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Interview: So wirkt Essen als AntidepressivumGenussmenschen leben gesünder

Lesezeit 6 Minuten

Die Kunst des Genießens.

Frau Gruber, Sie sind bekennende Genießerin. Was bereitet Ihnen den größten lukullischen Genuss?

Das kommt auf die Situation an. Das kann mal ein Achtel Wein sein, mal eine Schokolade. Genauso wie ein Schnittlauchbrot oder auch ein deftiger Schweinebraten.

Sie fordern öffentlich mehr Mut zum Genuss. Aber jeder strebt doch automatisch nach positiven Erlebnissen. Warum braucht es dazu Mut?

In Umfragen in Österreich und Deutschland gibt tatsächlich die Mehrzahl der Befragten an, ein Genussmensch zu sein. Schaut man dann aber genauer hin, zeigt sich, dass sieben von zehn Menschen zwar gerne genießen – aber das nicht richtig können.

Wo liegt das Problem?

Das hat mehrere Ursachen. Die eine ist, dass wir heute der Gesundheit einen extrem hohen Stellenwert eingeräumt haben. Wenn es um Essen oder Trinken geht, schauen wir erst einmal darauf, ob es dick macht, ob Pestizide drin sein könnten oder andere Gefahren drohen. Dabei entwickelt sich ein schleichendes Unbehagen, das Genuss fast unmöglich macht.

Die logische Antwort darauf wäre Gelassenheit – und nicht Mut.

Doch, weil Mut immer dann gefragt ist, wenn man Angst hat. Und zurzeit werden bei uns viele Ängste geschürt. Wir leben in einer Verbots- und Verzichtkultur. Dinge wie Rauchen sind öffentlich nicht mehr erlaubt, es wird erwartet, dass jeder etwas für seine Gesundheit tut. Die Folge: Man würde gerne genießen, kann es aber nicht. In einer Studie, in die Befragten in Genießer, Genusszweifler und Genussunfähige eingeteilt wurden, zeigte sich genau das: Die Zweifler sind mit 68 Prozent die größte Gruppe. Sie würden vielleicht gern eine Schweinshaxe essen, erlauben es sich aber nicht.

Was zeichnet Genießer aus?

Genießer sind Menschen, die wissen, was ihnen guttut. Die ihre Schweinshaxe voll auskosten. Und dann die nächste vielleicht erst ein halbes Jahr später essen. Diese Menschen legen besonderen Wert auf Qualität und Abwechslung. Sie scheuen sich nicht, auch mal einen fetten Käse zu essen, kaufen nach Geschmack – auch wenn es mal mehr kostet. Die Zweifler dagegen denken: Es wäre schon schön, diese Salami zu essen – wenn sie nicht so ungesund und teuer wäre. Oder sie essen sie und haben stets ein schlechtes Gewissen dabei.

Vielleicht halten den modernen Genusszweifler aber auch ethische Gründe ab. Schließlich wissen heute viele Menschen, wie Fleisch in der modernen Landwirtschaft produziert wird.

Genuss muss nicht unmoralisch sein, aber vielleicht ist er manchmal aufwändig. Wenn ich eine Schweinshaxe essen mag, die richtig produziert ist, dann muss ich mir eben Zeit nehmen und einen Bauern suchen, der seine Tiere noch draußen herumlaufen und stressfrei schlachten lässt. Diese Haxe ist dann zwar doppelt so teuer wie im Supermarkt, dafür kaufe ich sie aber auch deutlich seltener.

Sie behaupten, Genuss sei ein natürliches Antidepressivum, könne uns ausgeglichener, optimistischer und letztlich gesünder machen. Gibt es für diesen Lobpreis des Hedonismus harte Belege?

Die genauen Pfade der für den Genuss zuständigen Substanzen im Zentralnervensystem sind noch nicht komplett erforscht. Klar ist, dass die Ausschüttung von Dopamin eine große Rolle spielt. Belege für eine therapeutische Wirkung des Genusses haben zum Beispiel Psychologen der Uni Marburg geliefert. Dort wurde die „Kleine Schule des Genießens“ als Therapieprogramm für Depressionspatienten entwickelt. Es konnte gezeigt werden, dass bei Menschen mit Depressionen die sinnliche Wahrnehmung stark heruntergedimmt ist. Wenn diese anfangen, wieder bewusst zu riechen und zu schmecken, können sie eine ganz andere Aufmerksamkeitsschwelle erlangen, was ihre Therapiechancen deutlich erhöht.

