Künstliche GelenkeNeues Knie, neues Leben?

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Laufen ohne Schmerzen – das wünschen sich Menschen, die an einer Arthrose in Knie oder Hüfte leiden.

Laufen ohne Schmerzen – das wünschen sich Menschen, die an einer Arthrose in Knie oder Hüfte leiden.

Grund 212000 künstliche Hüft- und 155000 künstliche Kniegelenke wurden im Jahr 2012 in Deutschland eingesetzt. In kaum einem anderen Land kommen im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr sogenannte Endoprothesen zum Einsatz – bei den Hüften war Deutschland 2007 weltweit Spitzenreiter, und nur in den USA wurden mehr Kniegelenke ersetzt. Und die Zahlen steigen.

Kritiker vermuten, dass das nicht nur mit der alternden Gesellschaft und den Möglichkeiten der Medizin zusammenhängen könnte, sondern auch mit der Vergütung der Operationen: Die Fallpauschale für den Einsatz einer Endoprothese in Hüfte oder Knie beträgt 8000 Euro – bei Materialkosten zwischen 500 und 1500 Euro. Die Krankenhäuser verdienen gut an den künstlichen Gelenken. Wird deshalb öfter operiert als es medizinisch notwendig wäre?

„Einmal neue Knie, bitte!“

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Mittwoch, 17. September, 19 Uhr, studio dumont, Breite Straße 72, Köln-Innenstadt

Experte: Professor Dr. Peer Eysel, Direktor der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie an der Uniklinik Köln

Werden in Deutschland zu häufig künstliche Gelenke eingesetzt – weil der Eingriff lukrativ ist für die Kliniken oder die Patienten das Älterwerden nicht akzeptieren? Professor Peer Eysel erklärt, wann ein künstliches Knie- oder Hüftgelenk wirklich sinnvoll ist – und welche Materialien und Operationsmethoden sich als gut erwiesen haben.

Karten für 12,55 Euro (Abocard 10,55 Euro) gibt es ab sofort im Servicecenter Breite Straße 72, Köln, bei Kölnticket 0221/2801

www.koelnticket.de

Abocardpreis: ☎ 0221/280344 www.abocard.de

Den Weg zum Büro von Peer Eysel, Professor für Orthopädie und Direktor der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie an der Uniklinik Köln, weisen gerahmte Röntgenaufnahmen von Körpern mit künstlichen Gelenken. Die Eingriffe werden an der Uniklinik Köln mehr als 300 Mal pro Jahr durchgeführt. Eysel sagt: „Die Operation wird manchmal geradezu verkauft, es wird mit neuen Materialien oder OP-Techniken geworben – das ist bedenklich.“

Er erlebt aber in seinen Sprechstunden auch ein anderes Phänomen: Da sitzen Patienten vor ihm und beklagen, dass sie keine 18 Löcher Golf mehr schaffen, weil ihnen die Hüften schmerzen. Dass sie keine Bergtouren mehr gehen können, weil die Knie das Bergablaufen zur Qual machen. „Ich frage dann: Wie ist es denn im Alltag? Und oft lautet die Antwort: Naja, da geht es“, sagt Eysel. Dann rät er vom Eingriff ab: „Das ist eine große Operation, verbunden mit Blutverlust, Thromboserisiko, Infektionsrisiko – das macht man nicht mal eben.“

Jeder Gang eine Qual

Andererseits sei der Einsatz von Endoprothesen in Hüft- oder Kniegelenke „ein extrem segensreicher Eingriff“, sagt Eysel. Arthrosen sind extrem schmerzhaft. Der Verschleiß der großen Gelenke macht jeden Gang zur Qual – und einen normalen Alltag mit Einkäufen, Spaziergängen, Unternehmungen irgendwann unmöglich. Nach einem gelungenen Austausch des betroffenen Gelenks ist der Schmerz schlicht verschwunden. „Für die Patienten beginnt dann geradezu ein neues Leben. Sie können vieles wieder tun, was vorher unmöglich war“, erzählt Peer Eysel. In der renommierten medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ wurde der Einsatz künstlicher Hüftgelenke gar als „Operation des Jahrhunderts“ gerühmt – weil dank ihm Menschen nun auch im Alter beweglich bleiben.

