PsychologinWarum Stress als Statussymbol gilt und ab wann er krank macht

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Zu viel Stress macht krank.

  • Psychologin Donya A. Gilan forscht zur Frage, wie sich die psychische Gesundheit aufrechterhalten lässt, wenn etwas Einschneidendes im Leben geschieht. Im Interview spricht sie über die vielfältigen Probleme, die zu viel Stress auslösen.
  • Sie erklärt, an welchen körperlichen Reaktionen Sie merken, dass Sie zu viel Stress haben - und was Sie dagegen tun können.
  • Mit dem Ist-Zustand einfach mal zufrieden zu sein, fällt oftmals schwer. Dabei helfen kann ein Trick: Fragen Sie sich, was auf Ihrem Grabstein stehen oder wie die Tischrede zum 80. Geburtstag aussehen soll.

Termine, Termine, Termine: Wer heute etwas auf sich hält, hat immer was zu tun - egal ob privat oder geschäftlich. Was macht das mit uns?

Frau Gilan, sind wir Menschen so unperfekt, dass wir ständig unser eigenes Selbst optimieren müssen? Donya A. Gilan: Das liegt weniger an individuellen Aspekten und mehr am gesellschaftlichen Druck. Leistungsstreben wird heutzutage sehr positiv dargestellt, und so beginnen wir, uns selbst zu vermessen – und in vielen verschiedenen Bereichen perfektionistisch zu sein. Das sind nicht primär individuelle Bedürfnisse und Wünsche, sondern von außen vorgegebene Anpassungszwänge. In unserer Gesellschaft gibt es einen sehr hohen Selbstoptimierungsdruck.

Zur Person

Dr. Donya A. Gilan (37) ist Psychologin und  wissenschaftliche Leiterin der Geschäftsstelle des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung (LIR). Außerdem leitet sie  die  Transkulturelle Ambulanz in der Psychiatrie der Uniklinik Mainz. 

Am LIR erforschen Neurobiologen, Physiker, Mediziner und Psychologen interdisziplinär das Phänomen der Resilienz, also der Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung psychischer Gesundheit während oder nach stressvollen Lebensereignissen. 

Selbstoptimierung ist ein Schlagwort unserer Zeit. Ich gehe ins Fitnessstudio, um dünner zu werden, nicht weil es mir dann besser geht, sondern weil die Gesellschaft Schlankheit als Ideal vorgibt. Ist es das?  Da würde ich etwas differenzieren. Sich in bestimmten Bereichen zu verbessern, weil man eine klare Zielsetzung hat, das ist für mich keine Selbstoptimierung. Wer Sport treibt, weil er abnehmen will oder Muskeln aufbauen möchte, hat ein klares Ziel und muss dafür gewisse Anstrengungen unternehmen. Problematisch sind eher Dinge, die nur zum Zweck der Selbstoptimierung durchgeführt werden. Weil es modisch ist oder schick, weil die Gesellschaft das vermeintlich erwartet und weil man ständig Vergleichsprozesse mit anderen Menschen durchführt. Bei jungen Menschen sehen wir das, wenn sie ständig in ihrer Peer-Group versuchen, beliebt zu sein und mit dem Mainstream mitzugehen, wenn ihnen alle Individualität verloren geht.   

Wir machen uns fit, um leistungsfähiger zu sein, belastbarer, besser, stressresistenter. Und erzeugen damit neuen Stress, weil jetzt auch noch Yoga, Meditation und Achtsamkeitsseminare in den Tag passen müssen. In Maßen sind das wichtige Möglichkeiten zum Stressabbau. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles beschleunigt ist und wir auch mal entschleunigen müssen. Aber jeder muss seine eigenen Grenzen kennen, ab wann bestimmte Strategien nicht mehr wirken. 

Aber woran merke ich, dass ich beginne, mich in einen Burnout hinein zu optimieren? Wenn man erste psychosomatische Symptome an sich feststellt. Nacken- und Rückenschmerzen zählen dazu, Ängste können auftreten, ein Erschöpfungsgefühl entwickelt sich, Schlafstörungen kommen hinzu, ein extremer Appetitverlust oder verstärkter Appetit. Das sind Frühwarnzeichen für eine Imbalance. Dann ist es an der Zeit, wieder Ressourcen zu aktivieren, ein positives Gegengewicht zu Pflichtaufgaben, die man im Leben erfüllen muss, aufzubauen. Jetzt sind Dinge wichtig wie: positive wohltuende Aktivitäten pflegen, das Handy ausschalten, nichts tun, sich ohne schlechtes Gewissen dem Müßiggang hingeben. Sich komplett mal aus dem Alltag raus zu nehmen und zu reflektieren – das fällt den meisten Menschen heute sehr schwer.

