Vier Millionen Senioren stürzen in Deutschland jährlich. Allein in Köln haben sich die Kosten, die dadurch entstehen nach Angaben der AOK Rheinland/Hamburg in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Wie man gegensteuern kann
SturzgefahrDer Kölner Guido Lau will aufstehen - und nicht mehr hinfallen

Guido Lau stürzte auf dem Weg zum Supermarkt und brach sich den Oberschenkelhals. Bislang war er zu stolz, in der Öffentlichkeit mit einem Rollator unterwegs zu sein. Schließlich sei er noch „ein junger Hüpfer“. Künftig will er die Gehhilfe aber dennoch lieber benutzen.
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Guido Lau war gerade auf dem Weg zum Supermarkt. „Mezzo mix, Isodrink, mittelalter Gouda und Aufschnitt“ stand auf seinem Einkaufszettel. Das Ziel liegt nur ein paar hundert Meter entfernt. „Das schaffe ich ohne Rollator – den benutze ich nur in der Wohnung. Draußen war ich dafür immer zu stolz“, schließlich sei er nach Meinung der Ärztinnen und Ärzte hier noch ein „junger Hüpfer“. Aber dann passierte es trotzdem. Die Bordsteinkante, vielleicht eine kurze Unaufmerksamkeit, so genau kann der 71 Jahre alte Lau das nicht mehr benennen. Jedenfalls stürzte er auf dem Bürgersteig. Zwar konnte er sich hochrappeln, aber am nächsten Morgen ging dann gar nichts mehr. „Ich konnte mich nicht mehr bewegen, nicht mehr aufstehen. Nicht einmal bis zum Telefon habe ich es geschafft.“ Also lag Lau bis am zweiten Tag zufällig eine Freundin vorbeikam, um nach ihm zu sehen. Sie brachte ihn in die Klinik, wo ein Oberschenkelhalsbruch diagnostiziert wurde. Lau benötigte eine neue Hüfte.
Laus Schicksal ist ein Posten in einer Statistik, deren Zahlen sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchen. Jeder vierte Mensch über 65 Jahren ist nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr mindestens einmal gestürzt. Knapp eine Million Mal sorgen Stürze von Seniorinnen oder Senioren für Klinikeinweisungen oder den Besuch der Notaufnahme. Mehr als vier Millionen ältere Menschen stürzen in Deutschland laut Robert-Koch-Institut mindestens einmal im Jahr. Oft muss hernach der Oberschenkelhals oder die Hüfte operiert werden. Es gibt Experten, die beziffern die daraus entstehenden Kosten für das Gesundheitssystem auf mehr als vier Milliarden Euro im Jahr. Angesichts des demografischen Wandels und der Tatsache, dass Menschen immer älter werden, könnten sich bald neue Spitzenreiter zum Zahlen-Wettstreit gesellen. Schon jetzt, meldet die AOK Rheinland/Hamburg auf Anfrage, seien die Pro-Kopf-Durchschnittsausgaben für Brüche bei den älteren Versicherten 10-mal so hoch wie bei der Gesamtpopulation. Insgesamt haben sich die Ausgaben für die über 80-jähigen Versicherten in Köln seit 2015 verdoppelt.
Auf der Suche nach der Sturzursache
Dr. Wolf Wallis, Facharzt für Geriatrie am Evangelischen Krankenhaus Köln Kalk (EVKK) und Koordinator des Alterstraumazentrums Köln, interessiert sich nicht nur dafür, dass nun eine neue Hüfte in Laus Gelenkpfanne liegt. Er ist auch auf der Suche nach den Sturzursachen. Schließlich geht es auch um Prävention und eine Vielzahl der Stürze in der Zukunft, so glaubt er, sei vermeidbar, würde man rechtzeitig die richtigen Schritte in die Wege leiten. Nicht immer entdeckt man Schwachstellen so leicht, sie können als nicht glattgezogene Teppichkanten ebenso daherkommen wie als eine bislang unentdeckte Durchblutungsstörung. „Am leichtesten zu erkennen und zu beheben sind oft kardiologische Ursachen. Da gründen die Stürze dann in kurzen Herzaussetzern, die zu Schwindel oder einer kurzen Bewusstlosigkeit und dadurch zum Stolpern führen. Ein Herzschrittmacher kann dann oft vor künftigen Stürzen bewahren“, sagt Wallis.
