Interview: So kann man Heißhunger abtrainierenDie Lust auf Süßes beginnt im Kopf

Schon von Kindheit auf lockt uns Süßes mehr als Bitteres.
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Köln – Frau Sieben, warum entscheiden wir in Ernährungsdingen häufiger aus dem Bauch als mit dem Kopf?
Weil wir uns instinktiv an einer kurzfristigen Lustbefriedigung orientieren. Unsere mittel- und langfristigen Ziele, wie gesünder zu essen oder uns mehr zu bewegen, benötigen sehr viel Disziplin und Energie. Im Stress fehlt uns diese Energie, dann gewinnt der Bauch und somit die kurzfristige, lustvolle Befriedigung.
Wenn es nach meinem Bauch geht, würde ich – auch ohne gestresst zu sein – eher zur Schokolade als zum Apfel greifen. Warum steht der Bauch so sehr auf Ungesundes?
Das hat verschiedene Gründe. Zum einen ist die Lust auf Süßes in uns angelegt. Fast alle Kleinkinder steigen, was das Essen betrifft, mit relativ süßen Nahrungsmitteln ein, Bitteres verweigern sie. Oder kennen Sie ein Kind, das freiwillig Rosenkohl oder Chicorée isst? Warum? Süßes signalisiert Sicherheit, Bitteres Gefahr – das Nahrungsmittel kann giftig sein! Auch die Erinnerung an eine besonders schöne Situation aus frühester Kindheit, die positive Gefühle erzeugt, getröstet oder in anderer Weise geholfen hat, kann eine große Rolle spielen.
Omas Apfelküchle!
Oder der Duft von Schokoladenpudding. Den habe ich immer noch in der Nase – seit Kindheitstagen. Er signalisiert mir: Jetzt kommt eine besonders schöne Genusssituation. Diese Gefühlsverstärker kann man sich bewusst machen – und austauschen.
Möhre statt Apfelküchle? Das klappt niemals!
Natürlich wird eine Möhre nicht diese kraftvolle Sinneswelt Ihrer damaligen Erlebnisse aktivieren können wie Ihre geliebten Apfelküchle, aber auf lange Sicht durchaus eine ähnlich positive. Für diese Strategie brauchen Sie erstmal nur Ihren Kopf – und eine passende Situation. Setzen Sie sich zum Beispiel an einem sonnigen Frühlingstag, auf den Sie lange gewartet haben, auf eine Parkbank, genießen Sie die schöne Aussicht auf den Rhein und knabbern Sie ganz bewusst eine Möhre. Dieses Geschmackserlebnis kombiniert mit diesem Wohlgefühl holen Sie sich anschließend so oft wie möglich in Erinnerung – dann werden Sie die Möhre mit einem positiven Genussmoment in Verbindung bringen. Zukünftig denken Sie dann in angespannten Situationen vielleicht: Wenn ich jetzt in ein Möhrchen beiße, geht es mir gut.
Es geht also darum, auf eigene Faust Gefühle zu verstärken?
Und darum, alte Gewohnheiten umzuprogrammieren oder auf Reset zu schalten, also auf einen neutralen Ausgangszustand. Bestes Beispiel ist der Biss in einen Apfel nach einer Fastenkur – eine Geschmacksexplosion, ein Sinnesrausch, den Sie so schnell nicht vergessen werden. Solche Erlebnisse sollten Sie so oft es geht in Ihren Alltag integrieren. Es ist deswegen auch schon einmal förderlich, hungrig zu sein und dann sehr langsam und bewusst zu essen.
VortragWeshalb wählen wir so oft die Schokolade und nicht den Apfel oder das Möhrchen? Und das, obwohl wir uns eigentlich längst für ein gesundes und leichteres Leben entschieden haben. Wie Sie mit Hilfe von kognitiven und gefühlsverstärkenden Techniken Ihre persönliche Gesundheitsstrategie auf ein solides Fundament stellen können, zeigt Beatrix Sieben, Coach und Management-Trainerin. Interaktive Elemente und das eine oder andere Häppchen zum Probieren machen den Vortrag auch zu einem sensorischen Erlebnis.Zeit: Dienstag, 5. Mai, 19 Uhr (Einlass 18 Uhr)Ort: studio dumont (im Dumont-Carré), Breite Straße 72, KölnPreis: 7,50 Euro, Anti-Diät-Club-Mitglieder zahlen 5 EuroNur Abendkasse!Versicherte der Pronova BKK erhalten 500 Bonuspunkte für den Besuch der Veranstaltung. Bitte das Bonusheft mitbringen.
Aber dadurch werde ich mir die Lust auf Süßes doch nicht ganz abtrainieren, oder?
Nein, aber Sie werden unempfindlicher sein für die Verlockungen. Das Angebot an ungesunden Lebensmitteln ist in unserer westlichen Welt extrem groß. Egal, wo man Halt macht, an Tankstellen, am Bahnhof, Flughafen: Man trifft zu mindestens 80 Prozent auf Fettiges oder Süßes und/oder die Kombination davon – was nach ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen besonders schädlich sein soll. Wenn einem das bewusst ist, kann man Obst einstecken oder etwas anderes Gesundes. Da immer alles verfügbar scheint, verlernen wir, ein kurzfristiges Hungergefühl gelegentlich einmal zu genießen oder auszuhalten.
Es gehört also auch eine gehörige Portion Disziplin dazu.
Ja, oder besser: Bewusstheit. Wenn Sie sich möglichst oft vorstellen „so möchte ich leben“ und diese Gedanken mit positiven Gefühlen koppeln, dann hat das eine enorme Zugkraft. Auch Wissen hilft. Es ist bekannt, dass die Nahrungsmittelindustrie sich große Mühe gibt, Geschmacksexplosionen zu erschaffen – Schokokugeln und -riegel, die eine möglichst breite Sensorik ansprechen, indem sie Festes, Cremiges und Knuspriges enthalten. Wenn ich das weiß, kann ich entscheiden, ob ich darauf reinfallen will – oder nicht.
Es hilft also schon allein zu wissen, dass wir Wahlmöglichkeiten haben?
Unbedingt. Wir Westeuropäer lieben doch unsere Freiheit. Wir nutzen sie nur nicht immer, so wie wir es könnten. Ist es nicht ein herrliches Gefühl, derjenige zu sein, der bewusst Entscheidungen treffen kann – und auch trifft? Wenn ich mich zum Beispiel bewusst entscheide, Schokolade zu essen oder eben nicht, hole ich mich damit aus der Opferrolle heraus, bin nicht mehr diejenige, die gezwungen ist, Schokolade zu essen. Kurz gesagt: Entscheidend ist die Entscheidung.
Funktionieren diese Gefühlsverstärkungen nur mit Positivem?
Nein, ich kann positiv und negativ verstärken, je nachdem, was nützlich für mich und meine Strategie ist. Stellen Sie sich vor, Sie sehen das Bild eines achtjährigen Mädchens in einem rosafarbenen Kleid und Sie wissen, es wird möglicherweise nicht, wie es altersgemäß wäre, die Schule besuchen, sondern auf einer Haselnussplantage arbeiten. Nicht alle Hersteller kümmern sich um faire und menschenwürdige Bedingungen. Mit dem Wissen um Kinderarbeit in der Schoko-Industrie und dem Bild des kleinen Mädchens im Kopf fällt die Entscheidung, beim nächsten Heißhunger auf Schokolade nicht zum Riegel zu greifen oder wenigstens nicht zu einem bestimmten Produkt, vielleicht ein wenig leichter.