Wenn Eltern psychisch krank werdenDas heimliche Leiden der Kinder

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Drei Millionen Kinder wachsen mit psychisch kranken Eltern auf.

Drei Millionen Kinder wachsen mit psychisch kranken Eltern auf.

Köln – Frau Wiegel, erst in den vergangenen Jahren ist die besondere Lebenssituation von Kindern psychisch kranker Eltern in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerutscht. Warum hat man diese Kinder so lange „vergessen“?

Die Gründe dafür sind vielschichtig. Zum einen hat erst die Entwicklung der Ambulanten Psychiatrie in den 1990er Jahren dazu beigetragen, dass man psychisch kranke Patienten nicht mehr nur isoliert als Patienten in einer Klinik wahrgenommen hat, sondern auch ihr Lebensumfeld einbezogen wurde. Die Erkrankten wurden nicht mehr nur als Patient gesehen, sondern auch als Teil einer Familie, als Mutter oder Vater.

Darüber hinaus waren psychische Erkrankungen lange Zeit mit einem Tabu belegt. Nicht zuletzt durch prominente Fälle wie den Suizid von Torwart Robert Enke, hat sich das geändert. Schließlich waren es aber auch Medienberichte über Kinder, die tot aufgefunden wurden und wo sich herausstellte, dass deren Eltern psychisch krank waren. „Warum habt ihr da nicht stärker hingeguckt?“ , klagten die Medien an. Diese Fälle waren insofern hilfreich, weil dadurch tatsächlich die Kinder psychisch kranker Eltern mehr ins Blickfeld kamen.

Weiß man denn wie viele Kinder betroffen sind?

Man geht davon aus, dass über ein Jahr gerechnet, es in der Bundesrepublik drei Millionen Kinder gibt, die mit mindestens einem psychisch erkrankten Elternteil aufwachsen. In NRW spricht man von 600 000 betroffenen Kindern.

Mit welchen psychischen Erkrankungen werden die Kinder denn konfrontiert?

Die häufigsten psychischen Krankheiten aktuell sind Angststörungen, Suchterkrankungen und Depressionen.

Warum ist es schwieriger für Kinder, wenn ein Elternteil eine psychische Erkrankung hat im Vergleich zu einer körperlichen Erkrankung?

Viel körperliche Erkrankungen wie z.B. auch Krebs sind heute nicht mehr mit einem Tabu behaftet. Bei psychischen Erkrankungen haben wir es immer noch mit einer großen Unwissenheit zu tun. Deshalb lösen psychische Erkrankungen in Familie und Umfeld immer noch diffuse Ängste und Unsicherheiten aus.

Das ist eine große Belastung für Kinder, weil sie sich nicht trauen, ihre Situation in der Öffentlichkeit anzusprechen. Oft weiß sogar das nähere Umfeld in Kindergarten oder Schule gar nicht, dass ein Elternteil erkrankt ist. Oft wissen aber auch die Kinder nichts über die Erkrankung ihrer Eltern, weil die betroffenen Mütter oder Väter nicht wissen, wie sie das Thema ihren Kindern gegenüber ansprechen sollen.

Das heißt, dass die Erkrankung sowohl innerhalb der Familie als auch außerhalb nicht thematisiert wird. Damit geraten diese Kinder in eine Isolation, die dann in einer Kettenreaktion weitere Belastungsfaktoren hervorbringt.

Wodurch genau geraten die Kinder in eine Isolation?

Wenn z.B. eine Mutter eine Angststörung hat und das Haus nicht verlassen kann, hat das auch konkrete Auswirkungen für das Kind. Das Elternteil zieht sich zurück, geht zu keinem Elternabend oder nachmittags auf den Spielplatz. So verlieren Eltern und Kind den Kontakt zur Umwelt.

Manchmal sind es aber die Kinder, die merken, dass zu Hause etwas nicht stimmt oder anders ist und denen es deshalb peinlich ist, Freunde einzuladen. Diese Kinder reduzieren im laufe der Zeit ihr soziales Umfeld auf ein Minimum und es fällt ihnen immer schwerer Kontakte zu knüpfen.

Welche Auswirkungen kann das Zusammenleben mit psychisch kranken Eltern auf die Entwicklung eines Kindes haben?