Stress ist mittlerweile auch zum Statussymbol geworden. Wer keinen hat, hat ein Problem oder ist irgendwie nicht richtig engagiert. Denn wer erfolgreich im Job ist, die Familie gut versorgt, einen großen Freundeskreis hat und etwas tut für seine Fitness, muss zwangsläufig Stress haben. Es ist en vogue, unter Stress zu stehen. Das gehört zum Erfolgreichsein dazu. Bei näherer Betrachtung stellt man aber schnell fest: Das ist nur eine Fassade, dahinter bröckelt es gewaltig. Es ist eine Modeerscheinung, einen solchen Lebensstil repräsentieren zu wollen. Ein Leben, das aus dauerhaftem Stress besteht, kann langfristig krank machen, wenn keine ausreichenden Erholungsphasen bestehen. Stressassoziierte Störungen wie Sucht, Depression oder Angsterkrankungen sind seit Jahren auf dem Vormarsch.

Trotzdem gucken wir uns diese Fassaden an und denken: So will ich auch sein. Diese Fassaden halten meist nur für einen bestimmten Zeitraum. Der Mensch braucht Stress. Studien zeigen, dass ein mittleres Maß an Stress förderlich ist. Für unsere Persönlichkeitsentwicklung brauchen wir Herausforderungen, nur so können wir uns entwickeln. Dauerhafter Stress jedoch, dem vulnerable Berufsgruppen besonders häufig ausgesetzt sein können, wie etwa Führungskräfte oder Menschen, die im Gesundheitssektor arbeiten, bei der Feuerwehr tätig sind oder in anderen Bereichen der Kriseninterventionen arbeiten, kann zu einer Negativ- Spirale führen und wirkt dann nicht mehr aktivierend. Der Mensch hat keine absolute Stressresistenz, er ist kein Krieger, der sich unendlich weiter optimieren und jedem Stress widerstehen kann.

Sie haben vergessen, Mütter aufzuzählen. Frauen, insbesondere Mütter, und Alleinerziehende im Speziellen, sind durch diverse Rollen, die sie einnehmen müssen, mehrfach belastet. Denkbar ist, dass Männer über ihre gesamte Lebensspanne hinweg resilienter sind als Frauen, weniger aufgrund von genetischen Unterschieden, sondern weil Frauen im Leben vielschichtigen Stressfaktoren ausgesetzt sind. Die materiellen Lebensbedingungen, die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe und individuellen Entfaltungsspielräume von Frauen und Männern sind asymmetrisch verteilt.

Das Thema Stress ist ein großes in unserer Zeit. Haben wir mehr Stress als unsere Eltern und Großeltern? Halten wir weniger aus? Oder sprechen wir schlicht mehr drüber? Man kann von der Quantität nicht auf die Qualität schließen. Es gibt nicht mehr, sondern eher andere Stressfaktoren heutzutage. Früher gab es die großen Krisen, Hunger, Krieg, wirklich existenzielle Nöte, da ging es ums Überleben. Heute haben wir eher individuelle Krisen, bedingt dadurch, dass wir so viele Entscheidungen treffen müssen, weil wir so viel Spielraum haben. Da sehen wir eine Fülle an Mikro-Stressfaktoren, die zu einer Reizüberflutung von Menschen führt. Man kann die Faktoren von damals und heute schlecht miteinander vergleichen. Aber man kann sagen, dass die Bewältigungsmechanismen von Menschen den gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher hinken. Flexiblere Arbeitswelten, mehr Eigenverantwortlichkeit, Globalisierung, Migration – viele Menschen können die Mehrdeutigkeit oder Widersprüchlichkeiten in unserer Gesellschaft nicht adäquat verarbeiten.

