Kölner Architekten„Mega-Büros sind Dinosaurier – sie werden nach Corona aussterben“

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Ein Anblick, der in Corona-Zeiten selten sein dürfte: bevölkerte Büroetagen.

  • Mitte März – plötzlich Lockdown. Von jetzt auf gleich ziehen ganze Heerscharen von Büroarbeitern vom Großraum ins Homeoffice. Bis heute hat sich in vielen Firmen daran nichts geändert.
  • Die Folge: verwaiste Büroetagen einerseits, überfüllte Wohnungen, in denen jede noch so kleine Nische zum Arbeiten genutzt wurde, andererseits.
  • Das Kölner Architekturbüro Schultearchitekten hat der Lockdown inspiriert. Im Gespräch erklären sie uns, wie Wohnungen aussehen müssen, damit man in ihnen auch arbeiten kann und was mit freigewordenen Büroflächen geschehen kann.

Herr Schulte, viele Menschen beförderte der Lockdown im Frühling in eine Art Schockzustand. Sie hat die eher beklemmende Situation zu neuen Denkanstößen angeregt. Inwiefern? Wilhelm Schulte: Da wir mit unseren Büros in Köln und Paris direkt betroffen waren – und danach haben wir gehandelt. In Paris haben wir eine kleine Dependance, wo meine jüngere Tochter Helena arbeitet. Dort wurde der Lockdown schon eine Woche früher erwirkt, also waren wir in Köln mit deutlich mehr Mitarbeitern vorbereitet. Auch wenn anfangs niemand wusste, worauf eigentlich? Welche Auswirkungen hat das Virus? Auf die Nation, die Welt, aufs Arbeiten, auf die Stadt, auf die Menschen? Das haben wir dann wie alle anderen auch erst in den darauf folgenden Wochen erfühlt.

Da Ihre Branche von der Regierung als nicht „systemrelevant“ eingestuft wurde, hatten sie vermutlich wochenlang verwaiste Büros.

Wilhelm Schulte: Genau. Meine Tochter Marie-Sophie und ich waren im Kölner Büro, Helena in Paris. Das war's. Alle anderen Mitarbeiter waren, wie fast überall, im Homeoffice tätig. Und aus dieser neuen Situation heraus, die unser Zusammenleben schlagartig auf die elementaren Dinge reduzierte und für lange Zeit zum Alltäglichen wurde, sind die Überlegungen entstanden.

Helena Schulte: Anfangs schickten die Kollegen immer wieder Fotos von ihren heimischen Arbeitsplätzen, eben weil es sich so neu und anders anfühlte. So bekamen wir Einblicke in Wohn- und Schlafzimmer, Küche, Balkon – worauf wir dreierlei Grundrisse zeichneten, für die Familien- und Paarwohnung sowie für eine Wohngemeinschaft. Schnell war klar: Fast überall fehlt das Arbeitszimmer, fast überall kann man arbeiten, aber unter welchen Bedingungen? Überall wurden Nischen gefüllt, und wenn es diese nicht gab, das Laptop irgendwo aufgeklappt. Man kann immer irgendwie arbeiten. Aber jeder hat andere Bedürfnisse, braucht seine Ecke oder sogar eine Tür, die sich schließen lässt. Offene Wohnkonzepte erwiesen sich für die neuen Anforderungen ans Arbeiten als deutlich schlechter.

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Architekt Wilhelm Schulte mit seinen Töchtern Helena  (l.) und Marie-Sophie

Tatsächlich fehlt in den meisten Kölner Innenstadtwohnungen ein Arbeitszimmer, weil der Wohnraum teuer ist, und in manchen Familien die Kinder eher gestapelt werden als in einem eigenen Zimmer aufwachsen.

Helena Schulte: Paris, Köln… in jeder Großstadt herrscht die gleiche Ausgangslage, mehr oder weniger verschärft. Und weil die Homeoffice-Problematik bei gleichzeitiger Raumnot noch on top kam, machten wir uns Gedanken über verfügbare Flächen, Umnutzung und neue Strukturen.