Mitentscheidend in dem Kontext ist natürlich, ob eine Erkrankung chronisch ist oder nicht und ob die Familie ein soziales Umfeld hat, das unterstützend wirkt. Darüber hinaus aber gilt: Je kleiner die Kinder sind, umso ungünstiger wirkt sich eine psychische Erkrankung der Eltern auf ihre Entwicklung aus.

Das Problem ist, das psychische Erkrankungen mit einer Veränderung der Wahrnehmung und der Gefühlslage einhergehen. Je abhängiger ein Kind noch von der Gefühlslage der Eltern ist umso schwieriger ist es also. Bei einer manisch-depressiven Mutter etwa ist es für ein kleines Kind nicht nachvollziehbar, warum die Mutter an dem einen Tag in Hochstimmung ist und mit ihm auf dem Spielplatz herumtollt und am nächsten Tag nicht aufstehen kann.

Für das Kind ist das eine große Enttäuschung und es fragt sich, was es selbst falsch gemacht haben könnte. Wir beobachten, dass diese Kinder – weil sie nicht kontinuierlich eine Bindung aufbauen können – häufiger desorientiert, verunsichert und ängstlich sind.

In der Bindungsforschung gibt es zudem neuere Erkenntnisse, dass auch die Hirnentwicklung eines Kleinkindes leidet, wenn die Mutter z.B. mental abwesend ist und nicht auf das Kind eingehen kann.

Und wenn die Kinder älter sind?

Eine psychische Krankheit ist von außen für Kinder nicht gut erkennbar und sie beziehen daher vieles auf sich. Dabei stellen sie häufig das eigene Verhalten in Frage und glauben, sie seien Schuld an der Belastung der Eltern. Das führt dazu, dass sie immer mehr ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen und die Rolle der Eltern übernehmen.

Die Fachleute sprechen dann von „Parentifizierung“. Im Bemühen, den „normalen Alltag“ aufrecht zu erhalten übernehmen sie immer mehr auch die emotionale Fürsorge für ihre Eltern. Auf längere Zeit gesehen aber ist das eine Überforderung und die emotionale Entwicklung dieser Kinder bleibt auf der Strecke.

Wir erleben diese Kinder oft als nach außen sehr lieb und angepasst. Allerdings entwickeln diese Kinder kein eigenes korrektes Selbstbild. Oft sind sie konfliktscheu und oder werden im sozialen Umfeld auffällig.

Können betroffene Eltern etwas tun, um ihre Kinder zu schützen?

Wichtig ist, dass Eltern ihren Kindern eine verständliche Aufklärung über ihre Erkrankung, deren Auswirkungen und Umgang damit geben. Der gemeinsame bewusste Umgang mit der Krankheit ist erleichternd und hilfreich.

Oft fällt es Eltern schwer, eine altersgerechte Erklärung für ihre Erkrankung zu geben. Aber dafür kann man sich die Unterstützung von Fachleuten holen. Wichtig ist zudem, dass die Eltern ihrem Kind klar machen, dass es keine Schuld an der Krankheit trägt und auch weiterhin sein eigenes Leben gestalten und sich z.B. mit Freunden treffen darf.

Sinnvoll kann es auch sein, die sportlichen oder musischen Aktivitäten des Kindes zu unterstützen. Das stärkt die Persönlichkeit des Kindes.

Wenn betroffene Eltern dazu nicht in der Lage sind: Gibt es Warnsignale, auf die Erzieher oder auch Lehrer achten sollten?

Jede Unregelmäßigkeit sollte man ernst nehmen: Wenn etwa eine Mutter immer zum Elternabend gekommen ist, plötzlich aber nicht mehr. Wenn ein Kind auf einmal sehr selbstständig wirkt, aber ausweichend auf Fragen nach den Eltern reagiert.

Und was sollte man dann tun?

Man könnte einen Hausbesuch machen und dabei gezielt nach Problemen fragen. Mein Plädoyer ist dabei: lieber einmal mehr fragen. Ich habe es auch schon erlebt, dass betroffene Erwachsene regelrecht erleichtert und froh waren, wenn sie konkret angesprochen wurden.

Im übrigen: Niemals das Kind isoliert befragen, sondern immer direkt die Eltern ansprechen, sie sind der Schlüssel.

www.stiftung-leuchtfeuer.de

www.awo-der-sommerberg.de

www.csh-koeln.de

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