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Depression, Psychose, AngsterkrankungWenn der Psychiater selbst seelisch krank ist

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Nur 35 Prozent der Depressiven suchen sich professionelle Hilfe. (Symbolbild)

Margret Osterfeld kennt die Psychiatrie sehr gut – und zwar von beiden Seiten, als Expertin und als Betroffene. Viele Jahre war sie Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Oberärztin in einer westfälischen Klinik. Doch dann wurde sie zweimal zwangseingewiesen. Eine Bipolare Störung warf sie aus der Bahn. Sie erlebte depressive Episoden, aber auch Phasen der Manie, also der übergroßen Euphorie und des Übermutes. Manchmal für Wochen oder Monate. Waren sie vorbei, arbeitete sie wieder als Psychiaterin.

Professionelle mit psychischer Erkrankung? Das ist noch immer ein Tabu unter Medizinern und Psychologen. Dabei ist Margret Osterfeld kein Einzelfall. Die Ärztin Maxi Braun stellte das bereits vor Jahren in einer Umfrage unter mehr als tausend deutschen Psychiatern und Psychotherapeuten fest. Jeder fünfte Befragte wies akute Anzeichen einer Depression auf, vier von zehn gaben an, in ihrem Leben bereits eine depressive Episode erlebt zu haben.

Großes Schweigen über eigene Verletzlichkeit

Das sind mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt. Nahezu jeder Zehnte nahm zum Zeitpunkt der Umfrage Antidepressiva oder Beruhigungsmittel ein, und rund jeder Dritte durchlief schon mal eine Psychotherapie. „Auch Fachpersonal kann erkranken“, weiß Gianfranco Zuaboni, Pflegewissenschaftler am Sanatorium Kilchberg in der Schweiz. Mit Kollegen hat er begonnen, Workshops zum Thema „Fachpersonen mit psychiatrischen Krankheitserfahrungen“ auszurichten, um für mehr Bewusstsein und Offenheit damit zu werben.

Sie erleben regen Zulauf. „Professionelle tragen keine Impfung dagegen in sich. Das ist eine simple Tatsache – die allerdings problematisch scheint“, sagte er vor einigen Tagen auf dem Weltkongress der Psychiatrie in Berlin. Denn tatsächlich herrscht über die eigene Verletzlichkeit großes Schweigen.

Aus Angst vor Stigmatisierung halten Profis ihre Erkrankung geheim. 

Die Angst vor Vorurteilen, der Ausgrenzung und dem Verlust des Jobs ist allgegenwärtig. Nicht zu Unrecht, denn Psychiater und Mitarbeiter in der Psychiatrie tragen – so wie andere Bürger auch – durchaus Ablehnung gegenüber Menschen mit Psychosen, Depression und Angsterkrankungen in sich. Das offenbarten schwedische Forscher 2011 in einer Erhebung unter 140 Medizinern, Krankenpflegern und Sozialarbeitern, die in der Psychiatrie arbeiten.

Die meisten von ihnen halten zu den Erkrankten außerhalb der Klinik lieber Distanz, würden jemanden mit psychiatrischer Erkrankung eine offene Jobstelle eher nicht geben oder sich nicht mit ihnen verabreden. Aus Angst vor Stigmatisierung halten Profis ihre Erkrankung geheim. Auch Margret Osterfeld hat nach ihrer Psychiatrie-Erfahrung mit sich gerungen. Sie kehrte wieder in den Beruf als Psychiaterin zurück, doch von ihrer Erkrankung wussten nur einige.

Klinikleitung nicht begeistert

„Ich liebte meinen Beruf und wollte ihn mir nicht wegnehmen lassen“, sagt sie. Aber: „Ich wollte auch nicht wieder krank werden.“ Drei Jahre nach ihrem zweiten Klinikaufenthalt fasste sie deshalb einen Entschluss. Keine Geheimnisse mehr! Auf einer großen Tagung offenbarte sie ihre psychische Erkrankung in einem Vortrag. Nach ihrem Auftritt kamen Kollegen zu ihr und dankten ihr.

Doch ihre Klinikleitung war alles andere als begeistert. Ihr wurde nahegelegt, eine Berufsunfähigkeit zu beantragen. Und als man kurz darauf zahlreiche Mitarbeiter auf einen besseren Lohntarif umstellte, wurde sie wie fünf andere Kolleginnen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung übergangen. „Wenn alle erkrankten Profis sich outen würden, wären wir schon 50 Prozent des vorherrschenden Stigmas los“, sagt Margret Osterfeld.

