Palliativärztin„Die meisten Menschen wollen zuhause sterben – wir ermöglichen das“

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Ambulante Palliativversorgung bedeutet, dass Patienten in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung sowohl medizinisch als auch pflegerisch betreut werden.

Köln – Ärzte haben in der Regel das Ziel, ihre Patienten zu heilen. Wenn Hannah Haberland ins Spiel kommt, ist diese Hoffnung jedoch bereits passé. Die Palliativmedizinerin begleitet Menschen auf ihrem allerletzten Weg. Sie tut das nicht im Krankenhaus, sondern da, wo viele Menschen sterben möchten: zu Hause. Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) nennt sich dieses Angebot. Rund 300 SAPV-Teams sind deutschlandweit unterwegs.

In ihrem Buch „Letzte Begegnungen“ (Eden Verlag, 14,95 Euro) liefert die Palliativärztin Hannah Haberland einen berührenden Einblick in ihren intensiven Arbeitsalltag. Ihr Ziel ist es, sterbenskranken Menschen die verbleibende Lebenszeit so frei von Schmerzen zu gestalten wie möglich – und das im vertrauten Zuhause und im Kreise ihrer Angehörigen. Wir haben mit der Autorin gesprochen.

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Sie arbeiten als Palliativärztin und haben ein beeindruckendes Buch über Ihren Berufsalltag geschrieben. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Hannah Haberland: Mir begegnen immer wieder Leute, die nicht wissen, was wir machen. Dabei stellt unsere Arbeit für Patienten und Angehörige oftmals eine große Entlastung dar. Viele Menschen sind überrascht, wenn ich erzähle, wie eng wir an den Patienten und ihrem Umfeld dran sind und vor allem, dass wir immer ansprechbar sind. In der Gesellschaft existiert ein sehr hoher Informationsbedarf. Daher wollte ich den Menschen unsere Arbeit näherbringen.

Im Buch schildern Sie echte Fälle aus Ihrem Berufsalltag. Haben Sie im Vorfeld mit den Patienten über Ihr Buch-Projekt gesprochen?

Haberland: Nein, das ist ja ein Grund, weshalb ich unter Pseudonym schreibe. Und hinterher kann ich meine Patienten naturgemäß leider auch nicht mehr fragen. Ich möchte nicht, dass sich meine aktuellen Patienten fragen müssen, ob sie demnächst in einem Buch vorkommen. Die Patienten im Buch sind anonymisiert und die Handlung im Rahmen der künstlerischen Freiheit leicht verändert, sodass man den Patienten und seine Familie nicht erkennen oder zuordnen könnte. Aber jede der Geschichten hat ein Thema und ein zentrales Ereignis, das auf Tatsachen basiert.

In Ihrem Team arbeiten Sie eng zusammen mit Pflegekräften und Psychologen. Wie haben Ihre Kollegen darauf reagiert, dass Sie ein Buch schreiben wollten?

Haberland: Zuerst hatte ich Bedenken, dass sich meine Kollegen falsch dargestellt fühlen könnten, doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil – sie haben mein Projekt sehr positiv aufgenommen und konnten sich in meinen Geschichten wiederfinden. Im Endeffekt haben sie sich darüber gefreut und bestätigten mir: „Ja, so wie du das geschrieben hast, so ist es auch“.

Wie viele Patienten betreuen Sie in der Regel gleichzeitig?

Haberland: Das ist schwer zu sagen. Diese Zahl reflektiert meist nicht, wie viel wir Ärzte zu tun haben. Man kann aber sagen, dass wir in der Regel zwischen 15 und 25 Patienten betreuen, wobei 25 Patienten gleichzeitig das absolute Maximum sind. Auf das Jahr gerechnet haben wir ungefähr 230 Patienten. Die Betreuungsdauer variiert stark: Manche Patienten haben wir nur drei Stunden, wir hatten aber auch schon einen Patienten drei Jahre. Das ist aber die absolute Ausnahme. In der Regel behandeln wir Patienten nur wenige Wochen.

