„Freuen wäre eine Option“Wie man sich verhält, wenn man einem wilden Wolf begegnet

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Diesen wilden Wolf hat Axel Gomille in Sachsen-Anhalt fotografiert.

Köln – In der Nacht vom 19. auf den 20. Mai war er da: der Wolf. Das Tier streifte mitten durch Köln, erst Ehrenfeld, dann über den Parkgürtel Richtung Norden, auch in Bilderstöckchen und Weidenpesch soll er gewesen sein. Videos belegen seine Anwesenheit, am Morgen fand man in der Rheinaue vier tote Schafe, nachweislich gerissen von einem Wolf. Anfang Juli dann erneut die Meldung einer Wolfs-Sichtung, diesmal will eine Bürgerin ein Tier morgens in der Nähe des Kölner Impfzentrums gesehen haben. Ob es sich wirklich um einen Wolf oder doch um einen Fuchs handelt, ist allerdings unklar. Trotzdem: Müssen wir uns daran jetzt also gewöhnen – an den Wolf mitten in der Stadt?

„Nein“, sagt Axel Gomille. Er ist Zoologe und Fotograf und hat vor kurzem das Sachbuch für Kinder „Wölfe: Unterwegs mit dem Tierfotografen Axel Gomille“ veröffentlicht. „Es kann auch in Zukunft vorkommen, dass mal ein Wolf durch eine Stadt streift, aber das wird definitiv nicht die Regel sein.“ Ihn habe es wirklich überrascht, dass ein Wolf in Köln gesichtet wurde. „Eigentlich meiden die Tiere große Städte.“ Gomille vermutet, dass der Wolf ein unerfahrenes Jungtier war.

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Gut getarnt ist Axel Gomille im Wolfsrevier unterwegs.

Dazu muss man wissen: Wölfe leben im Familienverband – Mutter, Vater, Kinder. „Eigentlich sehr ähnlich wie wir Menschen“, erläutert Gomille. Im Alter von ein oder zwei Jahren verlassen die Jungtiere die Eltern und machen sich auf die Suche nach einem eigenen Revier und einem Partner, mit dem oder der sie eine Familie gründen können. „Diese jungen Wölfe sind wie Teenager: Sie sind schon fast so groß wie die Erwachsenen, aber noch total unerfahren und neugierig.“ Es war vermutlich ein solches Jungtier, das Köln besucht hat.

„Sehr unwahrscheinlich, ein Tier zu sehen“

Dazu kommt, dass in der Mai-Nacht noch Corona-Lockdown und Ausgangssperre herrschten – und die Stadt sehr still und menschenleer war. „Bei normalem Betrieb mit Lärm und Bewegungen wäre der Wolf wohl viel früher abgebogen.“ Wölfe, betont Gomille, würden die Begegnung mit Menschen meiden. Der Fotograf weiß, wovon er spricht. Seit vielen Jahren beobachtet und fotografiert er die wilden Tiere, seit zwölf Jahren auch intensiv in Deutschland. Obwohl er die Reviere kennt und sich still auf die Lauer legt, bekommt er die Tiere nur sehr selten vor die Linse. „Selbst da, wo es eine relativ hohe Wolfsdichte gibt, ist es sehr unwahrscheinlich ein Tier zu sehen.“ Gomille erzählt von den Vermietern seiner Unterkunft in der Lausitz, die noch nie einen Wolf gesehen haben, obwohl rundherum Wolfsreviere sind. Einem Tier bei einem Wald-Spaziergang in NRW zu begegnen, ist also höchst unwahrscheinlich.

Und doch bleibt die Frage: Würde ich einem Wolf begegnen, wie sollte ich mich dann verhalten? „Freuen wäre eine Möglichkeit, denn es ist ein seltenes Ereignis“, sagt Gomille und lacht. „Aber wenn es Ihnen wirklich nicht geheuer ist, dann sollten Sie auf sich aufmerksam machen, denn der Wolf hat Sie vermutlich einfach nicht bemerkt.“ Also: Stehenbleiben, laut rufen oder klatschen. Kinder sollten sich zudem groß machen, die Arme in die Höhe nehmen und strecken. „Im Normalfall wird der Wolf stehenbleiben, die Situation kurz einschätzen, die Richtung ändern und sich zurückziehen“, sagt Axel Gomille.

Der Mythos vom Alphatier

Kein Spielfilm über Wölfe kommt ohne ihn hier aus: den Kampf zwischen mehreren Tieren um die Position als Chef des Rudels, als sogenanntes Alphatier. Dabei ist das ein Irrtum, sagt Zoologe Axel Gomille. „Eine umkämpfte Rangordnung entsteht nur, wenn man mehrere geschlechtsreife Tiere in ein Gehege sperrt, wo sie einander nicht ausweichen können – so wie Forschende das vor vielen Jahren getan haben, um Wölfe zu untersuchen.“ Tatsächlich leben Wölfe in freier Natur in einem Familienverband in eigenen, großen Revieren. Selbst, wenn zwei Reviere direkt nebeneinander liegen, legen die Tiere es nicht auf einen Kampf an, sondern akzeptieren im Normalfall die Grenzen der anderen und gehen sich einfach aus dem Weg.

