VortragsreiheWarum Gefühle unser Leben steuern

Angst, Trauer, Kränkung, Glück: Gefühle bestimmen unser Leben.
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Köln – Sie berührt eine gefährliche Tarantel ohne jede Angst, auch die Giftschlange in der Hand macht ihr gar nichts. Selbst Horrorfilme und Geisterbahnen flößen ihr keinerlei Schrecken ein. Die Frau ist eher amüsiert und lächelt. Obwohl sie selbst traumatische Erlebnisse durchgemacht hat, wiederholt Opfer von Verbrechen wurde, mit Messern und Schusswaffen bedroht wurde – sie hat keinerlei Angst.
Die Rede ist von einer jungen US-Amerikanerin, die die Forscher nur SM nennen. Die heute 46-Jährige ist ein Phänomen. Aufgrund einer seltenen Erkrankung sind bei ihr die Mandelkerne (Amygdala) zerstört. Das ist genau der Bereich in unserem Gehirn, von dem Forscher inzwischen wissen, dass sich dort Angst entwickelt. SM lebt seither ohne jedes Angstgefühl.
Über längere Zeit haben Forscher der Universität Iowa vor einigen Jahren SM systematisch begleitet und die Frau ganz bewusst mit Situationen konfrontiert, die anderen Menschen Furcht einflößen. Ihr alarmierendes Fazit: Obwohl ansonsten eine völlig normale Frau, ist es ein Wunder, dass SM noch lebt. Denn obwohl Angst von vielen als negatives Gefühl belegt ist, ist sie ein lebenswichtiger Mechanismus, der uns Gefahren aus dem Weg gehen – und so überleben lässt.
Kein überflüssiges Relikt
Die Geschichte der SM macht aber auch deutlich: Gefühle sind nicht ein überflüssiges Relikt aus der menschlichen Vorgeschichte oder ein Ballast, der uns hindert, ausschließlich vernunftgesteuert zu handeln. Tatsächlich hielt sich bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts unter vielen Wissenschaftlern die Annahme von der Abspaltung des Denkens vom Fühlen. Gefühle seien lästig, hemmten das Denken, so ihre inzwischen längst überkommene Annahme.
Heute wissen wir: All unser Denken und Handeln ist geleitet von Emotionen. Trotz imponierender Geistesleistungen ist es die Macht der Gefühle, die unser Leben steuert. Der portugiesische Neurowissenschaftler Antonio Damasio formulierte es einmal so: „Emotionen sind so etwas wie ein von der Natur fertig geschnürtes Reaktionsbündel.“ Die darin eingepackten Anweisungen betreffen den Hormonhaushalt und das Herzkreislaufsystem ebenso wie große Areale des Gehirns und werden bei Bedarf abgerufen. Als „geheime Regisseure“ unseres Alltags, so Damasio, seien Gefühle kein Luxus, sondern ein komplexes Hilfsmittel.
Gefühle – egal ob positiv besetzt wie Glück und Zufriedenheit oder negativ wie Wut, Angst oder Trauer – gehören elementar zu uns. „Gefühle sind so grundlegend wie Hunger oder Durst. Genauso wenig, wie man sagen kann: Ich empfinde jetzt einfach keinen Hunger mehr, lassen sich auch Gefühle nicht einfach abstellen“, erklärt auch Dr. Michael Schonnebeck, Leiter der psychosomatischen Tagesklinik am Hansaring in Köln. Wie Herz und Lunge bräuchten wir Gefühle zum Leben, ergänzt Psychotherapeutin Dr. Christiane Jendrich.
Allgemein sind Gefühle zentralnervöse Erregungszustände, die komplex verschaltet und an verschiedenen Orten lokalisiert sind. Wo genau die einzelnen Gefühle entstehen ist noch nicht klar. „Zumeist entsteht das einzelne Gefühl in einem Zusammenspiel vieler Hirnregionen“, erklärt Schonnebeck. Nur für die Angst wisse man inzwischen präzise, dass sie im Mandelkern des Gehirns entsteht.