„Ohne Sie würde ich das hier nicht schaffen“ – wie oft hören Sie diesen Satz und in welcher Situation?

Haberland: Diesen Satz hören wir wahnsinnig oft. Das sagen die Angehörigen immer dann, wenn sie sich entschieden haben, dass das kranke Familienmitglied, der Partner oder die Eltern zu Hause bleiben dürfen – um dort zu sterben. In dieser Situation gibt es einen hohen Informationsbedarf. Die Angehörigen müssen dann schnell eine Menge Dinge organisieren und wissen oft nicht, wo sie anfangen sollen. Wenn sie vor Problemen stehen und sie mit unserer Hilfe lösen können, sind sie oft erleichtert. Oder wenn der Patient selbst schwer leidet und besonders über Unruhe und Schmerzen klagt, dann können wir ihn mit Schmerzmitteln behandeln. Er kann dann wieder schmerzfrei und ohne Unruhe sein. Patient oder Angehörige haben die Möglichkeit, auch nachts um drei Uhr bei uns anrufen und wir sagen ihnen, wie sie ihre Medikamente dosieren sollen. Oder wir kommen direkt vorbei.

Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, einen Patienten zu betreuen?

Haberland: Wir können und müssen nicht jeden Patienten in unser Versorgungssystem aufnehmen. Gründe dagegen können zunächst rein praktische sein: Wenn der Patient noch eine Therapie macht oder einen starken Therapiewunsch hat beispielsweise. Oder wenn er keinerlei Bereitschaft zeigt, mitzuarbeiten und generell keine Medikamente nehmen möchte - dann müssen wir ihn ablehnen. Eine Zusammenarbeit macht dann keinen Sinn.

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Wenn ein todkranker Mensch in der vertrauten Umgebung sterben möchte, dann kommen Palliativärzte wie Hannah Haberland zu ihnen nach Hause und versorgen sie bis zum Lebensende mit Medikamenten. (Symbolbild)

Wie sehr nimmt einen ein Patientenschicksal mit?

Haberland: Das bleibt nicht aus. Wenn ich im Krankenhaus arbeite, dann ziehe ich meinen weißen Arztkittel zum Feierabend aus und hänge ihn sprichwörtlich an den Haken. Dann fahre ich nach Hause und habe mit der Arbeit nichts mehr zu tun. Wir hingegen laufen den ganzen Tag in unseren Privatsachen herum. So wie ich zum Patienten reingehe, gehe ich auch zu Hause rein. Und dann kommen die Bereitschaften hinzu, das sind ungefähr zehn Tage im Monat. In dieser Zeit sind wir immer erreichbar für die Patienten, auch nachts um drei Uhr.

Wie kann man sich einen normalen Arbeitstag vorstellen?

Haberland: Wir haben ein Büro im Krankenhaus, aber dort keinen Patientenkontakt. Klingt komisch, aber dort haben wir nur unsere Räumlichkeiten, wo wir uns austauschen und Organisatorisches erledigen. Die Patienten kommen nicht zu uns, sondern wir machen ausschließlich Hausbesuche. Zum Anfang und zum Ende der Woche gibt es im Team eine Visite, eine Besprechung. Ich versuche, nicht mehr als zwei Neuaufnahmen pro Tag zu machen, denn ich finde, dass ich spätestens dem dritten Patienten an einem Tag nicht mehr gerecht werden kann. Ansonsten arbeiten wir Ärzte viel auf Zuruf, unsere Fachpflegekräfte sind sehr selbstständig. Sie übernehmen in erster Linie den Kontakt zum Patienten nach dem Erstkontakt und melden sich, wenn wir die Medikamente anpassen müssen oder mal wieder einen Ultraschall oder Ähnliches machen müssen. Oder wir sagen von uns aus, dass wir den Patienten mal wieder besuchen möchten. Dann machen wir Termine zum Hausbesuch aus und sehen unsere Bestandspatienten. Aber wir Ärzte kümmern uns auch um den traurigen Abschluss einer Betreuung: die Leichenschau. Wir stellen dann den Totenschein aus.

Was machen Sie privat, um mal auszuspannen?

