Mehr als 1000 ProdukteWarum derzeit so viele Medikamente fehlen und was dann hilft

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Tablettenverpackung leer

Immer häufiger kommt es zu Engpässen bei Medikamenten.

Köln – „Dieses Medikament haben wir aktuell leider nicht vorrätig.“ Diesen oder ähnliche Sätze müssen Apothekerinnen und Apotheker in letzter Zeit wieder häufiger sagen. „Die Lieferprobleme nehmen seit Jahren zu.“ Das beobachtet Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein. Doch wie kann es im deutschen Gesundheitssystem, das als eines der stabilsten der Welt gilt, überhaupt dazu kommen? Und was sind die Alternativen bei solchen Engpässen?

Die Reihe der Medikamente, die nicht verfügbar sind, ist lang. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte führt eine Datenbank, in der von Unternehmen gemeldete Engpässe hinterlegt sind. Aktuell tauchen dort knapp 270 Einträge auf. In der Praxis liege diese Zahl laut Thomas Preis deutlich höher. So bilde die Liste nur einen Teil der bestehenden Lieferengpässe ab. Weil Lieferprobleme oft erst mit Verzögerung gemeldet und rezeptfreie Medikamente gar nicht auftauchen würden. „Wir schätzen, dass bundesweit insgesamt mehr als 1000 Medikamente fehlen“, so Preis, der auch Inhaber einer Kölner Apotheke ist.

Betroffen seien „alle Arten von Medikamenten: Antibiotika, Psychopharmaka, Schmerzmittel, Medikamente bei Krebserkrankung, Blutdruck und Asthma.“ Ob Tabletten, Kapseln, Säfte, Ampullen, Spritzen oder Zäpfchen: Jede Apotheke habe „eine Liste von hundert und mehr Medikamenten, die nicht lieferbar sind.“ Konkret betroffen sind unter anderem bestimmte Fiebersäfte für Kinder.

Engpass bei der Lieferung ist nicht gleich Engpass in der Versorgung

Allerdings muss man zwischen einem Lieferengpass und einem Versorgungsengpass unterscheiden: „Ein Lieferengpass ist eine über zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung einer Auslieferung oder eine deutlich erhöhte Nachfrage, die das vorhandene Arzneimittel-Angebot übersteigt“, erklärt Preis. Ein Versorgungsengpass hingegen liegt vor, wenn keine gleichwertige Alternative verfügbar ist. Das trete laut Preis „glücklicherweise noch nicht häufig auf.“ In vielen Fällen können Ärzte und Apotheken eine Alternative anbieten oder organisieren. Die medizinische Versorgung ist in diesem Fall gesichert.

Thomas Preis (1)

Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein

Doch wie sieht eine solche Alternative konkret aus? Das lasse sich nicht generell sagen, so Preis. Welche Arznei als Alternative in Frage kommt, hängt nämlich von vielen individuellen Faktoren ab. Wie gut vertragen Patienten bestimmte Wirkstoffe, welche anderen Medikamente nehmen sie ein, in welchem Stadium befindet sich eine Erkrankung? Deshalb ist eine Suche nach Alternativen auf eigene Faust auch nicht ratsam. „Ist ein Medikament nicht verfügbar, sollte man eine Alternative immer in der Apotheke besprechen. In diesem Gespräch wird dann ermittelt, welche alternative Medikation die beste für die individuelle Situation des Patienten ist“, betont Preis. „Im Falle eines Lieferengpasses schauen Apotheker zunächst, ob sie auf das gleiche Medikament eines anderen Unternehmens umsteigen können. Sie können aber auch einen anderen Wirkstoff anbieten – wenn dieser zum Patienten passt.“ Allerdings koste dieser Vorgang Patienten und Apotheken viel Zeit.

Leichte Erkrankungen erfordern nicht immer ein Medikament

Ohnehin muss nicht jedes kleine Unwohlsein in einem Gang zur Apotheke münden. „Es gibt eine Reihe von leichten Erkrankungen, die sich auch mit Hausmitteln behandeln lassen. Da braucht es nicht immer ein Medikament“, betont Preis. Als Beispiel nennt er Fieber. Hier helfen, solange die Körpertemperatur nicht übermäßig ansteigt, „auch einfache Hausmittel wie Wadenwickel oder ein feuchtes Tuch auf der Stirn, um Fieber bei Kindern und Erwachsenen zu senken.“ Die Macht der Hausmittel endet da, wo ein Gang in die Arztpraxis nötig wird. „Für viele andere Erkrankungen, die beim Arzt behandelt werden, gibt es keine Alternative zu Arzneimitteln“, erklärt der Apotheker.

