Experten-GesprächTraining, Hormone, Operation – was hilft wirklich gegen Inkontinenz?

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Symbolbild Inkontinenz Getty Images

Mehr als jede dritte Frau über 50 Jahren hat Probleme mit Inkontinenz. 

  • Mit Problemen des Beckenbodens plagen sich viele Frauen, so die Erfahrung des Gynäkologen Gert Naumann.
  • Niedergelassene Ärzte können sich jedoch kaum um Harninkontinenz kümmern, weiß der Mediziner. Und weil Harninkontinenz ein großes Tabu ist, gehen viele Frauen das Problem nicht an.
  • Dabei lässt sich viel gegen die den unkontrollierten Harnverlust tun. Von Beckenbodentraining über Hormone bis zu Operationen. Naumann erklärt im Interview, wann welche Maßnahme sinnvoll ist.

Probleme mit Harninkontinenz haben viele Frauen. Sie beginnen nach der Geburt der Kinder oder mit zunehmendem Alter, wenn das Bindegewebe des Beckenbodens nachlässt. Darüber sprechen mag aber kaum eine, entsprechend schlecht informiert sind viele Frauen. Professor Gert Naumann ist Experte auf den Gebieten Beckenbodenrekonstruktion und Inkontinenz. Im Interview erklärt er, was Frauen beachten sollten, die Probleme haben, ihre Blase zu kontrollieren und welche Möglichkeiten sie haben.

Harn- und Stuhlinkontinenz, Beckenbodensenkungen und -rekonstruktion, warum haben Sie sich ausgerechnet dieses Tabu-Gebiet ausgesucht? Gert Naumann: Während meiner Ausbildung stellte ich fest, dass sich viele Frauen mit Problemen des Beckenbodens und der Inkontinenz plagen. Niedergelassene Ärzte können sich kaum um Harninkontinenz kümmern. Das kostet viel Zeit und bringt wenig Geld. Das ist das Dilemma unseres kurz getakteten Gesundheitssystems. Es gab damals eine „Puller-Sprechstunde“. Die Bezeichnung sagt schon alles. Brustkrebs ist gesellschaftlich etabliert, Urin zu verlieren eher nicht.

Prof. Dr. Gert Naumann

Prof. Dr. Gert Naumann ist Chefarzt für Frauenheilkunde im Helios Klinikum Erfurt. 

Ist Inkontinenz bei Frauen, je älter sie werden, ein Automatismus? Nein, aber es kommt häufig vor – bei 35 Prozent aller Frauen ab dem 50. Lebensjahr. Ursache der Belastungs-Harninkontinenz ist eine typische Bindegewebsschwäche, die Harnröhre hat eine Verschluss-Schwäche. Das kann, muss aber nicht Folge einer Schwangerschaft oder Entbindung sein oder sie tritt in den Wechseljahren auf. Bei überaktiver Blase muss man stets aufs WC, auch nachts. Oder die Blase entleert sich ohne Kontrolle, sprich eine Reiz- oder Drangblase. Wir haben viele medizinische Möglichkeiten zu helfen. Die Problemfälle nehmen zu, denn Frauen erreichen durchschnittlich ein Lebensalter von 88 Jahren. Inkontinenz ist ein Tabuthema und in unserem Gesundheitswesen ist dafür keine große Empathie zu finden.

Warum sind Schwangerschaften und Entbindungen oft Ursache für Inkontinenz? Vor allem durch spontane Entbindungen, sprich natürliche Geburten durch die Scheide. Es gibt unzählige Studien, dass bei Spontan-Entbindung das Risiko bei 20 bis 30 Prozent liegt, dass später Senkungsprobleme oder Harninkontinenz auftreten. Ganz normal, wenn man bedenkt, dass die Scheide durch das Kinderköpfchen extrem gedehnt wird. Heute allerdings wird mittlerweile jedes dritte Kind mit Kaiserschnitt geholt, auch wegen der besseren Planung. Vor 30 Jahren lag die Kaiserschnitt-Rate bei unter fünf Prozent.