Das zu ermöglichen, ist auch Eysels erklärtes Ziel – bevor er einem Patienten zur Operation rät, versucht er jedoch herauszufinden, wie sehr dessen Lebensqualität tatsächlich eingeschränkt ist. Seine Faustregel: Wer damit zurechtkommt, dass er ein- bis zweimal pro Woche, vor besonderen Belastungen wie Sport, Museumsbesuchen oder Städtetouren Schmerzmittel nehmen muss, sollte noch warten mit dem Eingriff. Wer jeden Tag zu Tabletten greifen muss, um den Alltag zu bewältigen, für den ist es Zeit, eine Operation zu planen.

Dem Orthopäden ist bewusst, dass gerade eine leichte Arthrose, bei einem noch beweglichen – und bewegten – Gelenk extrem schmerzhaft ist. „Wenn jemand viel Sport treibt und enorm darunter leidet, darin eingeschränkt zu werden, kann ein Eingriff durchaus in Betracht kommen“, sagt Eysel. Grundsätzlich aber tendiert er dazu, älteren Menschen eher früher als jüngeren zur Operation zu raten: „Bei Patienten unter 60 kann sich das Herauszögern des Eingriffs durchaus lohnen. Nach 20 bis 25 Jahren müssten sie sonst damit rechnen, dass die Prothese sich lockert und ausgetauscht werden muss.“ Wenn jemand über 70 ist und Schmerzen hat, sollte dagegen eher die Lebensqualität im Moment im Vordergrund stehen.

Zu langes Warten kann aber auch zu Problemen führen: Wenn das Gelenk vor der Operation durch Knochenwucherungen und Schonhaltung bereits steif war, muss ein normaler Bewegungsablauf in der Reha erst wieder gelernt werden. Unter Umständen ist es sinnvoll, die Beweglichkeit vor dem Eingriff gezielt zu steigern.

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Gelenke sollen einwachsen

Eingesetzt werden heute dann vor allem Hüftgelenke aus Titan, die nicht einzementiert werden, sondern in den Knochen einwachsen; bei den Knien gilt als „Goldstandard“, möglichst nur die Oberflächen des Gelenkkopfs ähnlich einem Zahn zu überkronen – die Prothesen werden einzementiert, ein mobiler Meniskus aus Kunststoff zwischen ihnen erhält die Gleitfunktion des Gelenks. Wenn alles gut geht, halten solche Endoprothesen heute in den meisten Fällen mehr als 15 Jahre.

Welche Herangehensweise im Einzelfall sinnvoll ist, müssen Ärzte immer wieder abwägen. Minimalinvasive Eingriffe hätten den Vorteil, dass Patienten schnell mobil seien, aufgrund der geringeren Übersicht komme es jedoch häufiger zu Komplikationen, sagt Peer Eysel. Knochensparende Teil-Prothesen seien oft gut für jüngere Patienten, bei denen das künstliche Gelenk irgendwann ausgetauscht werden muss – dann profitieren sie von mehr eigener Substanz. Andererseits lockert sich eine Teilprothese öfter als eine Vollprothese.

Bei einer Arthrose bildet sich der Knorpel, der im gesunden Gelenk als Gleitschicht zwischen den Knochen fungiert, durch Über- oder Fehlbelastung zurück. Die Knochen reiben schmerzvoll aneinander, bilden Wucherungen, durch abgeriebenes Material kommt es zu Entzündungen. Arthrose gilt als die weltweit häufigste Gelenkerkrankung. In Deutschland sind etwa jeder dritte Mann und jede zweite Frau über 60 betroffen, häufig leiden sie an Knie-Arthrose.

Das Alter ist einer der größten Risikofaktoren: Während nur jeder neunte 20-Jährige an Arthrose leidet, weisen die Gelenke von mehr als 90 Prozent der über 65-Jährigen arthrotische Veränderungen auf – was nicht heißen muss, dass jeder von ihnen starke Beschwerden hat.

Die Ursachen einer Arthrose lassen sich bei 80 Prozent der Patienten nicht klären. Nur bei 20 Prozent stecken Fehlstellungen der Gelenke, Entzündungen oder Verletzungen durch Sport oder Unfälle dahinter.

