Pflegen, putzen, alles regelnYoung Carers – Wenn Kinder sich um chronisch kranke Eltern kümmern

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Ein Mädchen bringt einer Frau mit Krücken etwas zu trinken.

500.000 junge Menschen in Deutschland kümmern sich täglich um kranke Eltern oder Großeltern.

Viele Jugendliche sind für kranke Familienmitglieder verantwortlich – sie kümmern sich um Pflege, Haushalt und Geschwister. Eine belastende Aufgabe.

Was tun, wenn die psychisch labile Mutter dauernd weint und die jüngeren Geschwister nicht wissen, was eine Depression ist? Wie den Vater unterstützen, der einen Schlaganfall erlitten hat und nach der Reha nach Hause kommt, sich aber nicht selbst versorgen kann? Wie die demente Großmutter bremsen, die nachts auf die Straße läuft? Und wo die Schnapsflaschen der alkoholkranken Mutter verstecken? Diese und andere Fragen rund um die Pflege von Angehörigen müssen sich rund 500.000 junge Menschen in Deutschland täglich stellen.

„Leider trauen sich viele der sogenannten Young Carers nicht, bei Behörden oder Bekannten um Unterstützung oder Rat zu bitten, weil sie Konsequenzen befürchten“, weiß Mara Rick, Projektleiterin der Beratungsstelle „Echt unersetzlich“ vom Diakonischen Werk Berlin Stadtmitte. „Denn das Thema Jugendschutz spielt für Young Carers eine Rolle.“ Daher gewährleiste ihre Stelle Verschwiegenheit.

„Echt unersetzlich“ ist ein Projektschwerpunkt von „Pflege in Not – Beratung bei Konflikt und Gewalt in der Pflege“. Das Team besteht aus Psychologen und Psychologinnen sowie Mitarbeitenden der Krankenpflege und Sozialarbeit, von denen zwei Kräfte für „Echt unersetzlich“ tätig sind.

Young Carers regeln Finanzen und müssen dazu verdienen

Rick verwendet den Begriff Young Carers deshalb, weil diese Kinder und Jugendlichen in England bereits früh gesehen und ernst genommen wurden. „Aber auch, weil der Begriff ‚junge Pflegende‘ zu kurz gefasst ist“, sagt sie. Denn was Young Carers in ihren Familien leisten, geht über Verbände wechseln, Tabletten geben und zu Arztterminen begleiten weit hinaus. „Manche der betroffenen Jugendlichen müssen Finanzangelegenheiten regeln, die Geschwisterkinder erziehen oder für den Familienunterhalt jobben, weil die alleinerziehende kranke Mutter ausfällt“, so Rick.

Anders als bei Gleichaltrigen, die mit Spielen, Ausgehen, Sport oder Verlieben beschäftigt sind, dreht sich bei Young Carers vieles um Pflichten wie kochen, putzen, waschen, einkaufen. Da liegt es auf der Hand, dass viele der jungen Kümmernden an Grenzen stoßen, sich isolieren oder in der Schule schlechte Leistungen erbringen.

Sechs Prozent aller Jugendlichen pflegen ein chronisch krankes Familienmitglied

„Viele Lehrerinnen und Lehrer vermuten hinter einem übermüdeten Schüler oder einer unaufmerksamen Schülerin, dass Party gemacht oder nächtelang an der Playstation gezockt wurde. Der Gedanke an eine schwierige Situation zu Hause kommt den wenigsten“, sagt Rick. Sie und ihr Team bieten daher Infoseminare in Schulen an, um für das Thema zu sensibilisieren. „Oft stoßen wir dabei auf Fachpersonal, das noch nie von Young Carers gehört hat. Wenn wir ihnen dann sagen, dass 6 Prozent aller Jugendlichen zwischen zehn und 19 Jahren ein chronisch krankes Familienmitglied pflegen und dass das bedeutet, dass etwa ein bis zwei Betroffene in jeder Klasse sitzen, sind die Lehrkräfte schockiert“, erzählt Mara Rick.

Betroffene Jugendliche haben Angst vor Stigmatisierung

Ein anderes Problem ist, dass die betroffenen Jugendlichen nur selten über ihre Probleme sprechen – aus Angst vor Stigmatisierung. Wer spricht schon gern über den schizophrenen Vater oder die tablettenabhängige Mutter? Häufig wird den Kindern von der Familie zudem ein Schweigegebot auferlegt. Denn manche Eltern fürchten das Einschreiten von Behörden. „Insofern gilt: Je größer der Unterstützungsbedarf, desto unsichtbarer die Familie“, so Sabine Metzing, Professorin an der Uni Witten/Herdecke.

Die Pflegewissenschaftlerin beschäftigt sich seit 2005 mit dem Thema pflegende Mädchen und Jungen und hat viele Studien und Publikationen dazu veröffentlicht. Immer wieder weist Metzing auf die massive Überforderung der Jugendlichen hin und fordert Ärztinnen und Ärzte auf, Kinder von Patientinnen und Patienten verstärkt im Blick zu haben – bislang mit mäßigem Erfolg: Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat zwar die Website pausentaste.de initiiert. Aber direkte, kostenlose Anlaufstellen finanziert das Ministerium nicht. Gleiches gilt für die Länder. Auch sie folgen dem Berliner Vorbild nicht, welches „Echt unersetzlich“ fördert.

