Plötzlicher GedächtnisverlustAcht Stunden ohne Vergangenheit – Ein Erfahrungsbericht

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Die Erinnerung ist bei einer Amnesie ausgelöscht.

  • Wie fühlt es sich an, wenn man nicht mehr weiß, was vor wenigen Stunden passiert ist?
  • Mitten im Urlaub kann sich unser Autor, der selbst Neurologe ist, auf einmal an nichts mehr erinnern, das länger als zwei Minuten her ist.
  • Ein Erfahrungsbericht über acht schreckliche Stunden – und eine Diagnose.

Als Neurologe, der regelmäßig Vorträge über das Gedächtnis hält, hatte ich mich immer gefragt, wie es ist, wenn man die Erinnerung verliert. Ich habe es erlebt - acht Stunden lang. Und vollständig vergessen. Was ich weiß, weiß ich von meiner Familie: Es passierte im Urlaub in Finnland. Die Erinnerung setzte dabei nicht plötzlich aus. An die Paddeltour vor „dem Ereignis“ erinnere ich mich in wenigen Bruchstücken. Das meiste dieser zwei Stunden auf dem See aber ist weg. Nach der Tour ist dann irgendetwas passiert. Irgendetwas, das nicht wehtut, das die Sprache nicht verändert und nicht die Bewegungen. Das mir aber das Gefühl gab, durcheinander zu sein.

Deshalb stellte ich meiner Familie Fragen. Und es kam schnell heraus, dass ich zwar wusste, wo und wer ich war, dass ich mich an die letzten Tage aber nur zum Teil erinnern konnte. Dass die Erinnerung der letzten Stunden größtenteils gelöscht, die an die letzten Minuten komplett weg war. Das Denken selbst war aber völlig normal. Allerdings nur mit einer Erinnerungsspanne von knapp zwei Minuten. Das reicht, um einen begonnen Satz zu Ende zu sprechen. Um eine Tasse Kaffee einzuschütten und zu trinken. Es reicht aber nicht, sich an die letzte Tasse zu erinnern: Folglich trank ich fünf!

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Dr. Magnus Heier

Und ich habe immer wieder dieselben Fragen gestellt. Immer wieder meine Hirnnerven untersucht, weil ich befürchtete, einen Schlaganfall zu haben. Trotzdem war ich nur wenig besorgt. Was aber wiederum typisch für Schlaganfallpatienten ist. Wir fuhren ins Krankenhaus nach Hämeenlinna, nordwestlich von Helsinki. Dort wurde eine Computertomographie gemacht, um eine Hirnblutung auszuschließen (ich erinnere mich nicht). Ein EGK, um ein Vorhofflimmern auszuschließen (ich konnte es später wegen der Klebstoffreste auf der Brust vermuten). Das Gespräch mit dem aufnehmenden Arzt auf Englisch war problemlos. Wobei ich ihm sagte, dass ich Neurologe sei und er offen reden könne. Wenige Minuten später wies ich darauf hin, dass ich Neurologe sei und er offen reden könne. Die Erinnerung hielt auch hier nur knapp zwei Minuten, davor war alles gelöscht.

Die Diagnose lautete Transiente Globale Amnesie oder „Amnesie am Meer“

Die Diagnose, die der finnische Arzt nach wenigen Minuten gestellt hatte, lautet Transiente Globale Amnesie (TGA) – eine vorübergehende Gedächtnisstörung, die die Erinnerung vor und nach „dem Ereignis“ betrifft. Was man über die TGA weiß, weiß man aus Erfahrung: Das Gedächtnis kommt nach wenigen Stunden ohne Behandlung zurück. Und es passiert nichts weiter: insbesondere kein Schlaganfall! Man weiß auch, was eine TGA auslösen kann: Vor allem das Schwimmen in kaltem Wasser (wie auch bei mir) - weshalb das Syndrom im englischsprachigen Raum „Amnesia by the seaside“, Gedächtnisverlust am Meer, genannt wird. Oder auch heißes Duschen. Oder schweres Heben. Oder Sex.

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Magnus Heier fotografierte auf der Paddeltour, daran erinnern konnte er sich nicht.

„Wir vermuten, dass ein erhöhter Druck im Oberkörper, etwa beim Heben, zu einem venösen Überdruck oder einem Blutrückfluss ins Gehirn führt. Und dass dies den Ausfall mitverursacht“, sagt Dirk Sander, Chefarzt der Neurologie am Benedictus Krankenhaus in Tutzing. Aber warum passiert es so selten – ich bin tausende von Malen in kaltem Wasser geschwommen, aber nie zuvor ist es zu einem Ausfall gekommen? Warum passiert es vermutlich nie wieder? „Es scheint ein multifaktorielles Geschehen zu sein“ betont Sander. „Der kurze Überdruck wird zwar meist beobachtet, reicht aber als alleinige Ursache nicht aus.“

Veränderungen im Kernspin

Was auffällt: Wird der Patient rechtzeitig ins Kernspin geschoben, dann kann man winzige Veränderung beobachten. „Wir beobachten in etwa der Hälfte der Fälle ein Signal im hinteren Arm des Hippocampus, davon etwa je zu einem Drittel links, rechts oder eben auch beidseitig“, sagt Sander. Der Hippocampus, links und rechts im Gehirn, ist die Struktur, die für die Speicherung von Erinnerungen verantwortlich ist. Aber, und das ist erstaunlich: Die Veränderungen zeigen sich nicht sofort, sondern frühestens zwölf Stunden nach Beginn des Ereignisses. Zu einem Zeitpunkt, an dem das Gedächtnis längst wieder funktioniert.

