GendermedizinBeim Arzt werden Frauen wie Männer behandelt – das ist gefährlich

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Frauenkörper funktionieren anders als die von Männern. In der Medizin wird das bisher kaum berücksichtigt. 

  • In unserer Serie „Gesund durchs Jahr” widmen wir uns in jedem Monat einem anderen Themenbereich.
  • Im Mai dreht sich alles um Frauen- und Männergesundheit.
  • In der Auftaktfolge geht es darum, dass medizinische Standards meist an Männern ausgerichtet sind und trotzdem auf Frauen angewendet werden. Das kann gefährliche Folgen haben.

Köln – Bei aller Offenheit für das heutige Verständnis von Geschlechtern: Männer und Frauen unterscheiden sich. Zuallererst haben sie unterschiedliche Geschlechtsorgane. Aber ihre Körper sind auch unterschiedlich groß und schwer. Verdauung, Schmerzempfindlichkeit, Herzinfarktsymptome und die Neigung zu bestimmten Krankheiten fallen bei Männern und Frauen unterschiedlich aus. All diese Unterschiede werden in der Medizin jedoch bisher kaum berücksichtigt. Die meisten Forschungen werden an Männern durchgeführt und die Ergebnisse einfach auf Frauen übertragen. Auch Medikamentendosierungen sind meist auf Männer ausgelegt, werden aber oft ohne Anpassung auch bei Frauen angewendet – mit fatalen Folgen.

„Wir müssen ganz dringend umdenken, wenn wir eine für beide Geschlechter wirksamere, verträglichere und bessere Medizin haben wollen“, sagt Prof. Dr. Marek Glezerman in seinem Buch „Frauen sind anders krank. Männer auch. Warum wir eine geschlechtsspezifische Medizin brauchen“. Der Gynäkologe ist Fachbereichsleiter für Gender-Medizin an der Universität Tel Aviv und Gründungspräsident der Israelischen Gesellschaft für Gender- und Geschlechtsbewusste Medizin.

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Prof. Dr. Marek Glezerman

Was ist Gendermedizin?

„Trotz der Tatsache, dass uns die speziellen gender- und geschlechtsbezüglichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen zunehmend bewusst werden, verharrt die Medizin in der Praxis bis heute stur in der Vergangenheit“, beklagt Glezerman in seinem Buch. Gendermedizin versuche, die physiologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Behandlung anzuerkennen.

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Mit unserer Serie „Gesund durchs Jahr“ legen wir den Schwerpunkt ganz auf Ihre Gesundheit. Jeden Monat gibt es dazu ein Schwerpunktthema, zu dem jede Woche ein neuer Artikel erscheint. Im Dezember dreht sich alles um das Thema Demenz. 

Für ein besseres Verständnis empfiehlt Glezerman einen Blick zurück in die Steinzeit. Die soziale Rollenverteilung – Frauen in der Höhle bei den Kindern, Männer auf der Jagd – habe zu äußerlichen und physiologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern geführt, die auch heute noch unsere Gesundheit beeinflussten. „Dieser Unterschied, der in der Medizin gegenwärtig kaum beachtet wird, bildet die Grundlage für die moderne gender- und geschlechtsspezifische Medizin“, erklärt er.

Als wichtiges Überbleibsel aus dieser Zeit gilt, dass Männer größer und meist schmerzresistenter sind, um besser jagen zu können. Frauen, die in der Höhle zusammen saßen oder Pflanzen sammelten, haben dagegen bessere kommunikative Fähigkeiten entwickelt und sprechen deshalb nach einem Schlaganfall, bei dem das Sprachzentrum beeinträchtigt wurde, auch besser auf eine Behandlung an als Männer. Frauen besitzen zudem ein stärkeres Immunsystem, weil sie für die Betreuung der Kinder zuständig waren und über sie mit vielen Krankheitserregern in Kontakt kamen. Wegen der Verantwortung für die Kinder haben die Frauen ebenfalls feinmotorisch geschicktere Hände entwickelt und können Mimik und Körpersprache besser deuten, so der Gynäkologe.