Bundesweite Hilferufe von jungen Pflegenden

„Deshalb erreichen uns immer wieder bundesweite Hilferufe von Young Carers“, sagt Mara Rick. „Wir lehnen sie natürlich nicht ab, auch, wenn wir in erster Linie ein Angebot für Menschen in Berlin sind.“ Oft erwächst aus dem ersten Kontakt eine Onlineberatung oder ein Whatsapp-Dialog. Manchmal mündet das in ein persönliches (Telefon-)Gespräch.

„Wir bieten an, mit der ganzen Familie zu sprechen“, sagt Rick. „Aber meistens wollen die Young Carers lieber allein mit uns reden – vielleicht als erste Auszeit, die sie sich selbst gestatten.“ Der Name der Beratungsstelle unterstreicht, dass die Young Carers zwar eine immense Stütze für ihre Familien sind, „aber wir möchten den Ratsuchenden vermitteln, dass sie selbstverständlich ab und zu Verantwortung abgeben dürfen“, sagt Rick. „So können die Familien etwa eine Haushaltshilfe beantragen, Pflegeleistungen oder auch weitere Unterstützungsmöglichkeiten. Und wir bestärken die Young Carers darin, sich im Alltag immer wieder Zeit für sich einzuräumen“, so Rick weiter.

Zudem sei es wichtig, Lehrerschaft, Ärztinnen und Ärzte sowie Fachpersonal auf das Thema hinzuweisen, findet Rick. Dann werden eine halbe Million junge Kümmernde hoffentlich irgendwann eine Lobby haben.

Interview: Luisa* (26) hat als Kind ihre Mutter gepflegt.

Sie sind seit Ihrer Kindheit in die Pflege Ihrer kranken Mutter eingebunden. Wie kam es dazu?

Luisa: Ich bin in meine Situation als junge Pflegende hineingeboren worden, denn meine Mutter hat seit über 30 Jahren Multiple Sklerose. Da gehörte es für mich als Einzelkind früh zum Normalzustand, in die Pflege eingebunden zu sein. Zudem war mein Vater komplett berufstätig und daher nicht viel da. Ich habe im Haushalt alles gemacht – kochen, bügeln, einkaufen, Wäsche, Abendbrot für meine Mutter und mich. Später, als es meiner Mutter schlechter ging, kam die Unterstützung beim Toilettengang hinzu. Heute ist sie schwerstbehindert und wird von Familie, Freunden und einem Pflegedienst mit betreut.

Ich wollte nie Probleme machen, denn meine Eltern hatten ja schon genug.
Luisa, pflegte ihre kranke Mutter

Haben Sie sich früher jemandem anvertraut?

Nein, es hatte niemand Verständnis für meine Situation. Meine Lehrer wussten, dass meine Mutter sehr krank ist, aber wenn ich im Unterricht zusammengebrochen bin und geweint habe, hat mich keiner von ihnen zur Seite genommen und nachgefragt. Meine Freunde hatten zwar Verständnis, waren aber mit anderen Dingen beschäftigt.

Welche Hilfestellung hätten Sie sich gewünscht?

Damals hätte ich vor allem emotionale Unterstützung gebraucht. Einen Menschen, der mir zuhört, mich wahrnimmt.

Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie sich in einer besonderen Situation befinden?

Man ist sich als Kind, das pflegt, gar nicht der körperlichen und emotionalen Belastung bewusst. In der Grundschule habe ich nur gemerkt, dass ich nicht so bin wie die anderen Kinder. Dass ich nicht mit so einer Leichtigkeit durchs Leben gehe, sondern immer vernünftig bin. Ich wollte nie Probleme machen, denn meine Eltern hatten ja schon genug. Begriffen habe ich die Belastung erst, als ich nach dem Abitur von zu Hause auszog und mich befreit fühlte. Meine Eltern haben mich darin bestärkt, auszuziehen.

Was ging damals in Ihnen vor, wie wirkt sich das auf Ihre heutige Situation aus?

Auf einmal merkte ich, dass ich ein Recht auf ein eigenes Leben habe und mich nicht dauernd der Pflegesituation unterordnen muss. Heut wohne ich zweieinhalb Stunden von meinen Eltern entfernt. Ich hole nach, was ich verpasst habe. Mittlerweile mache ich eine Ausbildung zur Pflegefachkraft.

Sie sind im Beirat von „Echt unersetzlich“ tätig, um die Situation von Young Carers zu verbessern. Was empfehlen Sie Betroffenen?

Den Mund aufzumachen und um Unterstützung zu bitten. Zu erkennen, dass man Hilfe braucht, ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Vor allem muss es ein größeres Bewusstsein bei Erwachsenen geben.

*Der Name ist der Redaktion bekannt, wurde aber anonymisiert.

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