Marie-Sophie Schulte: Also fragten wir uns: Wie flexibel müssten wir wohnen, um angemessen und zufriedenstellend zuhause wohnen und arbeiten zu können? Oder anders formuliert: Wegen der räumlichen Inflexibilität in vielen Wohnungen führt dieses Spannungsverhältnis schnell an die Grenzen der Bewohnbarkeit. Gleichzeitig gibt es seit dem Lockdown und der Verlagerung der Mitarbeiter ins Homeoffice eine Obsoleszenz riesiger Büroflächen.

Leerstand in den Großraumbüros, Enge in den eigenen vier Wänden. Wie sieht die Lösung aus?

Wilhelm Schulte: Man muss den noch anhaltenden Lockdown in den Büros als Chance nutzen und die freiwerdende Fläche zugunsten des privaten Wohnraums verschieben. Ich bezeichne diese Mega-Büros als Dinosaurier.

Klingt nach einer schönen Utopie!

Helena Schulte: Diese Büros werden über kurz oder lang aussterben. Weil sich viele Unternehmen und Arbeitnehmer schnell an die Homeoffice-Gegebenheiten gewöhnt haben. Man kann also jetzt über eine Flächenumverteilung nachdenken, um einen Leerstand dieser freiwerdenden Flächen und Gebäude zu vermeiden. Es wird also über kurz oder lang eine Umstrukturierung bisheriger Arbeitsflächen geben müssen. Denn es geht ja immer um die Flächeneffizienz und Kostenoptimierung. Der Arbeitgeber könnte gut 30 Prozent weniger Bürofläche bewirtschaften und die eingesparten Kosten den Mitarbeitern zukommen lassen – die sich dann eine Wohnung mit Arbeitszimmer leisten könnten. Privater Wohnraum, vom Arbeitgeber mitfinanziert.

Schultearchitekten

Das Architekturbüro Schultearchitekten wurde im Jahr 2000 von Wilhelm Schulte Dipl.-Ing. Architekt BDA gegründet. 

Mittlerweile arbeiten seine Töchter Marie-Sophie Schulte und Helena Schulte mit im Team. Das Architekturbüro sitzt in Köln und führt eine Dépendance in Paris mit insgesamt 18 Mitarbeitern.

Neben städtebaulichen Entwicklungen liegt der Schwerpunkt auf dem Wohnungsbau und dem sozialen Wohnungsbau. 2017 wurde das Büro mit dem NRW Landespreis für Architektur, Wohnen und Städtebau ausgezeichnet.  

Wie groß sind die Chancen, dass solche revolutionäre Gedanken umgesetzt werden?

Wilhelm Schulte: Ich bin mir sicher, dass es diesbezüglich Veränderungen geben wird. Denn es kostet immense Summen, die riesigen Bürokomplexe aufrecht und am Laufen zu halten. Das hat über lange Zeit kostengünstig funktioniert, aber jetzt eben nicht mehr. Weil diese Einrichtungen ständig nach den neuesten Arbeitsrichtlinien und Klimabedingungen auf den Stand gebracht oder saniert werden müssen. Dieser Posten würde für die Arbeitgeber komplett entfallen, dafür stattet er seine Mitarbeiter mit mehr Einkommen aus.

Marie-Sophie Schulte: Ich weiß von Unternehmen, die ihren Mitarbeitern mit dem Lockdown 1000 Euro mehr bezahlt haben, damit sie sich Schreibtisch, Stuhl und Lampe für die Ausstattung ihres Homeoffices kaufen konnten. Und nicht auf unabsehbare Zeit von der Bettkante aus arbeiten müssen. Das ist gar nicht so weit von dem weg, was wir mit unserem Modell anstreben.

Sie denken an gut funktionierende Unternehmen und Konzerne, die über genügend Mittel verfügen, denen durch die Pandemie nicht der wirtschaftliche Zusammenbruch am Jahresende droht.

Marie-Sophie Schulte: Am Ende verschieben sich nur die Kosten. Ohne politischen Druck wird vermutlich kein Unternehmer die Notwendigkeit für solche Leistungen sehen…

Wilhelm Schulte: Selbstverständlich ist die Umsetzung unserer Theorie ein Spagat zwischen gesetzlicher Anordnung und unternehmerischer Großzügigkeit. Aber wir sind sehr zuversichtlich, dass auch in dieser Richtung etwas passiert. In den letzten Wochen und Monaten konnte man sehen, wie schnell und zupackend Vieles auf vielen Ebenen realisiert wurde. Von der Soforthilfe für Selbstständige bis zu den Möglichkeiten, die den Gastronomen zur Vergrößerung der Außenfläche verhalf.