Haberland: Ich schätze, ich mache dasselbe wie alle anderen auch. Ich habe eine eigene Familie, ich habe Kinder. Ich schreibe, ich lese. Ich lebe mein Leben, so wie andere Menschen auch. Wenn man aber beim Patienten rausgeht, muss man abschalten können. Ich kann durchaus gut gelaunt zu einer Leichenschau fahren, dann dort adäquat traurig sein und mit den Angehörigen reden. Aber wenn ich dann aus der Tür gehe, dann kann ich in der Regel meine gute Laune auch wieder anschalten.

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Ihre Patienten sind sehr unterschiedlich. Sie eint eigentlich nur der Wunsch, nie wieder eine Klinik betreten zu müssen… Wie gehen Sie als Ärztin damit um?

Haberland: Gerade als Ärztin lernt und sieht man oft, dass Patienten bis zum letzten Tag therapiert werden. Ich kann das auch verstehen, so wurden wir sozialisiert. Man lernt in der Facharztausbildung was alles medizinisch möglich ist. Jeder kennt die Angst, zu wenig getan zu haben, nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben. Wenn ein todkranker Patient sagt, dass er eine Chemotherapie machen wird, dann frage ich dagegen, ob er sich da sicher ist, denn es kann sein, dass man mit einer weiteren Chemo länger lebt, vielleicht aber auch nicht. Sicher ist aber, dass die Chemo an die Substanz und an die sowieso schon geringen Ressourcen geht. Niemand wird gezwungen, eine Chemotherapie zu machen. Nur weil man es kann, muss man es nicht tun. Einige Patienten sagen dann: „Stimmt, eigentlich habe ich schon lange keine Lust mehr und ich merke, dass es mir trotz Therapie immer schlechter geht. Ich lasse das jetzt einfach!“ Ich weiß nicht, wie ich mich in dieser Situation entscheiden würde. Ich kann mir vorstellen, dass ich bis zum letzten Tag eine Therapie machen würde. Das ist aber ein Weg, von dem jeder für sich selbst entscheiden muss, ob er ihn gehen will – oder eben nicht. Es ist meine Aufgabe, den Leuten zu zeigen, dass es ihn gibt.

Warum tun wir Menschen uns so schwer, uns zu Lebzeiten mit dem Tod auseinanderzusetzen?

Haberland: Es gehört zum Menschsein dazu, dass wir alles wegschieben, was mit unserer eigenen Endlichkeit zu tun hat. Wir können alles ganz gut verdrängen: unsere eigene Endlichkeit, das Elend in der Welt. Irgendwie ist das auch verständlich. Wenn wir jeden Tag über unseren Tod nachdenken würden, woraus würden wir denn dann die Motivation ziehen, im Hier und Jetzt zu leben und vor allem ein „gutes Leben“ zu führen?

Für wen ist Ihre Arbeit wichtiger: für die Kranken oder für die Angehörigen?

Haberland: Das ist eine gute Frage. Auf der Palliativstation im Krankenhaus sind die Angehörigen zwar wichtig, aber wenn ich das mit unserer Arbeit vergleiche, dann fällt schon auf, dass die Angehörigen in unserer Arbeitszeit und in unserer Fürsorge rund 50 Prozent einnehmen. Angehörige brauchen eine Führung, jemanden, der ihnen sagt, dass sie das gut und richtig machen. Sie brauchen jemanden, der sie anleitet und bei Bedarf Fragen beantworten kann. Auch das ist unsere Aufgabe. (mit dpa)

Zur Person

Hannah Haberland wurde 1984 in einer norddeutschen Kleinstadt geboren. Nach ihrem Studium machte sie eine Facharztausbildung in der Anästhesie und absolvierte im Anschluss eine Weiterbildung zur Palliativmedizinerin. Seit einigen Jahren arbeitet sie in einem Team der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung und betreut hier gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen eines multidisziplinären Teams Menschen mit unheilbaren Erkrankungen bis zu ihrem Lebensende.

Hannah Haberland, „Letzte Begegnungen“ (Eden Verlag, 14,95 Euro) 

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