Informationen zur Wirksamkeit der Knie-Arthroskopie gibt es auch hier: www.gesundheitsinformation.de

Von einigen Techniken, die einst als bahnbrechend galten, nimmt die Medizin heute wieder Abstand – Operations-Roboter etwa, die vor Jahren als Helfer für Hüft-Operationen gefeiert wurden, kommen kaum noch zum Einsatz, weil sie häufig Nervenschäden verursachen.

Die Quote der erneuten Operationen nach nicht erfolgreichen Eingriffen liegt bei 1,9 Prozent (Hüfte) und 1,4 Prozent (Knie), bei bis zu einem Prozent der Patienten treten Infektionen auf, die als eine der schwersten Komplikationen gelten – angesichts der hohen Zahl der Behandlungen betrifft das also nicht wenige Patienten.

Und: „Eine nicht geringe Anzahl von Patienten klagt trotz erfolgreich eingesetzter Endoprothese über Beschwerden“, sagt Peer Eysel. Die neuen Gelenke werden als Fremdkörper empfunden, der nicht unbedingt schmerzt, aber doch unangenehm ist. Fünf bis zehn Prozent der Patienten mit Hüft- und zehn bis 15 Prozent der Träger einer Knieendoprothese geht es so. Andererseits, so Eysel: Über die Hälfte der Operierten spüren ihr Kunstgelenk überhaupt nicht. Die vergessene Prothese gilt als medizinischer Idealfall.

Therapien bei Arthrose

Die Möglichkeiten zur Therapie einer fortgeschrittenen Arthrose ohne Operation sind dagegen eingeschränkt. Bewegung wie Fahrradfahren oder Schwimmen hilft nur eingeschränkt, oft bleibt nur die Schmerztherapie. Alternative Methoden – von der Injektion von Hyaluronsäure oder speziell behandeltem Eigenblut bis hin zu Nahrungsergänzungsmitteln – haben ihre Wirksamkeit bisher nicht in großen, unabhängigen Studien unter Beweis stellen können. „Es gibt keine Hinweise, dass diese Behandlungen den Verlauf einer Arthrose verändern – zerstörten Knorpel aufbauen können sie auf keinen Fall“, sagt Peer Eysel.

Erst in der vergangenen Woche kam eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zu dem Ergebnis: Spritzen oder Spiegelungen bei Knieschmerzen seien häufig wirkungslos, ihr Nutzen werde überschätzt, Risiken wie Entzündungen dagegen ausgeblendet. Die Wirkung von Spritzen sei nach wenigen Wochen verpufft, insbesondere Hyaluron-Injektionen seien kritisch zu bewerten. Kortikoid-Injektionen linderten Schmerzen ebenfalls nur kurzfristig. Auch nach Gelenkspiegelungen könnten Operierte weder besser gehen, noch hätten sie weniger Schmerzen. Patienten sollten zunächst konservative Maßnahmen wie Gewichtsreduktion, Physio-, Ergo- und physikalische Therapien ausnutzen: „Sie erfordern zwar mehr Eigenverantwortung. Doch richtig eingesetzt, helfen sie oft nachhaltiger“, sagt Eckhard Volbracht von der Bertelsmann Stiftung.

Mangelnde Bewegung ist ein Risiko

Inwiefern durch spezielles Training schon der Entstehung von Arthrosen vorgebeugt und der Krankheitsverlauf beeinflusst werden kann, wird gerade an der Berliner Charité erforscht. Vieles deutet darauf hin, dass sich das Risiko des quälenden Gelenkverschleißes reduzieren lässt, wenn man möglichst schlank bleibt und sich in vernünftigem Maß bewegt – also fit bleibt, ohne sich zu überlasten. Mangelnde Bewegung und vor allem Übergewicht gelten speziell für das Knie als Risikofaktoren. „Dabei geht es nicht nur um die mechanische Schädigung durch das Gewicht“, erklärt Eysel. Das Fettgewebe bildet zudem biochemische Botenstoffe, sogenannte Adipozytokine, die die Gelenke angreifen.

In Zukunft, fürchten manche, könnte wegen dieser Zusammenhängen die Zahl der nötig werdenden Endoprothesen noch steigen. Denn immer mehr Kinder sind übergewichtig – und die Gelenke leiden nicht unter dem aktuellen Gewicht, es zählt der sogenannte „Lifetime BMI“, also das Gewicht im Verlauf des gesamten Lebens.

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