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Oberarzt Wolf Wallis vom Evangelischen Krankenhaus Kalk sucht nach den Sturzursachen seiner Patientinnen und Patienten.
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Bei Guido Lau liegen die Dinge nicht so klar. Mit seinem Herzen jedenfalls ist alles in Ordnung, also untersucht man im EVKK nun alle weiteren Organe auf mögliche Auslöser, nach einer anderen Operation vor zwei Jahren blieb eine Blutarmut zurück, die zur Schwächung und damit auch zu einem erhöhten Sturzrisiko führen könnte. Allein die derzeitige Ursache der Anämie haben mehrere Untersuchungen noch nicht entdecken können. „Meist gibt es aber auch nicht das eine Defizit, das alles erklärt“, sagt Wallis und vermutet ein Zusammenspiel verschiedener Ursachen. „Auch ein Nachlassen der Sinneswahrnehmungen im Allgemeinen kann dazu führen, dass wir Gefahren zu spät wahrnehmen, dann in Stress geraten und vielleicht ein Stolpern nicht mehr schnell genug abfangen können.“ Auf der Straße, beim Aussteigen aus dem Bus, in der ruckelnd anfahrenden Straßenbahn.
Nicht immer sollte man den Teppich rausreißen
Aber nicht nur für den Körper der Patienten interessiert man sich hier im EVKK. Wenn es um Sturzprophylaxe geht, dann fragt Wallis durchaus auch mal nach dem Bodenbelag zu Hause oder den baulichen Gegebenheiten im Badezimmer. „Manche Patienten profitieren davon, Teppiche zu entfernen, Türschwellen zu nivellieren oder im Badezimmer Haltegriffe anzubringen.“ Gerade nachts, wenn man beispielsweise mal auf die Toilette muss, seien Stolperfallen noch mal gefährlicher. Die Berührungsempfindlichkeit der Hände und Füße, so weiß Wallis, nehme im Alter ab. Könne man dieses Defizit im Lagegefühl dann in der Dunkelheit durch das Sehen nicht mehr ausgleichen, falle man leicht hin. Aber nicht immer sei eine Renovierung förderlich, so leicht ist es dann nun auch wieder nicht. „Auch eine Veränderung der Umgebung kann die Sturzgefahr erhöhen“, sagt Wallis.

Chefarzt Dr. Henning Kunter, Oberarzt Dr. Wolf Wallis und Therapeutin Manuela Schumacher erkundigen sich bei Guido Lau nach seinen Fortschritten.
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Guido Lau muss jetzt zur Darmspiegelung – Teil seines Untersuchungsmarathons zur Ursachenforschung seiner vermehrten Sturzfrequenz. Das Aufstehen klappt schon gut. „Aufgrund moderner Operationstechniken konnte Herr Lau schon am Tag des Eingriffs wieder auf dem verletzten Bein stehen“, sagt Dr. Henning Kunter, Chefarzt Unfallchirurgie am EVKK. Ein bisschen Entlastung bedarf es freilich dennoch. Lau zieht den Rollator an die Bettkante und lässt die Bremse einrasten, ehe er sich mit beiden Armen nach oben ins Stehen stützt. „Sehr gut“, lobt Manuela Schumacher, Leiterin der Therapieabteilung im EVKK. Auch den richtigen Umgang mit dem Rollator lehren die Physiotherapeuten hier ihren Patienten. „Dazu gehört auch, dass das Hilfsmittel nicht in einer Schlafzimmerecke abgestellt wird und man sich dann an Schrank und Stuhl entlang zum Bett hangelt. Der Rollator fährt mit bis zur Bettkante und wird dort fürs Aufstehen am nächsten Morgen geparkt.“ Schumacher lobt absichtlich viel. Schließlich wolle man verhindern, dass ein Sturz in einen Teufelskreis aus Verunsicherung, weniger Bewegung und dadurch noch mehr Abbau und letztlich weiteren Stürzen führe. „Wir wollen den Patientinnen und Patienten deshalb zeigen, dass sie noch mehr können, als sie vielleicht für möglich hielten.“
Motivation für den Alltag und die kleinen Erfolge
Dafür lässt Schumacher auch Laus Muskulatur nicht aus dem Blick. Die Beine müssen wieder fit gemacht werden, das Aufstehen, das Laufen, das Treppensteigen geübt werden. Activities of daily living nennt man das hier in der Klinik und gemeint ist, dass die Patienten wieder lernen sollen, ihren Alltag zu bewältigen. Dazu gehört die Mobilität, aber auch die Versorgung wie beispielsweise das Essenzubereiten, selbständiges An- und Ausziehen.