Niemals Gefühle vermeiden
Egal ob angenehmes oder unangenehmes Gefühl – auf keinen Fall sollte das Empfinden dazu führen, dass man Gefühle vermeidet. Aus gutem Grund. Denn Emotionen sind auch eine Art konzentrierte Lebenserfahrung, die uns hilft, Entscheidungen zu treffen, mit denen wir kognitiv überfordert wären. Alleine die Entscheidung, etwa an der Ampel eine Straße zu überqueren, würde rein kognitiv unzählige Fragen aufwerfen, die erst beantwortet werden müssten, bevor wir einen Fuß auf die Straße setzen. Das wären Prozesse, die unglaublich lange dauern würden. Unsere Emotionen beziehungsweise unsere darin gebündelten Erfahrungen und Bewertungssysteme lassen uns zügig und intuitiv richtig entscheiden.
Schonnebeck nennt ein weiteres Beispiel: Schon wenn wir morgens das Haus verlassen haben, haben wir rund 100 Entscheidungen getroffen, 80 Prozent davon völlig unbewusst und nicht kognitiv und rational abgewogen. „Wie toll und ökonomisch ist es, dass wir solche Entscheidungen intuitiv fällen können, ohne unser Gehirn belasten zu müssen“, sagt der Kölner Arzt.
In 99 Prozent funktioniere das einwandfrei, und unsere Gefühle leiten uns richtig. „Nur in einem Prozent der Fälle gibt es Schwierigkeiten. Das ist der Fall, wenn Gefühlszustände extrem und lebensfeindlich werden“, erklärt Christiane Jendrich. Wenn eine Angst übersteigert ist, wenn Wut in Aggression umschlägt oder Trauer zur Depression wird. In diesen Fällen müsse und könne man lernen, mit den Gefühlen so umzugehen, dass ein „gutes Maß“ erreicht wird.
Fähigkeit zur Empathie
Gefühle sind auch für unser soziales Zusammenleben wichtig. Vor allem Basisgefühle wie Freude und Trauer seien wichtig für das Leben in einer Gemeinschaft. Tatsächlich ist es evolutionär begründet, dass sich Menschen besser als etwa Tiere „empathisch verbünden“ können und wahrnehmen, was der andere braucht. „Das hängt mit den sogenannten Spiegelneuronen zusammen, durch die wir uns in neuronale Schwingungszustände bringen können, durch die wir das, was andere erleben, unmittelbar als uns betreffend empfinden“, erklärt Schonnebeck. Schneide sich etwa unser Gegenüber mit der scharfen Kante eines Blattes Papier in den Finger, werde unser Mitgefühl aktiviert und wir empfinden förmlich den Schmerz mit. „Dass wir heute neun Milliarden Menschen auf der Welt sind, die in der Regel friedlich miteinander auskommen, hängt entscheidend mit diesen empathischen Fähigkeiten zusammen“, sagt Michael Schonnebeck.
Geradezu fatal sei es, Gefühle zu unterdrücken, betonen beide Experten. „Wenn ich ein Gefühl nicht mehr wahrnehme, heißt das ja nicht, dass es nicht mehr da ist“, erklärt Christiane Jendrich. Wie bei einem Dampfkochtopf müsse irgendwann der Dampf raus, vergleicht Michael Schonnebeck. Bei unterdrückten Gefühlen äußerte sich dies oft in körperlichen Symptomen. Deshalb ist es den Fachleuten wichtig zu vermitteln, dass niemand Angst vor seinen Gefühlen haben müsse. „Wir haben sie alle und sie helfen uns zu leben. Sie sind unsere Freunde und Begleiter. Es ist unsere Aufgabe, sie gut zu pflegen und kennenzulernen, um sie dann klug für uns nutzen“, so Schonnebeck.