Das sind die wichtigsten Unterschiede zwischen Männern und Frauen

- Frauen sind resistenter gegen Infektionen, neigen jedoch stärker zu Autoimmunschwächen. - Das Lungenkrebsrisiko ist für Raucherinnen um 170 Prozent höher als für Raucher bei der gleichen Anzahl an gerauchten Zigaretten. - Bei Männern äußert sich eine Depression manchmal weniger in Antriebslosigkeit oder Energiemangel und mehr in Aggressivität und Alkohol- oder Drogenmissbrauch. - Schmerzempfindlichkeit und Schmerztoleranz sind bei Frauen und Männern häufig unterschiedlich. - Männer können mit der Einnahme von Aspirin das Risiko für Herzinfarkte vermindern. Frauen schützen sich damit leichter vor Schlaganfällen.

In der Medizin gibt es viele Beispiele dafür, dass Männer und Frauen unterschiedlich ticken. Glezerman behandelt viele davon in seinem Buch. Wir greifen hier das Herz, die Verdauung und das unterschiedliche Temperaturempfinden auf.

Ein Herzinfarkt äußert sich bei Frauen anders als bei Männern

Herzprobleme gelten traditionell als Männerkrankheit, denn jüngere Frauen vor der Menopause sind durch das weibliche Hormon Östrogen besser davor geschützt. Nach den Wechseljahren steigt das Risiko allerdings an, vor allem, wenn Übergewicht, hoher Cholesterinspiegel oder Bluthochdruck hinzukommen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und Gefäßkrankheiten zählen bei Frauen zu den Haupttodesursachen. „Trotzdem hinkt die Forschung auf diesem Gebiet hinterher.“

Bei verschiedenen Veränderungen des Herzmuskels gibt es Unterschiede zwischen Mann und Frau, vor allem, was die Herzkammern betrifft. „Trotz solcher Abweichungen werden die meisten Studien nach wie vor von Männern durchgeführt. Das gesamte Wissen zum Männerherzen ist jedoch nicht unbedingt auf Frauen übertragbar, weshalb Herzprobleme bei Frauen noch schlechter zu diagnostizieren und zu behandeln sind“, schreibt Glezerman weiter.

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So ist ein Herzinfarkt bei Frauen viel schwieriger zu erkennen als bei Männern. Die Symptome treten nicht plötzlich auf, sondern können sich über Stunden oder sogar Tage entwickeln. Die Frau leidet oft unter Kurzatmigkeit und der Schmerz kann in Nacken oder Kiefer ausstrahlen anstatt in die linke Schulter. Außerdem klagen Frauen eher über allgemeine Symptome wie Übelkeit als über lokalisierte Symptome. „Deshalb kommen Frauen mit einem Herzinfarkt deutlich später in die Notaufnahme und werden nicht selten ohne richtige Diagnose wieder nach Hause geschickt.“

Medikamente verweilen bei Frauen länger im Magen-Darm-Trakt

Aus Genderperspektive sind Frauen und Männer von Verdauungsbeschwerden unterschiedlich häufig betroffen. Bei Frauen dauert zum Beispiel die Passage der Nahrung durch den Dünndarm doppelt so lange wie bei Männern. Auch Medikamente verweilen bei Frauen länger im Magen-Darm-Trakt, was Rückwirkungen auf die Wirkstoffaufnahme hat. Dickdarmkrebs tritt bei Frauen vermehrt auf der rechten, bei Männern auf der linken Seite auf. Raucherinnen haben ein höheres Darmkrebsrisiko als Raucher. „Diese Unterschiede bei der Funktion des Magen-Darm-Trakts werden in der Medizin nach wie vor nicht ausreichend berücksichtigt, was sich auch auf die Diagnose auswirkt. Im Einzelfall können Diagnoseverfahren, die in erster Linie für Männer entwickelt wurden, Frauen gefährlich benachteiligen“, glaubt Glezerman.“

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Auch die Vielfalt an Mikroorganismen im Darm, das sogenannte Mikrobiom, unterscheidet sich bei Männern und Frauen deutlich. Aus Sicht der Gendermedizin ist der Einfluss der Ernährung auf das Mikrobiom bei Mann und Frau etwas unterschiedlich. Es hat sich herausgestellt, dass eine identische Ernährung bestimmte typisch männliche und typisch weibliche Veränderungen beim Darmmikrobiom hervorruft.