Dass der Hippocampus entscheidend für die Gedächtnisbildung ist, weiß man spätestens seit 1953: In dem Jahr wurde der US-Amerikaner Henry Molaison wegen einer schweren Epilepsie am Gehirn operiert – man entfernte beide Hippocampi. Von dem Tag an konnte sich Molaison nichts Neues mehr merken, lebenslang. Er erinnerte sich an frühere Ereignisse, an seine bisherigen 27 Jahre – aber er vergaß, was gerade passiert war, vergaß Gesprächspartner, Situationen, den ganzen Rest seines Lebens. Molaison wurde 82 Jahre alt, glaubte aber bis zum Schluss, er sei 27.

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Im finnischen Krankenhaus erholte sich Magnus Heier. langsam, kam das  Erinnerungsvermögen zurück. Die Lücke von acht Stunden blieb.  

Bei der TGA nehmen die Hippocampi nach wenigen Stunden ihre Arbeit wieder auf. Aber ist ihr Ausfall die einzige Ursache? Kristina Szabo, Gedächtnisforscherin von der Neurologischen Universitätsklinik in Mannheim, glaubt das nicht: „Das Geschehen im Gehirn muss sehr viel größer sein, als nur die sehr kleinen sichtbaren Veränderungen im Bereich der Hippocampi. Die sind ja auch frühestens zwölf Stunden sichtbar. Ich sehe sie eher als Rücklichter eines Zuges.“

Ein passendes Bild: Wenn man die Rücklichter sieht, ist der Zug längst vorbei. Und er ist sehr viel größer, sehr viel länger als nur sein Rücklicht. Möglicherweise sind größere Teile des Gehirns an der TGA beteiligt – und möglicherweise hat es nur ganz am Rand mit Druck und Durchblutung zu tun.

Migränepatienten häufiger betroffen

Thorsten Bartsch, Chef der Neurologischen Universitätsklinik in Kiel, vergleicht den Vorgang mit der Aura einer Migräne, die auf emotional belastende Situationen folgen kann: „Möglicherweise reagieren dabei Zellen im Hippocampus, die durch Stress überstimuliert wurden.“ Tatsächlich bekommen Migränepatienten überzufällig häufig eine TGA. Und Menschen in emotionalen Stressphasen. Trotzdem ist das Geschehen sehr selten: Von 100 000 Menschen trifft es pro Jahr gerade einmal zehn. „Und die Episoden kommen eigentlich immer aus heiterem Himmel“, erklärt Kristina Szabo. „Die Menschen haben keine erkennbaren Risikofaktoren. Keine Vorgeschichte. Keine geistigen Einschränkungen vor dem Ereignis. Nichts.“

Wenn die Erinnerung nur zwei Minuten in die Vergangenheit ragt

Sehr merkwürdig ist die Vorstellung, dass einem der eigene Gedächtnisverlust unter Umständen überhaupt nicht selbst auffällt. Wenn die Erinnerung nur zwei Minuten weit in die Vergangenheit ragt, dann hat man kaum eine Chance, die Lücke zu bemerken. Man vermisst nichts!

In meinem Fall hatte ich nur das Gefühl von Verwirrtheit, konnte diese aber erst durch Testfragen meiner Familie konkretisieren. Ich habe in zahlreichen Gesprächen von anderen Fällen gehört, in denen der Gedächtnisverlust nur bemerkt wurde, weil Auffälligkeiten in der Umgebung anders nicht erklärbar waren. Wie bei der Frau zu Weihnachten: Sie fand in ihrer eigenen Wohnung ausgepackte Geschenke unter ihrem Weihnachtsbaum. Sie verstand sofort, dass dort eine Bescherung stattgefunden haben musste, konnte sich aber nicht erinnern. Und rief verunsichert ihre Tochter an.

Als gesunder Mensch aus der Klinik entlassen

Es ist möglich, dass die TGA eine sehr hohe Dunkelziffer hat – dass Menschen, die alleine leben und am Tag keine Kontakte haben, den Gedächtnisausfall überhaupt nicht bemerken. Dass sie zwar verwirrt sind, aber lieber abwarten – so wie auch ich zunächst nicht in die Klinik wollte.

In meinem Fall war das Gedächtnis am nächsten Morgen, etwa neun Stunden nach Beginn der Symptome, wieder intakt. Das wussten meine Ärzte vorher und haben konsequent auf weitere Untersuchungen verzichtet – so wie es auch in den deutschen Leitlinien zur Behandlung steht. Sie haben mich mit der Fähre von Helsinki zurück nach Travemünde fahren lassen. „Es wird Ihnen nichts passieren. Es gibt kein Risiko.“ Sie haben mich nicht als Patienten entlassen, sondern als gesunden Menschen, der eine beunruhigende und bizarre, aber risikolose und einmalige Erfahrung gemacht hat.

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