Marie-Sophie Schulte: Viele Unternehmen haben jetzt gesehen, wie gut die Arbeit aus dem Homeoffice funktioniert. Über kurz oder lang ergeben gigantische Bürogebäude und -flächen keinen Sinn mehr. Niemand wird dann noch in diesen Umfängen planen und entwickeln. Ich glaube, der nächste Schritt ist gar nicht so weit, weil es der Gesellschaft gut tut, und die Arbeitnehmer, vor allem Frauen nach wie vor, Familien- und Arbeitsleben besser unter einen Hut bekommen können.

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Wenn Ihre Theorie greift, welchen Einfluss hat sie auf das Stadtbild und den Städtebau?

Marie-Sophie Schulte: Es wird sich in die Richtung entwickeln, dass Monostrukturen, in dem Fall also Bürostädte oder Gewerbezentren, zurückgebaut werden. Wir sprechen von einer Nutzungsmischung, bei der sich Arbeit und Wohnen verbinden.

Helena Schulte: Was dann auch einen ökologischen Vorteil hat, weil sich das Pendeln vom Wohnraum zur Arbeitsstätte reduzieren wird, und die Städte nicht mehr unter immer höherem Verkehrsaufkommen kollabieren werden, gleich ob sich die Menschen mit öffentlichen oder privaten Verkehrsmitteln fortbewegen.

Warum, glauben Sie, hat Ihr Modell reelle Zukunftschancen?

Marie-Sophie Schulte: Während des Lockdowns konnten wir alle merken, wie ausgestorben die Stadtzentren waren. Das Leben hat sich in der Peripherie abgespielt. Die Menschen haben sich in ihre Wohnungen zurückgezogen, die Innenstädte waren gespenstisch leer. Nur eine Stadt, die eine gesunde Mischung aufweist, hat auch unter extremen Umständen, wie wir sie erlebt haben, eine Chance auf Lebendigkeit.

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Das  Modell zur Stadtentwicklung  nach Corona „Räume ohne Eigenschaften“ von Schultearchitekten nimmt derzeit an der Architektur-Ausstellung „Et demain, on fait quoi?“ in Paris teil. Die Ausstellung ist noch bis 6. September im Pavillon de l’Arsenal zu sehen.

Das Büro wurde soeben beim Ideenwettbewerb „The Post-Corona City“, den „Das junge Architektennetzwerk NXT A“ und das Bayerische Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr ausgeschrieben haben, für seinen Beitrag ausgezeichnet. Im Oktober wird die Ausstellung dazu im Bayerischen Staatsministerium zu sehen sein.

Helena Schulte: Was sich in Paris während des viel strengeren Lockdowns zeigte, dass in den Vierteln, wo nicht nur Business betrieben wird, plötzlich die Nachbarschaft wieder auflebte. Kaffeeklatsch, Spielen, Fitness fand auf einmal auf den Straßen ohne Autoverkehr statt – zumindest in der einen Stunde, in der wir vor die Tür durften. Es hat sich bestätigt, dass gut durchmischte Viertel mit Infrastruktur für den täglichen Bedarf auch schwere Krisensituationen gut überstehen können.

Sie nennen ihr Ideal „Stadt ohne Eigenschaften“. Sie könnten es auch mit „Stadt mit vielen Eigenschaften“ bezeichnen.

Marie-Sophie Schulte: Ja, das stimmt. Was wir uns vorstellen ist eine gesunde Durchmischung, bei der nicht nach Business-Viertel, Handel und Wohnen unterschieden wird. Wir streben flexible Strukturen an, die fließende Übergänge zwischen Arbeit und Wohnen zulassen. Wir planen Viertel oder Wohnblocks, in denen Co-Working, Handwerk, Kinderbetreuung und Freizeitaktivitäten untergebracht sind.

Beispielprojekt Quartierskonzept schultearchitekten

Ein Quartierskonzept, das Wohnen, Arbeiten und Gemeinschaft vereint. Es hat flexible Grundrisse und jede Wohnung verfügt über einen „++-Raum“, zur individuellen Nutzung. In den Erdgeschossen ist Raum für Arbeit, Kleingewerbe, Nahversorgung.