Auf keinen Fall müsse man sich Sorgen machen, dass das Tier einen angreife. Dafür gebe es nämlich nur drei Gründe: Erstens eine Erkrankung mit Tollwut, die aber in Deutschland ausgerottet ist. Zweitens eine Konditionierung auf Futter – deswegen ist es strengstens verboten, wildlebende Wölfe zu füttern. Und drittens eine Provokation. „Stellen Sie sich vor, ein Wolf steht am Ende einer Schlucht, umgeben von hohen Felswänden. Der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse wäre die Richtung, aus der Sie kommen – und dann rennen Sie auf den Wolf zu. Dann würde das Tier sich bedroht fühlen und vermutlich angreifen.“ Eine sehr unwahrscheinliches Szenario. Gomille betont: „Ich hatte bei meiner Arbeit in Deutschland etwa 300 Begegnungen mit wildlebenden Wölfen, ich war meist alleine im Wald, oft in der Dämmerung – und ich bin noch nie in eine kritische Situation geraten. Meiner Erfahrung nach sind Wölfe ganz vorsichtige und scheue Tiere.“

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Diese jungen Wölfe hat Axel Gomille in Sachsen-Anhalt fotografiert.

Und doch müsse man sich an die generelle Anwesenheit der Tiere in Deutschland gewöhnen. Ursprünglich sind sie nämlich heimisch hier, doch sie wurden systematisch vom Menschen ausgerottet und waren daher für rund 150 Jahre verschwunden. Erst die Wiedervereinigung und das ab dann geltende westdeutsche Verbot, den Wolf zu schießen, führten dazu, dass aus Polen einwandernde Wölfe sich ansiedeln konnten. Im Jahr 2000 gab es dann das erste Wolfsrudel in Deutschland, seitdem breiten die Tiere sich langsam Richtung Westen und Norden aus. Einige Tiere – wie der Kölner Wolf im Mai – kommen aber auch über die Alpen nach Deutschland.

Zwei Wolfsrudel in NRW

In NRW haben zurzeit zwei Wolfsrudel ihr festes Revier. Im Übrigen hat so ein Revier in Deutschland eine Größe von rund 200 Quadratkilometern. Im lokalen Vergleich würden also lediglich zwei Wolfsreviere auf der kompletten Fläche der Stadt Köln Platz finden, wo eine Million Menschen leben. „Wir müssen die Vorurteile, die wir gegenüber dem Wolf hegen, abbauen“, sagt Axel Gomille. „Der böse Wolf ist eine Figur aus dem Märchen, bei „Rotkäppchen“ wahrscheinlich eine Metapher für den bösen Mann, der Kindern schaden will.“ Mit seinem Sachbuch möchte er dazu beitragen, dass Kinder das Klischee vom bösen Wolf gar nicht erst übernehmen. „In Ostdeutschland, wo die Wölfe schon seit 20 Jahren wieder leben, sehen viele Kinder sie als ganz normale Wildtiere wie Füchse oder Wildschweine.“

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Natürlich könne er verstehen, dass die Situation für Schäfer und andere Landwirte mehr Arbeit bedeute. Aber: „Maßnahmen wie Herdenschutzhunde und spezielle Zäune, die ja auch mit Fördermitteln unterstützt werden, halten den Wolf meist effektiv von den Nutztieren fern. Und sollte es doch mal so weit kommen, dass ein Wolf all diese Hürden mehrfach überwindet oder für Menschen sicherheitsrelevant wird, kann so ein Tier im Ausnahmefall auch geschossen werden. Das sieht das Bundesnaturschutzgesetz bereits jetzt vor, dafür muss der Wolf nicht ins Jagdrecht.“ Ansonsten sei der Wolf aber durch EU-Recht strengstens geschützt. Wir sollten uns also mit ihm arrangieren.

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Mit der spannenden Ko-Existenz von wilden Tieren und Menschen beschäftigt der Zoologe sich schon sein ganzes Berufsleben lang. Er hat sich mit Tigern und Menschen in Indien befasst, mit Bären und Menschen in Rumänien und jetzt eben mit Wölfen und Menschen in Deutschland. Was ihn am meisten fasziniert: „Es ist erstaunlich, wie gut die Wölfe in unserer deutschen Kulturlandschaft zurechtkommen. Der Wolf ist sehr anpassungsfähig und braucht gar keine Wildnis.“ Mit seiner Arbeit will Axel Gomille dazu beitragen, dass der Wolf als das behandelt wird, was er eigentlich ist: ein ganz normales Wildtier.

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