WeltkrebstagOlympiasieger Alexander Spitz ist Experte für Rückschläge

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Heute die große Leidenschaft: Mit dem Mountainbike die Berge erklimmen.

  • Mit zehn Jahren erkrankt er an Knochenkrebs. Sein Ziel erreicht er trotzdem: Olympiasieger.
  • Spitz engagiert sich für den Behindertensport und ist Botschafter der deutschen Krebshilfe.

Winter-Paralympics in Nagano, 1998. Es ist die erste Kante, die ihm zum Verhängnis wird. Alexander Spitz rast darauf zu. Die Strecke kennt er noch nicht besonders gut, denn er konnte sie erst ein Mal fahren. Während des Trainings ist er eine Woche zuvor gestürzt, musste ins Krankenhaus, der Verdacht: ein gebrochenes Bein. Er wird entlassen und bekommt ein Kärtchen in die Hand gedrückt. „Die ahnten wohl schon, dass ich wiederkomme.“

Beim richtigen Rennen kann Spitz starten. Die Bedingungen sind optimal. Strahlend blauer Himmel, viele Zuschauer. Tags zuvor hatte es noch geschneit und das Rennen musste abgesagt werden. Aber heute ist es soweit. „Ich kann mich noch genau erinnern, als wir mit der Gondel nach oben gefahren sind. Eigentlich war alles perfekt.“ Spitz gibt Gas. Er geht in die Kurve – und bekommt einen Schlag auf den Ski. Sein Trainer sagt hinterher, dass er keine Chance hatte. Spitz wird in die Luft katapultiert, versucht seinen Körper zu drehen, sodass er weiterfahren kann. Das geht schief. Ein Ski schlägt vertikal im Boden ein und wird zerschmettert. Spitz knallt auf den Rücken. Der ist nicht geschützt, denn Spitz fährt ohne Protektoren.

Diagnose mit zehn Jahren

Der Schmerz stellt sich aber an einer anderen Stelle ein: seinem Fuß. Sofort eilen Ärzte zu Hilfe. Sie wollen ihm den Skischuh mit einer Schere aufschneiden. „Das wollte ich auf keinen Fall. Der Schuh war eine Spezialanfertigung. Ich dachte, wenn sie den kaputt machen, kann ich nicht mehr weiterfahren. Es musste ja weitergehen“, sagt er. Aber es geht nicht mehr weiter. Die Paralympics in Nagano sind der letzte Wettkampf als Profisportler für Spitz.

Alexander Spitz

Alexander Spitz ist Experte für Rückschläge. Mit zehn Jahren erkrankt er an Krebs. Sein Ziel erreicht er trotzdem: Olympiasieger.

Dass er es sportlich überhaupt so weit bringen konnte, ist umso bemerkenswerter, weil der Traum von der Sportkarriere im Kindesalter eigentlich schon zu platzen droht. Alexander Spitz wächst im Schwarzwald auf, eine halbe Stunde von Freiburg entfernt. Er spielt Fußball und fährt Ski. Doch dann der Schock: Mit zehn Jahren wird bei ihm Knochenkrebs diagnostiziert. Das rechte Bein wird amputiert. Er muss vier Monate in der Klinik bleiben und danach alle zwei Wochen vier Tage zur Chemotherapie. Spitz erinnert sich noch an das Aussehen der Lösungen: manche wie Himbeersirup, manche wie Apfelsaft. Er muss sich ständig übergeben. Was ihm Kraft gibt, ist der Blick nach vorne.  „Meine erste Frage an die Ärzte war: Wann kann ich wieder Sport machen?“ Spitz bekommt eine Prothese. Es ist eine schwere Zeit, die er durchmacht.

„Auf das konzentrieren was geht"

„Rückblickend bin ich froh, dass ich damals ein Kind war. Da war die Verantwortung noch nicht so groß.“ Spitz bezeichnet es als großes Glück, dass seine Familie ihm das Gefühl gibt, dass sich nichts  verändert hat. „Ich habe es schon erlebt, dass Krebspatienten aus falsch verstandener Rücksicht nicht zu Partys eingeladen werden. Das ist der völlig falsche Weg. Man darf niemandem eine Entscheidung abnehmen, um ihn vermeintlich zu schützen. Es sollte einfach alles so bleiben, wie es davor war.“

Weltkrebstag

Der Weltkrebstag am heutigen 4. Februar steht unter dem  Motto „Ich bin und ich werde“. Die Deutsche Krebshilfe nimmt den Tag zum Anlass, die Öffentlichkeit für das Thema Krebsprävention zu sensibilisieren, denn auch die Lebensgewohnheiten beeinflussen das Krebsrisiko erheblich. In Deutschland erkranken jährlich rund 500 000 Menschen neu an Krebs. Experten schätzen, dass fast die Hälfte aller Krebsfälle durch einen gesünderen Lebensstil vermeidbar wäre.   So sinkt beispielsweise das Risiko für Darm- und Brustkrebs bei körperlich aktiven Menschen, die sich täglich mindestens 30 Minuten bewegen, um 20 bis 30 Prozent. Eine ausgewogene Ernährung, normales Körpergewicht, regelmäßige körperliche Aktivität, wenig Alkohol, ein umsichtiges Verhalten in der Sonne sowie der Verzicht auf Solarien – all dies seien Dinge, die man  selbst beeinflussen könne, so  Gerd Nettekoven, Vorstandsvorsitzender der Krebshilfe:  „Zwar lässt sich das eigene Krebsrisiko nie gen null reduzieren, dennoch kann jeder aktiv etwas für seine Gesundheit tun.“  www.krebshilfe.de/infomaterial

In Spitz Leben ändert sich trotz der Amputation wenig. Er spielt weiter Fußball. Spitz wechselt auf die Torwartposition. Auch das Skifahren gibt er nicht auf. Er fährt jetzt mit einer Spezialanfertigung.