Recovery-Bewegung

„In Deutschland gibt es rund 80 000 Psychiater. Wenn zum Beispiel ein Prozent der Bevölkerung an einer Schizophrenie erkranken, dann wird das auch unter Psychiatern so sein“, sagt sie. Doch wo sind die alle? Persönlich kenne sie nicht einmal ein Dutzend betroffener Kollegen. Dabei tauscht sie sich viel mit anderen aus, referiert auf Kongressen, engagiert sich, seitdem sie in Rente ist, für die Vereinten Nationen.

„Doch an den schweren Vorhang des Schweigens kommt inzwischen Luft heran“, sagt Gianfranco Zuaboni. Die sogenannte Recovery-Bewegung ebne auch Profis den Weg zu mehr Offenheit. Die eigene Krankheit ist in dieser Sichtweise vor allem eine Lebenserfahrung, die Patienten sind Experten für ihre Erkrankung und den Umgang damit. In zahlreichen deutschen Städten werden inzwischen Psychiatrieerfahrene zu Beratern und Begleitern für andere Erkrankte ausgebildet.

Persönliche Erfahrungen mit psychischen Krankheiten sind von Vorteil

Warum also sollten gerade Psychiater und Psychotherapeuten ihre eigenen Erfahrungen mit einer Erkrankung und Therapie nicht in ihre Arbeit einfließen lassen? In den Workshops mit Psychiatrie-Mitarbeitern hat der Pflegewissenschaftler Zuaboni in den vergangenen Monaten Antworten dazu gesammelt. Einige lauten: Betroffene Profis könnten dazu tendieren, ihren Genesungsweg als den einzig richtigen anzusehen oder wichtige Krankheitszeichen bei Patienten zu übersehen.

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Auch müssten sie ihre persönlichen Grenzen und die zum Patienten kennen sowie ihre eigene Haltung und Handlungen immer wieder reflektieren. Zugleich haben Zuaboni und seine Kollegen ermunternde Wortmeldungen gesammelt. Tatsächlich sehen viele Fachleute bei näherer Betrachtung zahlreiche Vorteile, wenn ein Kollege persönliche Erfahrungen mit einer psychischen Krise oder Erkrankung hatte.

"Wir beide haben eine Doppelqualifikation“

Derjenige bringe mehr Empathie für die Patienten auf, könne auf Augenhöhe kommunizieren und handele weniger stigmatisierend, heißt es unter anderem. Der Behandler selbst symbolisiere dem Patienten Hoffnung und demonstriere an sich selbst: Besserung und ein normales Leben sind möglich. Zudem wüssten die einst erkrankten Profis, wovon sie reden und würden nicht nur Lernstoff aus der Uni wiedergeben.

„Für mich ist die eigene Erkrankung vergleichbar mit der Zweisprachigkeit eines Kollegen. Wir beide haben eine Doppelqualifikation“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Christiane Tilly, die mit Patienten mit emotional-instabiler Persönlichkeitsstörung arbeitet, der aber auch selbst die Diagnose zugeschrieben wurde.

Arbeitsgruppe „Betroffene Profis“

Margret Osterfeld empfand ihre Erkrankung ebenso als Bereicherung für die Arbeit mit Patienten. Sie hatte dadurch einen anderen Zugang zu ihnen, erlebte ihre eigene Verletzlichkeit eher als Sensibilität für die Bedürfnisse der Patienten. „Während meiner Zwangseinweisungen habe ich mich anfangs gegen die Behandlung gewehrt und Medikamente nicht gerade mit Begeisterung eingenommen“, sagt sie.

In ihrer Arbeit als Psychiaterin konnte sie Patienten, die sich ähnlich verhielten, viel besser verstehen und ihre Haltung akzeptieren. „Ich habe dann im Gegensatz zu anderen Kollegen weiter überlegt, wie ich an den Patienten herankommen kann.“ Mit Kollegen hat Osterfeld unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS) inzwischen eine Arbeitsgruppe „Betroffene Profis“ ins Leben gerufen, die auch für Professionelle mit anderen Erkrankungen Anlaufstelle ist.

Seit 2014 gibt es zudem im Rahmen der Jahrestagung jedes Mal einen Workshop zum Thema. Schließlich hänge es aber an der Gesellschaft selbst, ob psychisch erkrankte Behandler wieder erfolgreich im Arbeitsleben Fuß fassen, sagt Zuaboni: „Ein wohlwollendes Umfeld, Vertrauen und Offenheit können dabei helfen, die Lebenserfahrung gut zu überstehen und im Arbeitsalltag sinnvoll zu nutzen.“ Es brauche eine Balance zwischen Stützen und Fordern.

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