind dabei, dass es morgens pünktlich aus dem Bett kommt, zum Beispiel, indem sie drei Wecker stellen oder darauf achten, dass das Kind abends früher schlafen geht. Wenn das alles nicht hilft, muss das Kind die Erfahrung machen, dass es für das Aufstehen selbst verantwortlich ist und die Eltern es nicht aus dem Bett scheuchen werden.

Man soll das Kind also verschlafen lassen? Besprechen Sie vorher mit dem Kind: „Ich werde dich in Zukunft morgens nicht mehr wecken. Du bist alt genug und ich helfe dir dabei, dass du es selber schaffst“. Und dann sollte man auch konsequent sein. Konsequenzen sollten immer vorher angekündigt sein, damit sie für Kinder nachvollziehbar sind

Als Eltern möchte man natürlich, dass das Kind gut zurechtkommt. Wie können Eltern lernen, loszulassen? Eltern müssen aushalten, dass ihr Kind auch mal eine Erfahrung macht, die man ihm gerne erspart hätte. Wenn es einen Termin verpasst oder sich nicht rechtzeitig irgendwo meldet, wird es die Konsequenzen daraus erleben. Müttern und Vätern kann es helfen, sich klarzumachen, dass diese Erfahrung das Kind weiterbringt.

Nächste Szene: Die jugendlichen Kinder gehen nachts aus und kommen nicht zum verabredeten Zeitpunkt nach Hause. Sehr viel später rufen sie an und wollen abgeholt werden. Hinfahren oder nicht? Man muss in dieser Situation genau abwägen, wie gefährlich es für den Jugendlichen ist, nachts alleine nach Hause zu kommen, das kommt sehr auf die Wohnumgebung an. Generell sollte man sich darauf verlassen können und dies vorher mit den Jugendlichen besprechen, dass sie nachts zur vereinbarten Zeit nach Hause kommen. Wenn sie wirklich einen Bus verpasst haben oder ähnliches, können sie sich via Handy kurz melden. Dann ist man beruhigt. Aber wenn sie sich nicht melden und einfach so zu spät kommen, werden die Sorgen zu groß. Das sollte den Jugendlichen klar sein. Wenn sie dann trotzdem zu spät sind, sollte es Konsequenzen geben, zum Beispiel, dass sie am kommenden Wochenende nicht mehr so lange unterwegs sein dürfen.

Wann müssen Eltern ihren Kindern auf jeden Fall helfen? Wenn es in irgendeiner Art gefährlich wird, sollten Eltern immer eingreifen.

Gibt es ein Alter, wo es mit der Unterstützung reicht? Zum Beispiel ein Studium, das nicht endet, immer wieder neu angefangene Ausbildungen, ewiges Umherziehen… Ab 18, wenn die Kinder offiziell volljährig sind, kann man sich ein Stückchen zurück nehmen. Eltern bleiben aber in der Unterhaltspflicht, bis das Kind eine erste Ausbildung abgeschlossen hat. Wenn nun ständig gewechselt wird, wird es schwierig. Eigentlich müsste man dann irgendwann eine Linie ziehen und sagen: „Sie zu, dass du das in Zukunft alleine regelst und dir noch einen Nebenjob suchst und selbst Geld verdienst.“ So klar zu sein, ist eine schwere Entscheidung und das können die wenigsten Eltern. Auf der anderen Seite könnte es für manche Jugendliche durchaus eine Möglichkeit sein, selbstständig zu werden.

Die Gratwanderung zwischen Sorge, Fürsorge, erziehen, unterstützen und selbstständig machen ist für Eltern nicht leicht. Haben Sie abschließend einen Tipp, der Eltern hilft, loszulassen? Jede Mutter und jeder Vater ist ein anderer Typ. Manche können ihre Kinder gar nicht loslassen, andere trauen ihnen von vorneherein mehr zu. Und so wie die Eltern unterschiedlich sind, sind es auch die Kinder. Vielleicht hilft beim Loslassen der Blick in die Zukunft. Wir wollen schließlich alle, dass unsere Kinder zu selbstbewussten und selbstständigen Menschen werden und in ihrem Leben gut klar kommen. Und das lernen sie nicht, wenn wir ihnen von klein auf immer alles abnehmen.

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