Warum Frauen schneller frieren als Männer

Der wohl wichtigste Faktor zur Temperaturregulierung ist das Verhältnis zwischen Körperoberfläche und –volumen. Je kleiner die Oberfläche im Verhältnis zum Volumen ist, desto effizienter lässt sich die Temperatur aufrechterhalten. Das Körpervolumen von Frauen ist durchschnittlich 20 Prozent kleiner als das von Männern. Die Körperoberfläche ist jedoch nur rund 18 Prozent kleiner. Das bedeutet, dass Frauen im Verhältnis zum Körpervolumen eine größere Körperoberfläche haben, was für die Temperaturerhaltung ein klarer Nachteil ist. Männer haben außerdem grundsätzlich eine etwa 0,3 Grad niedrigere Kerntemperatur als Frauen und spüren deshalb Kälte nicht so schnell. Ein weiterer Unterschied im Umgang mit der Temperatur hängt mit den Hormonen zusammen. Bei Männern bleibt der Testosteronspiegel relativ konstant im selben Bereich, bei Frauen hingegen kommt es im Zyklusverlauf zu erheblichen Schwankungen von Östrogen und Progesteron.

Was sich ändern muss, damit Frauen und Männer gleich behandelt werden

Glezermans Fazit: „Wir brauchen mehr Untersuchungen zu Krankheiten, die beide Geschlechter betreffen, sich aber jeweils unterschiedlich manifestieren. Wir müssen begreifen, warum bestimmte Erkrankungen bei Männern und Frauen nicht in derselben Häufigkeit und zum Teil unterschiedlich schwer auftreten. Wir müssen auch herausfinden, wie Medikamente auf das jeweilige Geschlecht wirken und in welchem Ausmaß sie bei Männern und Frauen jeweils unterschiedliche Nebenwirkungen hervorrufen.“

„Die Welt ist nicht für Frauen gemacht“

Die Journalistin Caroline Criado-Perez geht in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ noch einen Schritt weiter. Sie sagt: „Unsere Welt ist von Männern für Männer gemacht. Frauen werden nicht gesehen, weil Daten über Männer den Großteil unseres Wissens ausmachen.“

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Die falsche Dosierung von Medikamenten ist für sie nur einer von vielen Punkten, in denen die Frauen sich an die Männer anpassen mussten. In ihrem Buch behandelt sie außerdem Beispiele aus Politik, Technologie, Arbeitswelt, Stadtplanung und Medien.

Was die Medizin angeht, beginnt für Criado-Perez die Diskriminierung der Frauen schon mit der Ausbildung der Ärzte: „Früher wurde angenommen, dass es zwischen Männern- und Frauenkörpern außer der Größe und der reproduktiven Funktion keine grundsätzlichen Unterschiede gebe. Deshalb konzentrierte sich die medizinische Ausbildung auf eine männliche Norm.“ Referenzen auf den „typischen Mann von 70 Kilogramm“ seien zahlreich, als decke er beide Geschlechter ab.

Frauen würden höchstens als Variation des Standards erwähnt. Ergebnisse klinischer Studien seien selbst dann als für beide Geschlechter gültig präsentiert worden, wenn Frauen gar nicht teilgenommen hätten. Dass es in medizinischen Lehrbüchern nur wenig geschlechtsspezifische Informationen gibt, hängt für Criado-Perez damit zusammen, dass Frauen aus der medizinischen Forschung ausgeschlossen würden. Es fehlten einfach die Daten.

Criado-Perez beschäftigt sich auch ausführlich mit Medikamenten und deren Wirkung. Sie beklagt, dass Narkosemittel und Chemotherapeutika mit geschlechtsneutralen Dosierungen arbeiteten und fordert, dass Tabletten bei Frauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten des weiblichen Zyklus getestet werden.

„Die Medizin macht sich mitschuldig am Tod von Frauen.“

Ihr Fazit: „Über Jahrtausende hinweg fußte die Medizin auf der Annahme, der männliche Körper stehe für den menschlichen Körper an sich. Die Folge ist eine riesige, über lange Zeit entstandene Datenlücke hinsichtlich weiblicher Körper. Die Lücke wächst weiter, weil die Forschung noch immer die ethische Notwendigkeit ignoriert, weibliche Zellen, Tiere und Menschen in ihre Untersuchungen aufzunehmen. Die Medizin macht sich mitschuldig am Tod von Frauen.“

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