Sie haben zwei Kinder. Wie wurden sie entbunden? Durch Spontan-Entbindung. Die natürliche Geburt ist so alt wie die Menschheit. Dennoch müssen wir uns fragen, ob man das uneingeschränkt favorisieren sollte. Wir sind mittlerweile körperlich inaktiver, mehr übergewichtig und die Kinder im Bauch der Mutter immer schwerer. Also müssen wir Ärzte über die natürliche Geburt und die damit verbundenen Risiken genauso detailliert aufklären wie über den Kaiserschnitt.

Warum wird die eine Frau inkontinent, die andere nicht? Es gibt eine genetische Disposition und die Qualität des Bindegewebes ist ausschlaggebend. Diabetes verändert zudem die Blasenfunktion. Wer unter Raucherhusten leidet, verliert Urin-Tröpfchen beim Husten, wenn die Harnröhre Verschluss-Schwäche hat. Übergewicht ist ein Problem. Und der veränderte Hormonhaushalt mit einem Mangel an Östrogenen in den Wechseljahren spielt eine Rolle.

Hilft eine Hormon-Therapie? Wir therapieren zuerst mit niedrig dosierten Hormonzäpfchen für die Scheide und klären auf über den richtigen Toilettengang. Also nicht den WC-Gang verkneifen und aufschieben, denn das kann zu Blasenfunktionsstörungen führen. Mit zunehmendem Alter können Durchblutungsstörungen der Nervenbahnen hinzukommen, wodurch die Blase sich zusammenzieht und unkontrolliert entleert.

Führen Blasenentzündungen zu Inkontinenz? Ja, dann spricht man von überaktiver Blase, Drangblase und Reizsymptomatik. Oder aber Resturin bleibt zurück, ein idealer Nährboden für Bakterien.

Wann ist ein Eingriff unumgänglich? Operation bedeutet Rekonstruktion und Reparatur. 50 Prozent der Frauen ab 50 haben eine beachtliche Beckenbodensenkung, aber keine Probleme. Das bedarf keiner medizinischen Behandlung, aber man kann selbst etwas tun: Training und lokale Hormontherapie mit Estriol-Salben oder -Zäpfchen. Estriol ist ein Östrogen, hat aber keine negativen Auswirkungen auf Herz-Kreislauf oder Brustkrebs. Bei einer Beckenbodensenkung helfen zudem Würfelpessare aus Silikon. Die werden in die Scheide eingeführt und halten die Beckenbodenorgane. Manche brauchen so einen Pessar nur beim Sport.

Prof. Dr. Gert Naumann ist seit 2013 Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe im Helios Klinikum Erfurt und hat einen Lehrauftrag an der Universität in Düsseldorf. Naumann gehört bundesweit zu den führenden Experten auf dem Gebiet der Beckenbodenrekonstruktion und Inkontinenz. Er war lange Präsident der Arbeitsgemeinschaft Urogynäkologie und ist Schatzmeister der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Der 54-Jährige lebt mit Frau und zwei Kindern in Erfurt.

Wie trainiert man den Beckenboden optimal? Idealerweise beginnt das Training mit Beckenbodengymnastik unter professioneller Anleitung einer versierten Physiotherapeutin. Gut geeignet sind auch Rüttelplatten in Fitnessstudios. Es gibt auch kleine Elektroden, die man in die Scheide einführt. Sie geben Signale, wenn der Beckenboden korrekt angespannt wird beim Training. Über Apps kann man sich gute Beckenbodentrainings runterladen. Je eher Frauen damit anfangen, desto besser. Wer entbunden hat, muss sofort mit Beckenbodentraining beginnen.

Wann macht es Sinn, Bänder einzusetzen? Bänder werden eingesetzt bei belastungsbedingter Harninkontinenz, wenn beim Husten, Lachen, Sex, Sport Urin verloren wird. Das Problem ist der mangelnde Verschluss der Harnröhre. Bei einer überaktiven Blase werden keine Bänder eingesetzt.

Wie ist es um die Qualität der Bänder bestellt? Die Bänder sind aus Kunststoff und können lebenslang im Körper bleiben, wenn die Operation gut gemacht ist. Studien belegen, dass selbst nach 17 Jahren die Erfolgsrate noch bei 70 bis 80 Prozent liegt. Vorausgesetzt man verändert sich körperlich nicht, nimmt nicht zu, hebt keine schweren Sachen. In den 1990er Jahren wurden die Bänder eingeführt. Bei jungen Frauen war man damals zurückhaltend. Heute operiert man Frauen ab 45, wenn alle konservativen Therapien nicht mehr greifen.

