ADHS-DiagnoseViel zu viele Kinder bekommen Ritalin

70 Prozent der ADHD-Patienten erhalten in den USA Ritalin.
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Köln – Die „Medikalisierung“ des Alltags beginnt heute oft schon im Kindesalter. Bekanntestes Beispiel ist die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), im Volksmund „Zappelphilipp-Syndrom“ genannt. In den USA wird inzwischen elf Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen vier und 17 Jahren eine ADHS bescheinigt. 70 Prozent erhalten Substanzen wie Methylphenidat (Handelsname: Ritalin). In Deutschland sind die Zahlen geringer, aber auch hier hat angeblich jedes 20. Kind eine ADHS.
Die Krankheit werde „einfach zu häufig diagnostiziert“, warnte Asmus Finzen, Professor für Sozialpsychiatrie und Wissenschaftspublizist: „Natürlich mit der bösen Konsequenz, dass viel zu viele Kinder dann Ritalin bekommen.“ In ihrem 2014 erschienenen Buch über die „ADHS-Explosion“ konstatieren der US-Psychologe Stephen P. Hinshaw und der Gesundheitsökonom Richard M. Scheffler eine „besorgniserregende Parallele“ zwischen dem steigenden Leistungsdruck in der Schule und den „in die Höhe schießenden ADHS-Diagnosen“, vor allem bei ärmeren Kindern.
Neue Leiden geschaffen
Die Verantwortung dafür nur überforderten Eltern oder Lehrern zuschreiben, greift indessen zu kurz. So wurden die Grenzen dessen, was als „normal“ oder psychisch „auffällig“ gelten soll, auch von den zuständigen Fachgremien mehrfach verschoben. Weil sich die Kassen bei der Kostenerstattung an diesen Krankheitsdefinitionen orientieren, können auch Ärzte dadurch mehr verdienen.
Im Jahre 2000 wurde das „oppositionelle Trotzverhalten von Kindern“ in das Standardwerk zur psychiatrischen Diagnostik (DSM-IV) aufgenommen. „Und dieses oppositionelle Trotzverhalten ist so definiert, dass man, wenn man selber mal Kinder großgezogen hat, mit den Ohren wackelt!“, beklagte Finzen: „Also: Wird schnell ärgerlich, streitet sich häufig mit den Eltern, befolgt die Anweisungen der Eltern nur ungern.“ Das Schlimme daran: „Kaum ist diese Diagnose da gewesen, sind mehrere Firmen mit Medikamenten gekommen, um diese Kinder zu behandeln.“
Normale Begleiterscheinungen des Lebens werden in krankhafte Zustände uminterpretiert oder sogar neue Leiden geschaffen. Ein Paradebeispiel dafür ist die Umdeutung von Schüchternheit in eine krankhafte Sozialphobie oder „Social Anxiety Disorder“. Heute leiden daran angeblich schon bis zu 13 Prozent aller Menschen irgendwann in ihrem Leben – die Folge einer konsequenten PR-Strategie von Pharmfirmen, bei der es, so eine beteiligte Marketingexpertin, darum gegangen sei, der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass es „diese Krankheit überhaupt gibt“.
Doch allmählich wächst auch das Problembewusstsein. Einer Statistik der Techniker Krankenkasse (TK) und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zufolge ist die Anzahl der mit Ritalin behandelten Kinder 2012 in Deutschland erstmals seit 20 Jahren nicht weiter gestiegen, sondern gegenüber 2009 sogar um 3,4 Prozent leicht gefallen.