„Ich werde nie verstehen, wenn Behinderte sich darüber beklagen, dass sie dieses oder jenes nicht mehr machen können. Ich könnte mich jeden Tag über meine Prothese aufregen. Aber es bringt doch nichts. Man muss sich auf das konzentrieren, was geht.“

Und für Spitz geht einiges. Bereits mit 15 Jahren nimmt er an den Paralympics teil. Er wird der erste deutsche Vollprofi mit Behinderung. Sein Arbeitgeber unterstützt ihn. Er wird freigestellt, bekommt aber weiter Gehalt. Spitz holt im Ski Alpin vier Goldmedaillen bei den Paralympics und achtmal WM-Gold. Einfach ist das nicht immer. „Die Zeiten Anfang der Neunziger waren ganz andere. Mir haben auch Sponsoren offen gesagt, dass sie nicht mit einem Behinderten werben wollen.“

Dann kommen die Spiele in Nagano, der letzte große Auftritt. Das Foto von seinem Sturz geht um die Welt; laut Spitz ist es das meisterveröffentlichte Foto der Behindertensportgeschichte. Es gibt ein Muster in seinem Leben. „Immer wenn mich Leute gefragt haben, ob ich ein Loch falle, ist genau das Gegenteil passiert.“ Ein Experte für Rückschläge.

Spitz bleibt dem Sport verbunden

Kurz vor den Spielen funkt es zwischen ihm und seiner späteren Frau Regina, die aus Wesseling kommt. Sie kennen sich schon länger, in den Sommerferien fährt Regina regelmäßig mit einer Jugendgruppe in den Schwarzwald. Mit Gipsfuß setzt Spitz sich direkt nach der Rückkehr aus Nagano in den Zug und beginnt im Rheinland ein neues Leben.  Sie heiraten und bekommen einen Sohn und Tochter. Spitz wird Botschafter der deutschen Krebshilfe, engagiert sich für den Behindertensport, wird Co-Kommentator im Fernsehen. Dem Sport bleibt Spitz verbunden. Er wünscht sich eine Annäherung. „Ich verstehe nicht, warum es zum Beispiel einen Behindertenschwimmverein gibt. Es ist doch völlig egal, wie jemand ins Wasser springt. Unser Ziel muss langfristig sein, dass der Behindertensport in den normalen Sport integriert wird.“

Solche Überlegungen treten 2005 in den Hintergrund. Spitz muss den nächsten Rückschlag verkraften. Er hat eine Vorstufe von Hautkrebs, die aber behandelt werden kann. Doch sein Körper gibt keine Ruhe. Er schläft nachts schlecht, zwei Jahre lang geht das so. Seine Frau drängt ihn dazu, zum Arzt zu gehen. Ihm wird ein Hypophysenadenom diagnostiziert. Das ist ein Tumor, der den Hormonhaushalt durcheinander bringt. Es werden zu viele Hormone produziert, die für das Wachstum verantwortlich sind. Das ist deshalb gefährlich, weil auch die Organe mitwachsen. Spitz merkt das zunächst gar nicht. Erst hinterher kann er sich einen Reim darauf machen, dass er sich in der Zwischenzeit den Ehering vergrößern lassen musste. Spitz hat nachts Atemaussetzer, seine Zunge schwillt an. „Und meine Haut hat wahnsinnig ätzend gebrannt“, sagt er. Spitz verliert sogar die Lust am Sport – ein alarmierendes Zeichen.

„Alles was jetzt kommt, ist Zugabe.“

Sein Arztbesuch kommt noch zur rechten Zeit. Er wird operiert. Nach der Operation verliert er sofort sechs Kilogramm Körpergewicht – so viel Wasserablagerungen hatte er im Körper. „Die Zeit war härter als die nach der Krebsdiagnose als ich noch ein Kind war. Wenn man eigene Kinder hat, macht man sich ganz andere Gedanken.“ Er berichtet, dass er sich im Netz informiert hat, wie seine Kinder im Fall der Fälle abgesichert sind. Dazu dauert es, bis sein Körper aufhört zu rebellieren.

Dass er im letzten Jahr seinen 50. Geburtstag feiern konnte, war für Spitz nicht immer klar: „Umso mehr freue ich mich. Alles was jetzt kommt, ist Zugabe.“ Seine Kinder sind mittlerweile 18 und 19 Jahre alt und bald mit der Schule fertig. Für einen 50 Jahre alten Mann sieht er überaus gesund aus, beneidenswert sportlich. Stillsitzen ist nichts für ihn. „Es kommt sehr selten vor, dass ich mich nach einem Arbeitstag auf die Couch fläze. Es gibt immer was zu tun.“

Er macht jetzt ein gezieltes Fitnessprogramm – und fährt Fahrrad. Aber natürlich nicht irgendwie. „Ich verstehe nicht, wie Leute sich vornehmen, heute 100 Kilometer geradeaus zu fahren. Ich brauche ein Ziel in der Höhe, einen Gipfel. Ich sehe einen Berg und denke: Da will ich rauf.“

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