Kann man einen Hamburger bewusst genießen?

Natürlich! Was jemand genussvoll findet, ist schließlich von Mensch zu Mensch verschieden. Und es spricht auch gar nichts gegen einen Hamburger ab und an. Momentan teilen wir viele Lebensmittel in gute und böse ein. Aber das ist Unsinn. Kein einzelnes Produkt ist für sich gesund oder ungesund. Die Menge macht den qualitativen Sprung. Zudem schauen wir nur sehr technokratisch darauf, was wir essen sollten – aber viel weniger, wie wir das machen.

Was macht denn den Unterschied aus, wenn man dasselbe Gericht einfach in sich reinschiebt oder es genießerisch verspeist?

Der erste Unterschied ist: Wir essen mehr, wenn wir schlingen. Unser Magen sendet nach 15 bis 20 Minuten die ersten Sättigungssignale – unabhängig von der Menge. Zum anderen speichern wir das Erlebnis im Gehirn ganz anders ab, wenn wir uns Zeit nehmen und bewusst essen. Wir schmecken dann Nuancen heraus, die uns sonst nicht auffallen würden, und stellen Vergleiche an zu Speisen, die wir in letzter Zeit gegessen haben. Genießen bringt eine doppelte Belohnung: Man intensiviert das aktuelle Erlebnis – und schult seine kulinarische Bibliothek im Kopf.

Marlies Gruber: „Mut zum Genuss. Warum uns das gute Leben gesund und glücklich macht“, Edition A, 172 S., 19,95 Euro

Kann man Genuss lernen?

Einige tun sich vielleicht leichter damit als andere, aber ja: Genuss ist erlernbar. Das Wichtigste ist, sich Zeit zu nehmen, seine Sinne auf Maximum zu schalten und aufmerksam auf Kleinigkeiten zu achten. Oft sind es die Details, die den Unterschied und die Freude machen, wenn man sie erkennt.

Mussten Sie das Genießen selbst erst lernen?

Meine Grundveranlagung zum Genuss war schon ganz gut. Aber je mehr man sich mit dem Thema beschäftigt, desto besser lernt man sich auch selber kennen. Das muss man auch, um zu wissen, was man persönlich genießen kann. Das hat etwas mit Selbstfürsorge zu tun. Dafür reicht es schon, jeden Tag ein paar Mal kurz innezuhalten und in sich hineinzuhorchen: Womit könnte ich mir jetzt gerade Gutes tun?

In Ihrem Buch betonen Sie, Verzicht sei wichtig für Genuss. Klingt wie ein Widerspruch.

Das klingt vielleicht aufs Erste so. Aber Verzicht bewahrt vor Gewohnheit – den natürlichen Feind des Genusses. Wenn man jeden Tag das Gleiche isst oder auch dieselbe Musik hört, stumpft man irgendwann ab und nimmt das Besondere nicht mehr wahr. Das ist das beispielsweise auch das Schöne an saisonalen Lebensmitteln: Gerade, weil sie nicht ständig verfügbar sind, schaffen sie Vorfreude und Abwechslung – zwei Bedingungen für den Genuss.

Sie zitieren den Schweizer Wirtschaftsforscher Mathias Bindwanger, der sagt: „Der Verlust an Savoir-Vivre ist der Preis für unseren Wohlstand.“ Was meint er damit?

Ich verstehe das so, dass wir oft in unserem Hamsterrad dahinrennen und versuchen, Geld zu schöpfen, das wir dann in Dinge investieren, die wir nicht richtig auskosten können, weil uns dafür die Zeit fehlt. Und dass wir dabei wohl etwas unentspannt werden.

Marlies Gruber: „Mut zum Genuss. Warum uns das gute Leben gesund und glücklich macht“, Edition A, 172 S., 19,95 Euro