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Interview„Die Gesundheitsreligion ist Realsatire pur“

3 min

Herr Lütz, Sie sind Arzt und Therapeut. Wie passt das mit Ihrer Kritik am Gesundheitswahn zusammen?

Dr. Manfred Lütz: In Maßen gesund zu leben und gesund zu sein, das ist ein hohes Gut. Aber ich habe etwas gegen diese Übertreibungen, die fast religiöse Züge annehmen, denn so laufen wir Gefahr, das Leben zu verpassen.

Was hat uns zu Sklaven der Gesundheit gemacht?

Lütz: Man glaubt nicht mehr so recht ans Ewige Leben, aber sterben möchte man auch nicht. So ist man bereit, wirklich alles zu tun, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Krank und schwach zu werden drängt uns an den Rand der Gesellschaft. Ist es nicht verständlich, dass man alles tut, um gesund zu bleiben?

Lütz: Wer krank ist, vor allem unheilbar krank oder behindert, der gilt in unserer Gesundheitsgesellschaft unausgesprochen als Mensch zweiter oder dritter Klasse. Zur Zeit wird in westlichen Gesellschaften darüber diskutiert, wie man solchen Menschen einen möglichst unauffälligen Abgang aus dem Leben ermöglichen kann. Das Christentum hatte mal das Mitleid mit den Schwachen und Kranken erfunden. Aber das ist offenbar wieder vorbei.

Den Schönen, Faltenlosen und Gesunden ebnet die Gesellschaft aber nur zu gern den Weg. Warum soll man nicht dazugehören dürfen?

Lütz: Weil das propagierte Schönheitsideal unerreichbar – und gerade dadurch ökonomisch interessant ist. Ein erreichbares Ideal ist uninteressant, denn dann kann man ja all die Mittelchen nicht mehr loswerden. Das mit der ewigen Schönheit funktioniert nun mal nicht.

Bei manchen scheinbar doch.

Lütz: Nehmen Sie die Haut. Wir haben in der Dermatologievorlesung gelernt: Bis zum 18. Lebensjahr ist die Haut hässlich – Pickel und so – ab dem 23. Lebensjahr beginnt aber die Hautalterung. Das Ganze ist also eine einzige Anleitung zum Unglücklichsein.

Sie erliegen diesen Versuchungen des Gefallens nicht?

Lütz: Als ich gerade 50 geworden war, habe ich mir bei einem Empfang den Spaß erlaubt, laut zu sagen: Ich bin jetzt 50, ich bin jetzt alt – und ich bin das gerne! Da erstarben die Gespräche rundum. Früher sagte man über geistig Behinderte: Der Jung is zurückjeblieben. Die englische Übersetzung davon ist: Anti-Aging. Da hat man sein ganzes Leben hart daran gearbeitet, Altersweisheit zu verströmen und dann hält jemand einen für jünger. Empörend!

Sie schwimmen gegen den Strom und geißeln den zynischen Unsinn des Gesundheitswahns. Warum?

Lütz: Weil die Gesundheitsreligion Realsatire pur ist. Der bruchlose Übergang von der katholischen Prozessionstradition in die Chefarztvisite, Wallfahrten zum neuen Doktor, Exerzierübungen schlimmer als bei den Preußen, das muss man einfach mal im Kabarett darstellen, damit man lustvoller lebt, auf dass nicht nachher auf dem Grabstein steht: Irgendetwas hat er falsch gemacht.

Das Gespräch führte Marie-Anne Schlolaut

Dr. Manfred Lütz ist Theologe, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Leiter des Alexianer-Krankenhauses in Köln und Bestseller-Autor.