Hausapotheke: Das gehört hinein

Die Bundesapothekerkammer (ABDA) bietet auf ihrer Website eine Checkliste für die Hausapotheke an. Folgende Arzneimittel sollte man demzufolge zuhause haben:

• Schmerz- und Fiebermittel

• Medikamente gegen Erkältung, Halsschmerzen, Husten und Schnupfen

• Medikamente gegen Verdauungsbeschwerden wie Sodbrennen oder Blähungen sowie gegen Verstopfung und Durchfall

• Medikamente gegen Insektenstiche, Sonnenbrand oder Juckreiz

• Desinfektionsmittel, Wund- und Heilsalbe, Medikamente gegen Sportverletzungen

• Augentropfen gegen trockene Augen

• Medikamente gegen Erkrankungen der Mundschleimhaut sowie gegen Lippenherpes

• individuelle Medikamente (zum Beispiel gegen Allergien)

Wichtig ist der Austausch mit Arztpraxis und Apotheke. Gerade dann, wenn ein Medikament regelmäßig eingenommen werden muss. „Es ist wichtig, nicht bis zur letzten Tablette zu warten, um sich ein Rezept verordnen zu lassen: Gehen Sie für eine Folgeverordnung von regelmäßig benötigten Arzneimitteln rechtzeitig zum Arzt und legen Sie das Rezept dann umgehend in Ihrer Apotheke vor“, rät Preis. „So können Sie und Ihre Apotheke besser planen, auch, wenn ein Medikament mal nicht sofort verfügbar ist. Zusätzlich sollte auch die Hausapotheke immer auf dem neuesten Stand sein.“

Detox oder Kater: Banale Anlässe für Medikamentenmangel

Bedenken aufgrund auftretender Engpässe sollten aber kein Anlass dafür sein, den Vorrat an Medikamenten zu vergrößern. „Arzneimittel und Hamsterkäufe passen nicht zusammen.“ Das führe „nur zu weiteren und größeren Engpässen“, sagt Preis und erklärt: „Das System der Arzneimittel ist auf einen kontinuierlichen Bedarf ausgerichtet.“ Steigt die Nachfrage kurzfristig stark an, kann die Branche kaum schnell genug reagieren – es entstehen Lieferengpässe.

Manchmal sind die Anlässe dafür banal. Tatsächlich wird es für die Lieferkette von Medikamenten zum Problem, „wenn Medikamente plötzlich als Lifestyle-Produkt entdeckt werden“, wie Preis berichtet. Das sei zum Beispiel mal der Fall gewesen, als Kohletabletten als Zauber-Zutat in Detox-Drinks empfohlen wurden. Oder als gewisse Durchfallmittel als Geheimtipp gegen den Kater nach einer durchzechten Nacht in den sozialen Medien die Runde machten. „Darauf ist das Medikamenten-System nicht ausgelegt.“

Auch die übermäßige Nachfrage von Jodid-Tabletten in der Folge des russischen Beschusses ukrainischer Atomkraftwerke führte zu Problemen. „Dabei brauchen Menschen über 45 Jahren diese beispielsweise gar nicht. Außerdem war die Dosis der Tabletten viel zu niedrig, um einen Schutzeffekt vor Radioaktivität zu erzielen“, sagt Preis. „Bei Patienten, die auf diese Tabletten angewiesen sind, führte das zu Engpässen.“ Treten solche Schwankungen in der Nachfrage auf – ob berechtigt oder nicht – stellt das die Branche vor Probleme.

Medikamente: Preis mahnt Abhängigkeit von China und Indien an

Doch es sind nicht nur die kurzfristigen, manchmal etwas vorschnell oder absurd wirkenden Anlässe, die der Arznei-Lieferkette zu schaffen machen. Auch die Globalisierung trägt ihren Teil dazu bei. „Früher war Deutschland einmal die Apotheke der Welt, heute sind es China und Indien“, sagt Preis. „Zwei Drittel der Wirkstoffe für preisgünstige Medikamente, sogenannte Generika, stammen mittlerweile aus diesen Ländern.“ Je länger eine Lieferkette, desto anfälliger ist sie für Fehler. Die Havarie des Evergreen-Frachters im Suez-Kanal beispielsweise kann den weltweiten Handel lahmlegen, eine Pandemie zu Produktionsstopps und der Schließung von Häfen führen. „In der Region um Wuhan in China werden zurzeit etwa 150 wichtige Arzneiwirkstoffe für Deutschland produziert. Wir hatten damals großes Glück, dass die Lieferketten trotz Corona und Lockdown einigermaßen stabil geblieben sind“, sagt Preis.

Hinzu kommt die Gefahr politischer Spannungen. „Wir sehen doch gerade beim Erdgas, wohin eine einseitige Abhängigkeit führen kann. Es hätte dramatische Auswirkungen für unsere Arzneimittelversorgung, wenn aus politischen Gründen keine Arzneimittel aus China mehr in den Westen geliefert werden würden“, mahnt der Apotheker. „Wir müssen uns deshalb dringend von der Abhängigkeit der Arzneimittelproduktion in China befreien.“

Kurzfristig bereitet Preis aber eher der anstehende Winter Sorgen: „Einige Arzneimittelhersteller haben schon jetzt die Vorbestellungen von zahlreichen Erkältungsmedikamenten für den kommenden Winter abgesagt.“ Dazu werden die Alternativen dünner, weil sich immer mehr Pharmaunternehmen aus der Produktion wenig lukrativer Arzneimittel zurückzögen, so Preis. Im Ausnahmefall könnten Apotheken zwar auch selbst Fiebersäfte in ihren Laboren herstellen. „Das ist aber sehr personal- und zeitintensiv. Trotzdem ist unser Ziel, keinen Patienten unversorgt zu lassen.“ 

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