Wann werden Netze eingesetzt? Bei einer Senkung im Beckenboden braucht man zum Heben ein Netz von rund zehn Quadratzentimetern. Das ist relativ viel Fremdmaterial. Der Netz-Kunststoff neigt dazu, Spliss zu entwickeln und brüchig zu werden. Netzmaterial kann sich durch die Scheide arbeiten und Schmerz verursachen, vor allem beim Sex. Auch Harndrang und Unterbauchschmerzen können die Folge sein. Der Markt der Zivilklagen gegen Netzhersteller in den USA beispielsweise ist höher als der Markt der Scheidungsklagen. Dennoch vertrete ich es, Netze einzusetzen bei der richtigen Patientin und einer exakten Diagnose. Betagte Patientinnen profitieren von Netzen, weil neues Bindegewebe in die Struktur einwächst.

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Gibt es keine Alternative zu Netzen? Bei einer Senkung arbeiten wir zuallererst mit körpereigenem Gewebe, also bei der ersten Operation kein Netz. Aber wenn das körpereigene Gewebe auch erschlafft, dann kommt das Netz zum Einsatz. Acht von zehn Frauen kommen damit klar, wenn körpereigenes Gewebe genommen wird. Bei zwei von zehn Frauen ist das nicht möglich, weil sie kein geeignetes körpereigenes Gewebe haben.

Wird die Qualität des Materials geprüft? Erst ab diesem Jahr unterliegen neue Produkte, die auf den Markt kommen und in den Körper eingesetzt werden, einer genauen Kontrolle. Bereits etablierte und zugelassene Produkte sollen erst ab 2022/24 kontrolliert werden. Aber es gibt nicht genug Institutionen, die das machen könnten. Der politische Wille ist zwar da, aber die Voraussetzungen fehlen. Bänder sind zertifiziert und wissenschaftlich überprüft. Hauptlieferant ist die USA, aber auch in Deutschland werden Bänder hergestellt. Wir nehmen das deutsche Produkt.

Was passiert bei qualitativ nicht so guten Bändern? Probleme machen nicht die Bänder, sondern meist der Operateur. Brustkrebs lässt man in streng zertifizierten Brustzentren behandeln. Das wollen wir auch auf dem Gebiet der Urogynäkologie. Nicht jeder sollte Netze oder Bänder einsetzen dürfen.

Welche Probleme können entstehen? Harndrang, ohne dass Urin vorhanden ist. Die Blase kann sich nicht mehr vollständig entleeren, Fremdkörpergewebe liegt in der Scheide, starke Schmerzen, sodass man nicht mehr sitzen kann oder der Schmerz strahlt ins Bein aus. Leider nehmen manche Ärzte, die es nicht optimal können, so einen Eingriff vor. So eine Operation wird gut honoriert und dauert nur 30 bis 40 Minuten.

Adressen und Informationen: Von den Gesellschaften für Gynäkologie, Geburtshilfe, Urologie, Viszeralchirurgie, Koloproktologie wurde zusammen mit der „Deutsche Kontinenz Gesellschaft e.V.“ ein Zertifizierungssystem aufgestellt. Dort gibt es Adressen von Beratungsstellen und Kontinenzzentren. Die Hotline ist montags bis freitags von 15 bis 20 Uhr unter 0 18 05/23 34 40 (0,12 Euro pro Minute) erreichbar.

Die AGUB e.V. (Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie und plastische Beckenbodenrekonstruktion) führt auf ihrer Web-Seite eine Liste der Experten. Stufe 1 ist „der interessierte Facharzt“, Stufe 2 „die Kollegen in den Kliniken“, Stufe 3 „die Experten“. Letztere sind die besonders erfahrenen Ärzte. 40 extrem erfahrene Mediziner auf dem Gebiet arbeiten bundesweit in rund 30 Zentren und führen auch Revisions-Operationen durch, also jene Fälle, wo Fehler oder unzureichende ärztliche Leistung korrigiert werden muss. (mas)

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