Ihr Ideal ist also eine Veedelskultur, wie sie in Köln in manchem Stadtteil sehr gut funktioniert?

Wilhelm Schulte: Im Prinzip, ja. Viele Kölner Veedel, wie Ehrenfeld oder die Südstadt sind insofern gut durch die Corona-Zeit gekommen, da eine gesunde Urbane Infrastruktur gegeben ist. Dagegen ist die Kölner Innenstadt mit den großen Handelszentren zu einseitig aufgebaut. In Paris wird zur Zeit die so genannte „15-Minuten-Stadt“ angestrebt. Das Konzept verspricht, dass die alltäglichen Bedürfnisse abgedeckt und die Nahversorgung der Anwohner in jedem Viertel fußläufig gewährleistet ist. Auch die fürs Wohnen unattraktiven Erdgeschossflächen könnten neu gestaltet werden. Vorne arbeiten – Büro, Werkstatt, Handel – zur Rückseite wohnen. Da sehe ich das Potenzial für die Zukunft. Es wäre eine Aufwertung in vielerlei Hinsicht.

Wohnen und Arbeiten an einem Ort sowie das Teilen von gemeinschaftlichem Raum haben schon Baugruppen und Genossenschaften um die Jahrtausendwende erfolgreich realisiert. Worin unterscheidet sich Ihr Konzept?

Helena Schulte: Wir legen großen Wert auf die Flexibilität. Und das wurde eben während des Lockdown und der Zeit danach noch viel deutlicher. Unser Modell der Zukunft ist ein möglichst offener Grundriss, in dem die Bewohner flexibel strukturieren können. Die Flächen sollen nutzungsoffen und einfach sein, ohne dass man groß umbauen muss. Damit sich ohne weiteres aus einer Zweizimmerwohnung auch eine Dreizimmerwohnung machen lässt. Egal, ob ein Arbeitszimmer verlangt wird oder die Familie sich vergrößert.

Was schwebt Ihnen mit den Dinosaurier-Komplexen vor? Abreißen, weil sie ausgestorben sein werden?

Marie-Sophie Schulte: Natürlich nicht. Wir schlagen eine Revitalisierung dieser Monostrukturen durch eine Anpassung der Nutzungskonzepte vor. Große Büroflächen könnten gemischt genutzt mit Arbeiten und Wohnen restrukturiert werden. Die Etagen werden mit Balkonen oder Wintergärten ausgestattet, die Erschließung wird verdichtet, so dass neuer Wohnraum sowie offene Gemeinschaftsflächen neben der Arbeitsfläche entstehen. Darüber hinaus ist es notwendig, dass neue Quartierskonzepte für die Zukunft entwickelt werden. Ich wünsche mir flexible Gebäudestrukturen, wo Wohnen, Arbeiten, Kleingewerbe sowie gemeinnützige Räume und Begegnungsflächen, wie etwa ein Nachbarschaftstreff mit Repair-Café, Co-Working oder ähnliches Platz finden.

Helena Schulte: In allen Großstädten sind wir gezwungen, Dichte neu zu definieren, da der Raum immer knapper wird. Im Grunde geht es immer um Effizienz und die richtige Umstrukturierung der Flächen – wir wollen Räume ohne Eigenschaften, die frei gestaltet werden können. Wir haben kürzlich ein Projekt entwickelt, wo unterschiedliche Wohnungsgrößen und zusätzliche Flächen generiert werden, so dass Wohnraum ergänzt, aber genauso wieder abgekapselt werden kann. Mit so einem Modell kann man in seinem Viertel alt werden, wenn die Familienwohnung irgendwann zu groß ist, weil die Kinder ausgezogen sind. Das ist nicht nur sozial, das fördert auch die Wirtschaftlichkeit. Deshalb hat das Modell Zukunft.

Wilhelm Schulte: Die Pandemie brachte uns alle in eine Zwangslage. Wir haben die bestehenden Lebenskonzepte überdacht und hinterfragt. So sind unserer Denkanstöße für ein neues Miteinander, eine neue Urbanität angepasst an die neuen digitale Anforderungen entstanden.

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