Und wie können wir diese Art der Überfrachtung aus unserem Leben bekommen? Teils kann jeder Mensch selbst etwas dafür tun. Aber wir sehen die Resilienzförderung auch als eine mehrdimensionale Aufgabe. Institutionen müssen mitgestalten, die Politik muss mitspielen. Vom Kindergarten bis zum Arbeitsumfeld müssen die Bedingungen so sein, dass Resilienz ausgebildet werden kann.

Arbeitgeber richten gern einen Yoga-Raum ein oder bieten Achtsamkeitsseminare an, obwohl den Mitarbeitern mit mehr Personal oft besser geholfen wäre. Ja, das ist eine Instrumentalisierung des Konzepts. Durch punktuelle Programme kann die Resilienz keines Menschen gefördert werden. Mal eben einen Kurs anbieten, damit die Mitarbeiter leistungsfähiger werden – das ist der falsche Weg. Resilienzentwicklung bedeutet nicht, dass man sich eine absolute Stressresistenz zulegt. Das würde eher den Optimierungswahn fördern. Es geht darum, den Blick nach innen zu richten, also entgegengesetzt zur Selbstoptimierung, bei der man sich ja ständig nach außen vergleicht. Es geht darum, sich selbst besser kennen zu lernen, seine Grenzen zu erfahren und sich zu überlegen, welche Ressourcen man aufbauen möchte. Es geht darum, mit Stressfaktoren über die Lebensspanne hinweg gut umgehen zu können, dazu gehört auch das Scheitern. Und eben der Umgang mit dem Scheitern.

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Also kann ich das mit Yoga und Meditation eigentlich lassen? In Maßen ist das gut. Aber Yoga hilft nicht in jeder Lebenskrise. Man wird achtsamer und mental ausgeglichener, baut körperlichen Stress ab. Aber es gibt viele Krisen – da muss man tatsächlich nachdenken oder versuchen, seine Emotionen zu regulieren, sich wieder in eine positive Stimmung zu bringen, aktiv sein Leben umgestalten. Es gibt noch eine Reihe weiterer Möglichkeiten, mit Stressauslösern umzugehen.

Die da wären? Für die emotional-kognitive Ebene gibt es Strategien aus der Verhaltenstherapie, um besonders mit unangenehmen Gefühlen und negativen Gedanken oder verzerrten Wahrnehmungen besser umgehen zu können. Dann gibt es diverse Möglichkeiten, körperlichen Stress abzubauen, beispielsweise durch Entspannung oder körperliche Aktivierung. Ein besonders wichtiger protektiver Faktor ist das soziale Netzwerk. Ein gutes soziales Netzwerk aufzubauen und zu pflegen, das einem in belastenden Situationen hilft, ist enorm förderlich für die psychische Gesundheit. Allein das Wissen, dass ich in einer Notsituation auf Menschen zurückgreifen kann, führt dazu, dass ich einer solchen ganz anders begegne, als wenn ich allein bin.

Wir wollen uns heute in allen Lebensbereichen verbessern, es gibt keine optimierungsfreien Zonen mehr. Wie schaffe ich es, einfach mal mit dem Ist-Zustand zufrieden zu sein? Da hilft die Auseinandersetzung mit den eigenen Werten. Was ist mir wirklich wichtig im Leben? Wofür möchte ich meine Kraft und meine Zeit investieren? Die Sinnfrage ist ein wichtiger Aspekt in der Resilienzentwicklung und ein guter Weg, immer wieder zu sich selbst zu finden. So kann man sich von den Ketten befreien, die einem die Gesellschaft anlegt.

Ich überlege mir, was später auf meinem Grabstein stehen soll, um herauszufinden, ob mir wirklich wichtig ist, wovon ich gerade glaube, dass es wichtig ist? Genau, so ein Sprung in der Zeit ist manchmal ganz gut. Das hilft, sich  über seine Werte klarer zu werden.

Was möchten Sie hören bei der Tischrede zu Ihrem achtzigsten Geburtstag? Da müsste ich mir noch mal Gedanken machen. Diese Übung habe ich tatsächlich noch nicht selbst durchgeführt. Aber sie hilft auf jeden Fall, wenn man seine Werte identifizieren möchte.

Buchtipp: Martin Bouhs, Lisa Lyssenko, Michael Wenner, Mathias Berger: "Lebe Balance: Das Programm für innere Stärke und Achtsamkeit", Trias Verlag, 176 Seiten, 14,99 Euro

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