Physiotherapeutin Manuela Schumacher hilft den Patienten wieder auf die Beine. Wer vorbeugend tätig werden will, tut gut daran, in Bewegung zu bleiben und die Muskulatur zu trainieren. Am besten täglich.
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Auch wenn Schumachers Arbeit viel mit dem Aufbau und der Stärkung der Muskulatur zu tun hat, weiß sie auch viel über das Garnichthinfallen. Denn in einer idealen Welt könnte man einfache Übungen dem Sturz auch einfach vorschalten – und ihn so in vielen Fällen vielleicht verhindern. „Schon ab dem Alter von 30 Jahren sollten Menschen schon aus prophylaktischen Gründen Sport machen und das im Idealfall täglich“, sagt Schumacher. Dabei müsse man keine Höchstleistung vollbringen. Die Arme beugen und strecken mit gefüllten Wasserflaschen als kleines Gewicht, im Bett die Beine aufstellen und das Gesäß heben, im Sitzen die Arme heben und wieder senken, ohne die Hilfe der Arme sich hinsetzen und wieder aufstehen. Ein bisschen Dehnung und Gymnastik. 15 Minuten. Wer dann später dennoch falle, komme oft schneller und leichter auf die Beine.
Guido Lau soll morgen entlassen werden. Er will jetzt auch bei seinen Wegen zum Supermarkt den Rollator nutzen. Und auch die Scheu, anderen zur Last zu fallen, will er ablegen, das hat er versprochen. „Meine Tochter wohnt gleich um die Ecke. Der werde ich jetzt öfter mal auf die Nerven fallen.“
Balancetraining: Experten empfehlen den Einbeinstand - zum Beispiel beim Zähneputzen. Auch das Stehen auf den Zehenspitzen verbessert das Gleichgewicht. Zudem kann es helfen, ab und zu auf unebenem Untergrund unterwegs zu sein, oder - für Fortgeschrittene - beim Balancieren auf einem Bein die Augen zu schließen.
Krafttraining: Schon die Bewältigung des eigenen Haushalts - inklusive das aufrechte Tragen der Einkaufstaschen - hält fit. Insgesamt sollten aber auch einige Minuten täglich mit kleinen Kräftigungsübungen verbracht werden. Dazu kann man sich zum Beispiel ohne die Hilfe der Arme mehrmals hinsetzen und wieder aufstehen. Aber auch im Bett die Beine oder mit aufgestellten Beinen das Gesäß zu heben, hilft die Muskulatur am Abbau zu hindern. Fortgeschrittene üben mit elastischen Bändern, die den Widerstand etwas vergrößern. Viele Krankenkassen bieten zudem spezielle Kurse zur Sturzprophylaxe.
Sicheres Wohnumfeld: Lose Teppiche oder Kabel können zu Stolperfallen werden, diese sollten beseitigt werden. Auch Haustiere sollten Sie im Blick behalten, denn eine Katze zwischen den Beinen kann Sie zum Sturz bringen. Haltegriffe im Bad oder an Stufen sind sinnvoll, außerdem eine ausreichende Beleuchtung - auch neben dem Bett, falls Sie nachts aufstehen müssen.
